Buch lesen: «Fleshly Transmission»
Jek Hyde
Fleshly Transmission
Eine Novellensammlung
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2016
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Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig
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1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016
Fleshly Transmission
„Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in dieser Welt.“
Jean Amery
1. Ein Kreuz auf dem Feldweg
Eine blutrote Sonne ging am Rande des Feldes auf.
Als die Sonne aufging, wusste er, dass er es überstanden hatte, denn genau wie die Sonne war auch er nun über den Berg.
All die gelben Stoppeln und Halme auf dem Feld, bekamen rote Gesellschaft und lange, schwarze Schatten. Es sah aus wie ein Meer aus Flammen. Das Fegefeuer, so musste es sein.
Die rote Sonne blendete Turel Nazaret.
Nach der dunklen, angenehm kühlen Nacht fühlte er die Wärme der Sonne über seinen nackten, geschundenen Körper kriechen, wie er da am Kreuz hing.
In der Nacht war eine Sternschnuppe über ihn hinweggeflogen. Er konnte sie sehen, zumindest als er das getrocknete Blut aus den Augen geblinzelt hatte. Die Erinnerung, wie die Klinge des Klappmessers durch seine Haut fuhr, war noch frisch. Und das sollte nur der Anfang gewesen sein. Zwei Messerschnitte quer durchs Gesicht. Sie verliefen über die Augen und kreuzten sich auf den Lippen. Die Nacht war kühl gewesen, doch anstatt zu frieren, hatte Turel es als ernsthaft angenehm empfunden. Wie Schnee, der seine Wunden kühlte.
Sein ganzes Gesicht war voller getrocknetem Blut. Kupfergeschmack auf der Zunge, die nach den fehlenden Zähnen tastete. Das ungewohnte Gefühl, dass Etwas fehlte, als er mit der Zungenspitze über die vielen Lücken in seinem Mund fuhr, wo früher Zähne gesessen hatten.
Der starke Kupfergeschmack auf der Zunge, auch wenn er instinktiv wusste, dass es lange nicht so viele gewesen waren, so hatte er doch das Gefühl, dass jeder zweite Zahn jetzt fehlte und stattdessen eine empfindliche Lücke im weichen Zahnfleisch saß. Er hatte sich die Zange lieber erst gar nicht angesehen, sondern sich darauf konzentriert, die Prozedur zu überleben. Was blieb ihm auch anders übrig?
Ein dürrer Springinsfeld. Mandelförmige Augen, blondes, kurzes Haar. Es wirkte unnatürlich und trotzdem passte es zu seiner Erscheinung. Dazu eine bei Asiaten scheinbar recht beliebte Kinn-Schnurrbart-Kombination. Er war auch der Idiot gewesen, der mit der Zange herumalbert hatte. Jeweils ein Ende in einer Hand und die Zange klappern lassen wie ein Gebiss. Zum Glück waren Turels Augen voller Blut gewesen und so konnte er kaum was erkennen.
Der andere, ein große Kerl mit Vollbart, einer Glatze und irgendetwas Traurigem in seinen Augen, war das genaue Gegenteil des Asiaten.
Große, lange Nägel steckten in Turels Händen und in den Füßen. Jesusgleich hing er am Kreuz, dass die Beiden erst vor Ort zusammengezimmert hatten, als Turel blutend im Kies des Weges lag, während die Beiden aus ihrem Kastenwagen die zwei Hölzer geholt hatten.
Turels Fingerspitzen waren blutig und taub. Die Beiden hatten ihm die Fingernägel herausgerissen.
Sein ganzer Körper war mit lauter kleinen Wunden bedeckt. Der Große hatte Turel zum Kastenwagen geschliffen und neben die Balken hineingeworfen.
Alles war recht verschwommen, lief ineinander über und Turel konnte sich erst wieder erinnern, als die Beiden ihn in der Dämmerung aus dem Auto warfen, ihn mit einem widerlich gelben Abschleppseil ans Auto ketteten und ihn über den steinigen Feldweg schleiften, bis zu der Stelle, wo er nun schon die ganze Nacht gehangen hatte. Es fühlte sich an, als hätte er sich gar nicht von der Stelle bewegt. So, als wäre eine riesige Rolle an grobem Schleifpapier unter ihm ins Rollen gekommen.
