Der argentinische Krösus

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Doppelleben in Buenos Aires

Felix Weils einstige indianische Amme betrieb mit ihrem Mann inzwischen eine Bäckerei in dem Häuschen, das sie sich, nachdem der Haushalt ihrer alten Arbeitgeber aufgelöst worden war, von ihren Ersparnissen gebaut hatten.43 Fernando und Antonio führten längst ein eigenständiges Leben. Antonio arbeitete in einer Werkstatt, Fernando in einer Landarbeitergewerkschaft. Er ritt von Estancia zu Estancia und klärte die Peones über ihre miserable Lage auf. Nach Buenos Aires kam er nur, um die Liste mit den Namen der neu angeworbenen Mitglieder bei seiner Gewerkschaft abzuliefern. Juana hatte Angst um ihn, denn die Polizei auf dem Land, die auf der Lohnliste der Großgrundbesitzer stand, machte in deren Auftrag Jagd auf Gewerkschaftsaktivisten. »Es steht nicht in der Bibel, dass der Mensch sich in Gewerkschaften vereinigen soll.« Felix Weil erinnerte sich noch 50 Jahre später, wie er Juana auf Spanisch entgegnete: »Aber es steht in der Bibel, dass der Mensch seinen Nächsten wie sich selbst lieben soll.«44 Er staunte selbst. Als hätte er nach 13 Jahren eine Schublade aufgezogen, in der sein Spanisch lag. Er brauchte es nur herauszunehmen. Alles war wieder da.

Mit Käte, seiner Frau, reiste er kreuz und quer durch Argentinien und zeigte ihr das Land seiner Kindheit. Seine Eindrücke verarbeitete er in einem Aufsatz über die Arbeiterbewegung in Argentinien, der 1923, ein Jahr nach seiner Rückkehr aus Argentinien, im Leipziger Hirschfeld Verlag erschien: »Die Eisenbahnen laufen fast alle nur in der Ost-West-Richtung: von der Küste ins Innere; Querverbindungen gibt es noch kaum. Die Schnellzugstationen bestehen oft nur aus einem kleinen Häuschen mitten in der Steppe oder den Feldern. Von der Station bis zum nächsten Gut reitet man oft viele Stunden. Von einer Station zur andern sind es oft mehrere hundert Kilometer. Die Riesenentfernungen unterstützen noch die politische Willkürherrschaft der Großgrundbesitzer.«45 Was die deutschen Leser dieses Aufsatzes über die ländlichen Regionen Argentiniens geschildert bekamen, war die gleiche von Profitinteressen geprägte Landschaft, die Felix Weil schon von den Kindheitsausritten mit seinem Vater kannte. Allerdings hielt sich bei den golondrinas, den ›Schwalben‹ genannten Landarbeitern, nur noch im Namen die Mär aus der Vorkriegszeit, der zufolge sie zwischen den Erntezyklen zwischen Argentinien und ihrer Heimat Italien hin und her gependelt seien. Dem an Marx geschulten politischen Ökonomen Weil drängte sich nun im Wort golondrinas die Konnotation mit den Vogelfreien und den Vagabunden auf, die keinem und jedem gehörten. Die von Marx als »Blutgesetzgebung gegen Vagabondage« bezeichneten Maßnahmen, mit denen im 15. und 16. Jahrhundert die Tendenzen gesellschaftlicher Verwilderung im Verfallsprozess des Feudalismus brutal unterbunden wurden – hier in den archaisch-sozialen Strukturen der ländlichen Regionen Argentiniens sah sie Felix Weil als immer noch praktiziertes Recht. Wer sich weigerte, gegen Lohn zu arbeiten, durfte als Sklave gehalten werden. Von einer Arbeiterbewegung konnte zumindest auf dem Land noch keine Rede sein. »Ab und zu kommen Streiks vor, die mit Gewalt niedergeschlagen werden. Wo das wegen allzu großer Nähe der Stadt nicht ohne weiteres geht, pflegt man durch agents provocateurs einen Grund zum Eingreifen zu schaffen oder die Streiker durch neu angekommene Einwanderer zu ersetzen.«46 Die Informationen schien er für diesen Aufsatz aus erster Hand von dem als Gewerkschaftsaktivisten tätigen älteren Sohn seiner indianischen Amme erhalten zu haben. Dass Polizei und Justiz auf dem Land im Dienste der estancieros stünden, bedeute für die Arbeiter vollständige Rechtlosigkeit. »Wenn man sich diese Zustände vor Augen hält«, fasste Felix Weil seine Eindrücke zusammen, »so hat man eine Erklärung für die Verzweiflungstaktik der Landarbeiter. Man wird begreifen, weshalb sie bei Streiks die Ernten anzünden.«47