Er wusste nicht, wer von Beiden auf die Idee kam, Turel seiner Qualen zu entledigen und statt ihn zu kreuzigen, ihn einfach an einen der krüppeligen und verdrehten Kirschbäume aufzuhängen, die den Feldweg stückweise säumten. Recht schnell war ein weiteres Seil über den Ast geworfen, der Bärtige hatte eine Dreizehn gedreht und diese um Turels Hals festgezogen.
Doch der Tod am Strang war weder von Turel erwünscht noch von höheren Mächten erlaubt. So brach der runzelige, alte, trockne Ast, als der Bärtige Turel mit einem Ruck hinaufzog. Wie die Beute eines Greifvogels wurde Turel hinaufgerissen, das Seil schnitt ihm scharf in den Hals und mit dem Geräusch eines brechenden Knochens brach der Ast ab und Turel stürzte als menschliches Fallobst zu Boden, wo er auf dem Arsch aufkam und sich die Hüfte brach.
Der Bruch der Hüfte löste einen anderen Schmerz fast gänzlich ab. Die Erinnerung schoss durch seinen Kopf, wie er blutend auf dem staubigen Fliesenboden gelegen hatte. Umringt von gezogenen Zähnen und herausgerissenen Fingernägeln. Der Große hatte seine Füße gepackt und der Asiat ihn unter den Achseln und beide hatten ihn in eine alte Wanne gewuchtet, gleich einem alten Mehlsack.
Der grelle Schmerz, als sie mit einem Schnitt ihn seiner Hoden entledigten, unterbrach Turels Mantra, das er seit dem Anfang der Folter durch seinen Kopf kreisen ließ. Für andere Gedanken war kein Platz. Nur das eine Mantra, das sich immer wieder und wieder drehte.
Er nahm es wieder auf. Musste es wieder aufnehmen, was blieb ihm sonst übrig? Es drehte die Gebetsmühle weiter.
Das Geräusch des Panzertapes riss ihn aus der kurzen Ohnmacht. Das erste, was Turel wieder in den Sinn kam, als er da so auf dem Kreuz lag, war sein Mantra. Sogleich nahm er es wieder auf, als der Asiat ihn praktischerweise mit Panzertape an das Kreuz band. Um den Brustkorb, um die Handgelenke und um die Beine.
Der Bärtige war es, der schließlich die langen Nägel auf die Hände setzte und jeden mit einem schweren Schlag durch Turels Handflächen hindurch, an zwei Speichen vorbei, ins Holz trieb. Turel nahm sich die Zeit zu schreien. Warum auch nicht? Solange das Mantra im Kopf lief, konnte er machen, was er wollte. Nur das Mantra, das durfte er keinesfalls vernachlässigen.
Turels Welt hob sich, als der Bärtige mit lustloser Hilfe des Asiaten das Kreuz in das vorgegrabene Loch rutschen ließ. Der Ruck und der Schmerz, den dies wieder freisetzte, an all den verwundeten Enden von Turel, ließ ihn erneut der Welt entgleiten und erst das Röhren des Kastenwagens, der in der fast untergegangenen Sonne über den Kiesweg davon rumpelte und eine Staubwolke hinter sich her zog, ließ ihn sich wiederfinden.
Allein am Kreuz hängend, während die Sonne in seinem Rücken unterging, streckte sich sein langer Schatten über das Stoppelfeld und über seinem Kopf, der nur ein Mantra enthielt, begann ein riesige Zelt von Sternen zu glühen.
Die Kühle der Nacht strich über den einsamen Turel. Trocknete dessen Blut. Er fühlte sich schwer, wie er da am Kreuz hing, als einzige Hilfe hielt ihn das Panzertape, was sich trotzdem in ihn schnitt. Hände und Füße taub, Hüfte pumpte klopfenden Schmerz durch seine Gedärme. Turels Hals war fürchterlich trocken und sicher hätte er den Tod jetzt an sich ranlassen können. Die meisten hätten das wohl schon eher getan, aber Turel hatte beschlossen, dass er weiterleben würde.
Turel nahm an, dass entweder sein Mantra funktionierte oder der Schock, denn nachdem er noch etwas vor sich hin geschrien hatte und der Himmel ganz dunkel und kalt geworden war, fand er sich plötzlich klaren Verstandes am Kreuz wieder.
Nicht in der Lage sich zu bewegen. Nur das Stoppelfeld und die Tiere, die sich durch die Dunkelheit wie Schatten stahlen.
Wieder eine Chance einfach abzutreten, aber das wollte Turel nicht. Wozu hatte er das Ganze denn durchgestanden?
Und dann der einzig wichtige Gedanke:
Scheiße, ich hab’s überstanden. Es ist vorbei. Und jetzt?
Nichts war. Jetzt hing er eben nachts am Kreuz. Und Turel wurde klar, dass er bestimmt mehr gelitten hatte als Jesus. Er lachte und schrie noch ein wenig. Tat der Welt kund, dass er besser war als Jesus. Er hatte eben schließlich Jesus in seiner eigenen Königsdisziplin geschlagen: im Leiden.
Wenn es eines gab, was Jesus besonders gut konnte, dann war das Leiden. Und Turel hatte wohl auch für Hunderte von Jahren genug gelitten. Genau aus diesem Grund wollte er nicht sterben und würde es demnach auch nicht tun. Er musste ja noch allen vorhalten, was er alles aushalten konnte. Dass er einfach der Härteste von allen war.
Als er da so am Kreuz hing und fast so was Ähnliches wie Langeweile aufkam, die Schmerzen waren teilweise dumpf und bohrend geworden, der Hals machte das Schreien nicht mehr so richtig mit und zu krächzen war irgendwie unbefriedigend, kam ihm der Gedanke, dass möglicherweise nicht mehr alles so wie früher sein würde.
Sollte auch er, Turel, der Leidende, zu einem solchen, hilflosen Trauerkloß verkommen wie all die andern Überlebenden von bestialischen Folter-Qualen? Würde auch er bei jedem lauten Geräusch aufschrecken?
Als ein Waschbär am blutigen Ansatz seines Kreuzes herumschnüffelte, wurde Turel eines klar:
Er wollte nicht sterben, also starb er nicht. Er will keine psychisch zerstörtes Häuflein Elend werden, also wurde er es auch nicht! Er war besser als Jesus, sein Wille war Gesetz.
Der Waschbär, der unter seinem Kreuz herumschnüffelte, war schließlich auch ein Migrant in diesem Land und sogar ein geächteter. Wer mochte schon diese Eierdiebe, die sich wie die Karnickel vermehrten? Aber er überlebte und das sogar prächtig. Warum sollte also Turel total am Ende sein? Nur weil es all die andern waren? Gab es irgendein dickes Buch voller Richtlinien, wie sich ein Opfer zu verhalten hatte?
Turel war eben Turel.
Und Turel wusste, dass Turel besser war als alle anderen.
Ach, er könnte jetzt um all seine Verluste weinen, aber was brachte das schon? Turel hatte schon vor langer Zeit gelernt, das Verlieren zu genießen.
War es der Schock? War es der hohe Blutverlust? Was auch immer es war, Turel fand sich plötzlich in einem erlösenden Hochgefühl wieder und er lachte ein wenig wahnsinnig vor sich hin. Möglicherweise hätte Turel Nazaret jetzt auf den Gedanken kommen können, dass seine Psyche schon von Anfang an nicht ganz normal war. Aber um auf diesen Trichter zu kommen, war Turel einfach zu erschöpft. Fast schlief er an seinem Kreuz ein, oder vielleicht wurde er auch von der Ohnmacht übermannt. Alles in allen weckte ihn bloß das kratzende Geräusch von Schritten auf dem staubigen Kiesweg.