Auch wenn bei Hermanos Weil alle auf ihn als künftigen Generaldirektor der Firma setzten, wusste Felix Weil schon bald, nachdem er 1920 in Buenos Aires auf dem Sessel des Filialdirektors Platz genommen hatte, dass er nie eigenständig einen Sack Getreide kaufen oder verkaufen würde. Er spürte, dass ihm dafür das Wichtigste fehlte: der Sinn für Marktentwicklungen. Das alleine hätte aus ihm zwar einen schlechten Generaldirektor, aber zumindest immer noch einen Generaldirektor gemacht. Doch wogegen sich Felix Weil innerlich geradezu sträubte, waren die scheinbar ganz normalen geschäftlichen Gepflogenheiten, zum Beispiel Preisabsprachen.48 Auf einer Vorstandssitzung der Vereinigung argentinischer Getreideexporteure platzte ihm 1921 der Kragen. Als einem der kleineren Getreidehändler betrügerisches Geschäftsgebaren vorgeworfen wurde, weil er der Verfälschung von Mustern überführt worden war, hielt der 23-jährige Juniorchef von Hermanos Weil seinen zum Teil wesentlich älteren Kollegen aufgebracht vor, es gäbe gar keinen Grund, sich so puritanisch aufzuspielen. Die kleine Firma täte im Kleinen nur das, was sie selbst täglich im Großen praktizierten. Mit dem einzigen Unterschied, dass sie aufgrund ihrer Größe, ihrer Macht und ihrer Beziehungen für die Tricksereien nicht zur Verantwortung gezogen würden. Niemand in der Runde verstand, worüber er sich eigentlich so aufregte.

Seit Felix Weil mit seiner Frau in Buenos Aires lebte, gab es für die Mitglieder des deutschen Klubs immer wieder Anlass, sich über seine ungezogene Art und den rauhen Ton, den er oft anschlug, zu empören. Mit beidem machte er sich nur wenige Freunde. Einer jedoch saß nur dabei und hörte gut zu, wenn man sich im deutschen Klub wieder einmal über den Juniorchef von Hermanos Weil ausließ, weil er ehrenwerte Geschäftsmänner der Gaunereien bezichtigt hatte. Bei dem aufmerksamen Beobachter der großen und kleinen Ränke und Kabale im deutschen Klub, der zum Klatsch selber wenig beitrug, sich aber alles merkte, was er hörte, handelte es sich um den deutschen Arzt Max René Hesse. Hesse lebte seit 1910 in Buenos Aires und praktizierte im deutschen Hospital. 1927 kehrte er nach Deutschland zurück und wurde Schriftsteller. Partenau war sein erster Roman. Morath schlägt sich durch sein zweiter. Der Protagonist der Geschichte, die in der deutschen Kolonie von Buenos Aires spielt, welche Hesse als ehemaliger Arzt des deutschen Hospitals und ständiger Gast im deutschen Klub jahrelang genau kennengelernt hatte, war – wie der Autor – Arzt am deutschen Hospital. Unter dem Romanpersonal tauchte mit breiten Schultern, zurückgekämmten Haaren und zwinkernden Augen auch der Juniorchef des Getreideunternehmens Weil auf, der im Roman Dr. Weinberg heißt. »Die Multimillionen ließen die Gesellschaft über seinen Radikalismus lächeln«, hieß es bei Hesse, und jeder, der das las, dachte automatisch an Felix Weil. Obwohl sein Roman prall gefüllt war mit Detailwissen über die Verhältnisse in der deutschen Kolonie von Buenos Aires, war es Hesses Beobachtungsschärfe entgangen, dass Felix Weil in Buenos Aires unter dem Decknamen ›Lucio‹49 oder auch ›Beatus Lucio‹50 ein Doppelleben führte. Was im deutschen Klub keiner wusste oder vielmehr wissen durfte: Der Juniorchef von Hermanos Weil war Grigorij Sinowjews Mann in Argentinien. Seine Akte ist unter der Nummer 495-190-97 im russischen Staatsarchiv für soziale und politische Geschichte (RGASPI) zu finden.51 Zwischen dem 12. und 17. Oktober 1920 hatte der damalige Komintern-Chef Sinowjew – von der Parteilinken als Redner eingeladen – den Parteitag der USPD in Halle besucht, auf dem der Zerfall der 1917 von der SPD abgespaltenen Partei begann. Viele Mitglieder gingen zurück in die SPD, während andere sich der 1918 gegründeten kommunistischen KPD anschlossen. Vor seiner Abreise nach Argentinien schien sich Felix Weil dort in Halle mit Sinowjew getroffen zu haben. Zumindest war er für seine Argentinien-Reise, zu der er laut Melderegister-Auszug nach seiner Abmeldung vom Wohnort Frankfurt am 18. Oktober 1920 aufbrach, von Sinowjew mit allen Vollmachten eines Komintern-Delegierten ausgestattet worden.52 Sinowjew brauchte einen zuverlässigen Analysten der Positionen in jenen argentinischen Parteien und Gewerkschaften, die sich um Aufnahme in die III. Internationale beworben hatten. Aus Felix Weils teilnehmender Beobachtung ging der bereits erwähnte Aufsatz über die Arbeiterbewegung in Argentinien hervor, eine auch unter wissenschaftlichen und historischen Gesichtspunkten interessante Übersicht über Geschichte, Ideologie und Programmatik der sich bewerbenden Parteien und Gewerkschaftsorganisationen. In einem internen Bericht an Sinowjew bescheinigte Felix Weil der Kommunistischen Partei Argentiniens (PCA) schon Anfang 