Als Turel die schweren Augen wie mit Wagenhebern aufstemmte, stand dort unten ein alter Mann am Kreuz, in dunkler Jacke und mit Schiebemütze auf dem weißhaarigen Kopf, der bedauernd, traurig und unfähig entsetzt zu sein, zu ihm aufsah. In diesem alten Kerl erkannte Turel Otto Feininger, seinen alten Freund. Turel lächelte leicht und konnte sich nun entspannt der schwarzen Braut Ohnmacht hingeben. Otto würde sich schon um alles kümmern.
2. Wieder daheim
Wenn man so viele Zähne auf so schmerzhafte Weise eingebüßt hat wie Turel, dann bekommt man ein anderes Verhältnis zum Zähneputzen.
Es wurde plötzlich etwas Sakrales. Putzi als Götze. Dr. Best wurde zu Turels Imam. Rund ein Drittel von Turel Zähnen war durch Goldzähne ersetzt worden. Wenn schon, denn schon. Es ging Turel nicht darum, seine Verletzungen zu verbergen. Vielmehr sie zu etwas Besonderem zu machen. Narben wurden zu Orden. Löcher in Händen zu Freitickets. Er hatte seine eigene Technik fürs Zähneputzen herausgearbeitet. Dabei wurde der Mund in sechs Segmente unterteilt: linke Backenzähne unten, rechte Backenzähne unten, Schneidezähne unten, Schneidezähne oben, linke Backenzähne oben, rechte Backenzähne oben. Jedes der Segmente putzte er von hinten, von vorn und obendrauf.
Als bete er einen Rosenkranz herunter.
Die Zahnpasta schäumte aus beiden Mundwinkeln und tropfte von seinem Kinn ins Waschbecken, das voller Haare lag. Er spie die ganze schaumige Masse aus. Gurgelte nach und spie auch das Wasser ins Becken, das einen erheblichen Teil der Haare, die darin klebten, mit sich riss. Turel wischte den Rest mit einem Taschentuch vom Mund und betrachtete einen Moment seine Zähne. Zog die Lippen zurück, die in der Mitte des Mundes von den Narben regelrecht gespalten wurden. Betrachtete die glänzenden weißen Zähne und die glänzenden Goldzähne.
Noch einmal drehte er den alten Wasserhahn auf und ließ das Wasser die restlichen Haare mit sich reißen. Half dabei mit den Händen nach. Die haarige Flut strudelte ab und Turel sah wieder auf in den alten Spiegelschrank, der direkt über dem Waschbecken hing.
Die Narben waren weitgehend verheilt und zu tiefen Schluchten geworden. Ungleichmäßig und hässlich. Zwei schmale Canyons, die über seine Augen verliefen und sich auf den Lippen kreuzten, um am Kinn wieder auseinander zu laufen.
Er hatte sich das dunkelbraune Haar abrasiert. Wenn er schon ein Opfer war, dann sollte es auch jeder auf den ersten Blick sehen, was für ein schweres Los Turel trug. Vom KZ-Häftling über den buddhistischen Mönch, der unter schweren Entsagungen meditierte, bis zum modernen Messias, der alle Sünden und Leiden auf sich nahm, trugen alle eine Glatze. Warum also Turel nicht auch? Der kleine Goldohrring in seinem Ohr glänzte vom gleichen Gold wie seine Zähne. Ein mystischer goldener Schimmer im kalten Licht des winzigen Badezimmers.
Er knipste das Licht aus und ging in sein kleines Zimmer zurück.
Ein kleiner Raum mit Turels Bett an der Wand, davor der große Teppich mit dem verworrenen, arabischen Muster, davor die Tür zu dem winzigen Balkon. Turel hatte verschiedene bunte Glühbirnen angemacht und so schimmerte das Zimmer in einer Mischung aus warmem Gelb und abgefahrenem Pink-Rot. Auf der Bettkante saß Laura und sah ihn an.
Die gute alte Laura mit ihrer kurzen, blonden Jungenfrisur und dem Lächeln auf ihrem recht runden Gesicht. Sie trug irgendein graues, kurzes Kleid mit schwarzem Gürtel um die Taille, was sich um ihren durchschnittlichen Körper schlang.
„Was hast du denn mit deinen Haaren gemacht?“, fragte sie.
„Ich bin ein Opfer“, grinste Turel. Seine Goldzähne wirkten in den Lichtverhältnissen fast schwarz, mit einem leichten Schimmer. „So tragen Opfer ihre Haare nun mal“, meinte er und stand in den dunkelroten Shorts vor der Tür zum Bad.
„Jetzt erkennt dich niemand mehr auf deinem Ausweis“, meinte sie in einer Mischung aus Verspieltheit und Ernst.
Turel trat weiter ins Zimmer. Sah zu den beiden Löchern in seinen Füßen, darunter der arabische, rote Teppich. „Wie lange war ich eigentlich nicht mehr hier? … Es muss fast ein Jahr gewesen sein“, meinte er.
„Kein Wunder. Deine Hüfte war gebrochen. Das dauert“, meinte Laura. „Ich habe hier übrigens gewohnt. Ich konnte meine alte Wohnung nicht bezahlen und die hier erhalten. Und ich mag den Ausblick hier. Da dachte ich, scheiß auf die Wohnung. Und da habe ich halt hier gewohnt. War ein komisches Gefühl hier zu wohnen, ohne dass du da warst. Ich habe aber versucht, nichts zu ändern. Ist ja deine Wohnung.“
„Danke“, Turel sah sich um. „Mir kommt es vor, als wäre ich länger nicht mehr hier gewesen. Fast, als wäre die Zeit stehengeblieben in dieser Wohnung“, er entdeckte die leere Packung Raffaelo, die neben dem Schränkchen stand. Turel musste lächeln: „Hey, aus der Packung da habe ich den letzten gegessen, bevor ich los bin und die beiden Irren mich gefoltert haben. Die leere Packung hat hier auf mich gewartet. Genauso wie du“, er sah zu Laura hinüber.
„Als Otto mir davon erzählte, wusste ich echt nicht, was ich denken sollte“, sie sah zu Boden. „Ich meine, du hingst eine ganze Nacht am Kreuz. Da draußen auf den Feldweg. Das muss schrecklich gewesen sein.“
„Na ja … ich habe ein paar Sternschnuppen und einen Waschbären gesehen, das ist doch auch schon was, oder?“, meinte Turel.
Laura sah ihn starr und ernst an. „Du musst mir unbedingt erzählen, wie du das machst.“
„Sternschnuppen und Waschbären sehen?“, fragte Turel.
„Nein. Da draußen auf dem Feld an einem Kreuz hängen und darüber Witze machen. Sie haben dir das Gesicht zerschnitten. Dir die Hüfte gebrochen. Dir Zähne und Fingernägel herausgerissen“, meinte sie schon energischer, „ … dir die …“, sie sprach es nicht aus.
„Sprich es aus!“, forderte Turel. „Verschwiegenheit macht es nicht ungeschehen, also sprich es aus.“
„ … dir die Eier abgeschnitten“, sie sah ihn an. „Wie kannst du jetzt einfach dort stehen als wäre nichts geschehen? Als wärst du irgend so eine Actionheld aus ’nem Film, der einfach alles wegsteckt.“
„Ich bin ein Actionheld aus ’nem Film“, grinste Turel.
Laura erinnerte sich, als sie Kinder waren und sie noch langes Haar hatte, wie Turel eines Tages meinte: „Hey, Laura, komm mal mit, ich muss dir unbedingt was zeigen.“
Er hatte eine Kerze angezündet. Es hatte einige Versuche gebraucht, bis er das Rädchen am Feuerzeug richtig gedreht hatte.
„Mach das nicht, das ist gefährlich!“, hatte Laura gerufen.