1921 eine »zweifellos kommunistische« Orientierung.53 Dass die Aufnahme der argentinischen Kommunisten trotzdem noch bis August 1921 hinausgezögert wurde, lag daran, dass auch einige von russischen Emigranten dominierte Gewerkschaften um die Gunst Moskaus buhlten. Anders als die politische Linke Argentiniens wurzelten diese syndikalistischen Bewegungen Argentiniens historisch weder in der europäischen Sozialdemokratie noch in der Arbeiterbewegung. Wie von Felix Weil in seinem Aufsatz über die argentinische Arbeiterbewegung erwähnt, scheiterten in einem jungen Einwanderungsland wie Argentinien Gewerkschaftsstreiks nämlich schon daran, dass sich unter den frisch im Land eintreffenden Arbeitern stets genug Streikbrecher fanden. Anstelle von Streiks entschieden sich die gewerkschaftlich organisierten argentinischen Arbeiter deshalb für Sabotage- und Zerstörungsakte, die ihrer Ansicht nach effektiver waren. Nur entstand auf diese Weise keine politisch bewusste Gewerkschaftsbewegung. Erst infolge der revolutionären Umwälzungen in Russland bildeten sich innerhalb der argentinischen Gewerkschaften kommunistische Strömungen heraus. Hierbei waren vor allem russischstämmige Arbeiter die treibenden Kräfte. Die von ihnen ins Leben gerufenen revolutionär gesinnten Gewerkschaften wie die russische FORSA agitierten bald auch in Chile, Brasilien und Paraguay.54 Dass die Moskauer Führung der Komintern lieber mit diesen russischstämmigen Gewerkschaftsdelegierten, die nach der russischen Oktoberrevolution in Argentinien auf den bolschewistischen Zug aufgesprungen waren, als mit Delegierten der politischen Linken kooperierte, die in der Tradition der europäischen Arbeiterbewegung standen, sorgte bei den argentinischen Kommunisten für Verstimmung.55 Keiner dieser russischstämmigen Delegierten, die Moskau zu Instrukteuren ausbildete, gehörte der Parteiführung der PCA an. Felix Weil warnte Sinowjew davor, die Bedeutung der russischen Emigranten für die kommunistische Bewegung Argentiniens zu überschätzen. Anders als die russische Winterweizensaat, mit der die Getreidefarmer in der argentinischen Pampa im 19. Jahrhundert gute Ergebnisse erzielt hatten, schaffe es die aus Moskau importierte kommunistische Propaganda nicht, die argentinische Wirklichkeit zu befruchten. Die russischen Instrukteure plusterten sich zu ›argentinischen Lenins‹ auf, die sich ständig bei der Führung in Moskau über den nachlässigen Umgang der Kommunistischen Partei Argentiniens mit der bolschewistischen Literatur beschwerten.56 Nicht ein Buch sei übersetzt und publiziert worden. Felix Weil nahm seine kommunistischen Landsleute in Schutz und machte Sinowjew auf ein paar Besonderheiten aufmerksam, die speziell argentinisch waren und propagandistischen Einfallsreichtum erforderten: die unpolitische Einstellung der argentinischen Arbeiter, ihr Desinteresse an Versammlungen und das weit verbreitete Analphabetentum. Die bolschewistische Literatur, die die ›argentinischen Lenins‹ unbedingt ins Spanische übersetzt haben wollten, könnten die Arbeiter gar nicht lesen. Felix Weil empfahl Sinowjew stattdessen ›das Picknick‹ als geeignetes Agitationsmittel. Bei Musik, Tanz und Vesper im Freien könnte ganz nebenbei politische Überzeugungsarbeit geleistet werden. Auf diese Weise ließe sich mehr erreichen als mit importierter und schwer verständlicher ideologischer Kost aus Russland.57

 

Am Ende seines Argentinien-Jahrs übergab Felix Weil den Chefsessel im Kontor der Firma an Jorge Valois, der schon seit vielen Jahren Direktor der Filiale von Hermanos Weil in Rosario und als solcher ein besonders erfahrener Kaufmann war. Denn Rosario war Industrie- und Handelszentrum, ganz im Nordosten der Pampaprovinz Santa Fe gelegen, mit einem für den Getreideexport außerordentlich wichtigen Binnenhafen am Río Paraná, aus dem Getreide in alle Welt verschifft wurde.

Hermann Weils Sohn hatte sein Versprechen eingelöst und sich ein Jahr lang bemüht, der ihm zugedachten Rolle des künftigen Firmenlenkers gerecht zu werden. Doch Ende 1921 kehrte er mit seiner Frau nach Frankfurt zurück und erklärte seinem Vater, es sei ein Fehler gewesen, ihn zum Studium zu überreden. Dadurch hätte er die Lust am Getreidehandel verloren. »Über meinen Abscheu vor den unmoralischen Geschäftsgewohnheiten sprach ich nicht«, gab Felix Weil in seinen Aufzeichnungen zu Protokoll. Denn er kannte seinen Vater zu gut, um nicht genau zu wissen, wo sich das Gespräch mit ihm lohnte und wo nicht. Soweit es die Geschäftspraktiken im Getreidehandel betrafen, war er sich sicher: »Er hätte gar nicht verstanden, wieso ›normale‹ Gepflogenheiten mich so negativ beeindruckten.«58

Der Institutsstifter

In seiner Zeit als Geburtshelfer der Kommunistischen Partei Argentiniens erlebte Felix Weil hautnah mit, dass die neue kommunistische Partei schon im Moment der Geburt an der im Kern zutiefst doktrinären Mentalität der aus Moskau zurückgekehrten Partei-Instrukteure krankte. Hier begriff er zum ersten Mal nicht zuletzt aufgrund seiner eigenen Erfahrungen, was ihm sein politischer Mentor Karl Korsch, mit dem er seit 1919 in Verbindung stand, in langen Diskussionen auseinanderzusetzen versucht hatte: als Lehrgebäude festgefügter Wahrheiten konnte sich marxistische Theorie niemals zum Besten der Praxis weiterentwickeln. Die Theorie musste empirisch aus der Gegenwart heraus bestimmt werden. In Argentinien sah es Felix Weil selbst: Wie eine Betonglocke wurde sie der argentinischen Arbeiterschaft aufgepfropft, ohne Rücksicht darauf, dass sie mit der Wirklichkeit in Argentinien in keinerlei Verbindung stand. Vorrangig ging es um die Durchsetzung eines Dogmas, nicht um die Auseinandersetzung mit einer sozialen Realität. Im Fall Argentiniens, wo es ein Proletariat als historisches Subjekt nicht gab, war der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen und der Arbeiterschaft noch gar nicht genauer betrachtet worden.59 Dies bliebe einer zukünftigen Arbeit vorbehalten, so Felix Weil in dem Schlusssatz seines Beitrags zur argentinischen Arbeiterbewegung.60 In diesem kleinen Satz hatte der Komintern-Delegierte ziemlich spitz den Kern seiner Kritik an der nun auch von ihm in Argentinien beobachteten politischen Praxis verpackt, marxistische theoretische Erkenntnisse da zu ignorieren, wo es um die Partei ging. Aus seinem Argentinien-Jahr, in dem er Dauergast auf Partei- und Gewerkschaftsversammlungen gewesen war, zog Weil für sich die Erkenntnis, dass die Weiterbildung der marxistischen Theorie eine wissenschaftliche, keine parteipolitische Aufgabe sein müsste. Nur innerhalb eines geschützten Raumes unter den Bedingungen der Freiheit von Lehre und Forschung ließe sich diese Aufgabe ohne Bevormundung durch die kommunistische Parteizentrale bewältigen.