Doch Turel war das egal gewesen und er zündete den Docht der Kerze auf dem Tisch an, ballte die Faust, hatte die Hand direkt über die Flamme gehalten. Die kleine, orange Speerspitze hatte wie eine Zunge mit der Handkante gespielt. „Ich wette, das kannst du nicht!“, hatte Turel gerufen. Da hatte Laura Angst gekriegt. Auch sie hatte sich früher mal an einem heißen Ofen verbrannt und schrecklich geweint.
„Hör auf, Turel! Du tust dir noch weh!“
„Nö, tue ich nicht“, meinte er konzentriert.
„Hör auf damit, Turel“, hatte Laura gerufen, die Hände angespannt in ihre Kleidung gekrallt. „Hör auf, Turel! Sonst sag ich, dass du dir wehtust!“ –
„Du wolltest schon immer allen beweisen, dass du stärker als jeder andere bist, was?“, fragte Laura nostalgisch lächelnd.
„Ich musste das nicht beweisen“, meinte Turel. „Ich kann alles ertragen. Dass müsste doch jetzt klar sein, oder?“, er ging zum Schrank und zog eine der drei großen Schubladen auf. Suchte nach seinen Sachen.
„Weißt du, irgendwie warst du trotzdem hier. Auch wenn ich wusste, dass du noch im Krankenhaus liegst, war es, als wärst du trotzdem hier. Oder als würdest du jeden Moment zurückkommen. Oder als wärst du nur mal kurz einkaufen oder beim Zahnarzt. Das war deine Wohnung.“
„Ich war beim Zahnarzt“, meinte Turel und zog sich an.
Sie ließ sich aufs Bett sinken. „Manchmal lag ich hier und habe einfach die Decke angestarrt und versucht mir vorzustellen, was du durchleiden musstest.“
„Und?“, fragte Turel, „ist es dir gelungen?“, und zog eine weinrote Hose aus Leder hervor. Suchte die dazugehörige Jacke.
„Nein. Wie auch? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Es ist einfach unvorstellbar“, Laura verschränkte die Hände unterm Kopf, wendete den Kopf zur Seite und ließ erneut den Blick über all die Dinge in seiner Wohnung schweifen. Über die fast überquellenden Regale voller Dinge, den alten, großen Röhrenfernseher in der Ecke. Einige Dinge schlummerten einfach in gestapelten Umzugskartons, die Turel nie ausgepackt hatte. Wenn er etwas daraus brauchte, kramte er es hervor und steckte es danach wieder zurück.
„Weißt du, dass dein alter Röhrenfernseher, wenn er in der Nacht auf Standby steht, geisterhaft glüht? Ich musste den Stecker herausziehen, weil ich Angst hatte, dass er in der Nacht plötzlich irgendwelche Gesichter oder so was zeigt.“
Turel breitete die Arme aus, er meinte: „Wie sehe ich aus?“
Laura stützte sich auf die Tagesdecke des Bettes und sah Turel an. Er trug ein leichtes, dunkles Hemd und dazu diese weinrote Hose aus Krokodilleder, mit dieser merkwürdigen, vernarbten Musterung. Die Schuppen eines Reptils.
„Wie ein anderer Mensch“, lächelte Laura.
„Passt, oder?“, er ging zum offenen Balkon. Es war ein winziger, alter Balkon aus Stein. Turels Wohnung saß ganz oben in der Ecke eines Hauses. Das schwarze, spitze Geländer, das langsam rostete, stammte von einem alten Friedhof. Früher einmal hatte es ein paar Gräber umschlossen. Jetzt hielt es Turel vorm Abstürzen ab. Unten verlief schräg die Straße. Das Haus stand genau in einer Ecke. An der langen Seite links von ihm befanden sich einige Läden: Cafés, Dönerbuden, ein Elektrogeschäft.
„Was willst du jetzt eigentlich machen?“, hörte er Laura hinter sich fragen.
„Ich finde, dass ich genug gelitten habe. Ich habe jetzt nur noch das Beste verdient, findest du nicht?“, spähte Turel über seine Schulter zu Laura, die noch immer auf dem Bett saß.