Wann mag der Gedanke in ihm aufgekeimt sein, dass er vermutlich der einzige Mensch im Umfeld der sozialistischen Aktivisten war, der die finanziellen Mittel besaß, ein solches marxistisches Forschungsinstitut auch tatsächlich zu realisieren? Seine Mutter hatte ihm ein großes Erbe hinterlassen, als er gerade 14 Jahre alt war, ein Erbe, dank dem er sich schon jetzt in dieser privilegierten Situation befand. Argentinien entfiel als Standort für ein Institut, dessen Forschungsmethode von der Durchdringung der Theorie mit den wirklichen sozialen und ökonomischen Gegebenheiten geprägt sein sollte. Denn ein klassisches Proletariat, auf das die Fragestellung einer solchen Forschungsmethode abzielen würde, gab es hier nicht, und folglich ergab die Gründung eines marxistischen Instituts, das die Arbeiterschaft als revolutionäres Subjekt untersuchte, in Argentinien keinen Sinn. Anders sah die Lage in Deutschland aus. Ökonomisch steckte das Land tief in der Krise. Im Jahr 1922 hatte die Wirtschaft erst 66 Prozent ihres Vorkriegsniveaus erreicht und die Reichsmark wies im Oktober des Jahres nur noch ein Tausendstel ihres Wertes vom August 1914 auf. Das politische und gesellschaftliche Klima deutete darauf hin, dass eine sozialistische Revolution noch immer möglich wäre – die richtige Bündnispolitik vorausgesetzt. Die KPD hatte sich durch den Zusammenschluss mit der Mehrheit der USPD zu einer Massenpartei mit vierhundert- bis fünfhunderttausend neuen Mitgliedern entwickelt. Der Zustrom war mit der Enttäuschung der Industriearbeiter über die nicht eingelösten gesellschaftlichen Partizipationsversprechen der Republik zu erklären, was in der KPD die Illusion nährte, dass sich die explosive Situation in Deutschland ausnützen ließe, um durch Agitation an der Basis die Unzufriedenheit der Arbeiter zu schüren, bis hin zu einem landesweiten Aufstand. ›Offensivstrategie‹ nannte das die Komintern. Doch die gescheiterte März-Aktion 1921, mit von der Partei geschürten Arbeiteraufständen in Mitteldeutschland, war ein Beispiel dafür, dass politische Entscheidungen wider besseren theoretischen Wissens getroffen wurden, sofern es der Parteizentrale opportun erschien. Mit Sicherheit ließ sich Felix Weil im fernen Buenos Aires, wo er sich zum Zeitpunkt der März-Aktion aufhielt, über die Vorgänge in Deutschland informieren. Die Offensivstrategie war Ergebnis einer Entscheidung von oben, die in keinem Moment die Massen erreichte und mit einer Niederlage endete. Von einer Arbeiterrevolte konnte nur in Teilen Mitteldeutschlands die Rede sein, in der Industrieregion um Halle, Leuna, Merseburg und dem für sein Kohlenrevier bekannten Mansfelder Land. Der Rest des Landes blieb stumm, so Rosa Meyer-Leviné, die Frau des damaligen KPD-Vorsitzenden Ernst Meyer, mit der Felix Weil schon früh befreundet war. Ihren Worten nach gehörte, was noch folgte, als die Niederlage schon entschieden war, zu den schlimmsten Kapiteln der kommunistischen Geschichte.61 Die Partei griff auf Sabotage und gezielte Provokation zurück. Arbeitslose wurden zu Sturmbrigaden formiert, Handgranaten verteilt, gezielt die Polizei provoziert, damit sie auf Arbeiter schoss. Wessen Blut floss, schien für die Partei keine Rolle gespielt zu haben, so die Frau des KP-Vorsitzenden, die alles andere als mit der Parteilinie konform war.62 Angesichts dieser politischen Ereignisse und Entwicklungen erschien der Aufbau einer von der Parteipolitik unabhängigen marxistischen Forschungseinrichtung wie ein Gebot der Stunde. »Die KPD mag die Lüge anwenden im Kampfe gegen Klassenfeinde, aber sie sollte das Prinzip haben, dass Arbeiter, selbst wenn sie nicht Kommunisten sind, nicht belogen werden dürfen. Leider ist von einem solchen Prinzip noch nichts zu merken.«63 So der Kommentar Felix Weils auf der EMA. Als er spät im Leben noch einmal darüber nachdachte, wann genau die Institutsidee entstand, war er sich sicher, dass es nach seiner Rückkehr aus Argentinien im thüringischen Ilmenau während der EMA gewesen sein musste.64 Das Kürzel stand für Erste Marxistische Arbeitswoche, dem von Karl Korsch in einem thüringischen Bahnhofshotel organisierten Theorieseminar, bei dem Felix Weil für alle Kosten aufgekommen war und wo er auch seine erwähnte deutliche Kritik an der Täuschung der Arbeiter durch die angeblich allein ihre Interessen wahrende Partei vorgetragen hatte. Es war kein Zufall, dass Korsch für die inhaltliche Ausrichtung der EMA verantwortlich war. Korschs undogmatische Auslegung der marxistischen Theorie sprach damals junge, revolutionär gesinnte, aber geistig unabhängige Menschen wie Felix Weil an. Und die Sympathie war gegenseitig. Korsch – als marxistischer Lehrer Bertolt Brechts bekannt geworden – nahm auch den zwölf Jahre jüngeren Felix Weil, dem er eine »Leidenschaft für die Enterbten und die Revolution« attestierte, unter seine Fittiche.65 So war schon 1921 Weils Sozialisierungs-Dissertation in der von ihm herausgegebenen Reihe Praktischer Sozialismus erschienen. Allerdings fand die EMA nicht schon 1922 statt, wie sich Felix Weil zu erinnern glaubte, sondern erst ein Jahr später: Pfingsten 1923.66 Damit war auch die Idee der Institutsgründung kein Resultat dieses Theorieseminars, sondern – umgekehrt – die EMA ein erstes Produkt jener Institutsgründung, die Felix Weil gleich nach seiner Rückkehr aus Argentinien im Jahr 1922 in Angriff genommen hatte.


Noch bevor er im Oktober 1920 zu seiner Hochzeitsreise nach Argentinien aufgebrochen war, hatte Felix Weil in Frankfurt Freundschaft mit Max Horkheimer und Friedrich Pollock geschlossen, die später zum Inbegriff des von ihm gegründeten Instituts werden sollten. Der 1895 geborene Max Horkheimer und der ein Jahr ältere Fritz Pollock waren beide Fabrikantensöhne. Wie Hermann Weil stellten sich auch die Väter der beiden vor, dass ihre Söhne eines Tages die Firmen übernehmen würden. Deshalb mussten sie früh in den Direktionen der väterlichen Betriebe mitarbeiten. Horkheimers Vater besaß eine Textilfirma, Vater Pollock eine Lederfabrik. Der Bruch, zu dem es 1916 zwischen Horkheimer und seinem Vater kam, weil dieser nicht die Liaison seines Sohnes mit der acht Jahre älteren Rose Riekher akzeptierte, die als Privatsekretärin für ihn arbeitete, war der Grund, dass Horkheimer die väterliche Fabrik verließ und mit seinem Jugendfreund Pollock, der sich ebenfalls mit seinem Vater überworfen hatte, nach dem Krieg zunächst das Abitur nachholte. Dann schrieben sie sich in München an der Universität ein. Horkheimer wählte die Fächer Psychologie, Philosophie und Nationalökonomie. Pollock entschied sich für Nationalökonomie. Dass sie nach nur einem Studiensemester im Herbst 1919 an die Universität Frankfurt wechselten, erklärte Horkheimer 1972 damit, dass München nach der Niederschlagung der Räterepublik im Mai 1919 ein zu gefährliches Pflaster geworden war. Gleich zweimal hintereinander sei er infolge einer Verwechslung mit dem Schriftsteller und Revolutionär Ernst Toller verhaftet worden.67 Da auch Fritz Pollock Probleme bekam, nachdem er seine Sympathie für die Räterepublik stets offen gezeigt hatte,68 fassten beide den Entschluss, zum Studium nach Frankfurt zu ziehen. Felix Weil war von seinem Freund Kostja, dem älteren Sohn Clara Zetkins, auf die damals noch in einer Pension wohnenden Studenten aufmerksam gemacht worden.69 Fritz Pollock glaubte zu spüren, dass er und Horkheimer einen starken Eindruck auf den etwas jüngeren Felix Weil gemacht hätten. Denn schon bald sei er bei ihnen ein häufiger Gast gewesen, der sie oft um Rat gebeten hätte. In dem Gespräch, in dem Pollock 1965 über die Anfänge der Freundschaft mit Felix Weil sprach, gab er auch zu Protokoll, dass auf diese Weise im Schlossgarten zu Kronberg von Horkheimer und ihm zusammen mit Felix Weil das ›Institut für Sozialforschung‹ gegründet worden sei.70 In Kronberg hatten Horkheimer und Pollock in dem Jahr, in dem Felix Weil aus Argentinien zurückkehrte, ein Haus erworben.71 Max Horkheimer erklärte 1972, der Akt der Institutsgründung hätte zunächst dazu gedient, dem schwerkranken Hermann Weil zu einem Ehrendoktor zu verhelfen.72 Tatsächlich setzte sich Felix Weil bei den Institutsverhandlungen mit der Universität dafür ein, dass seinem Vater, einem ihrer Gönner, der insbesondere der medizinischen Fakultät immer wieder große Summen gespendet hatte, endlich die Anerkennung zuteil würde, die er längst verdient hatte. Zieht man jedoch Felix Weils Neigung zu Doppelstrategien in Betracht, die sich schon in Tübingen wie auch in Argentinien gezeigt hatte, war der Ehrendoktor nicht Sinn und Zweck der Institutsidee, sondern die erste einer ganzen Reihe von Doppelstrategien, die letztlich zur erfolgreichen Umsetzung des Institutsprojekts führten. Zum einen lieferte der honoris causa das Alibi, mit dem sich auch für die Behörden nachvollziehbar erklären ließ, warum er sich den Bau eines universitären Instituts in den Kopf gesetzt hatte. Zum anderen ließ sich sein Vater, der eine Schwäche für derlei Prestige-Bekundungen hatte, mit dem Ehrendoktor als Mitstreiter für das Institutsprojekt gewinnen. Horkheimer präzisierte, dass sie sich vom Bau des Instituts einen doppelten Effekt erhofft hatten. Sie wollten dort, wenn es erst einmal stand, eine Gruppe junger Menschen zusammenbringen, die durch ihre Forschungen und ihr Denken die Gesellschaft zu verändern versuchten. Letzteres sei allerdings erst mit ein paar Jahren Verzögerung geglückt, als er 1931 die Leitung des Instituts übernommen habe.73

 

Ulrike Migdal, die sich in den 1970er Jahren als Erste eingehend mit der Frühgeschichte des Instituts für Sozialforschung befasste, hat darauf aufmerksam gemacht, dass es 1922 für Horkheimer kein Motiv gab, die führende Rolle bei der Institutsgründung zu übernehmen, wie es nachträglich hineininterpretiert wurde.74 1922 promovierte Horkheimer mit einem philosophischen Thema – Zur Antinomie der teleologischen Urteilskraft – und wurde anschließend Assistent eines Philosophieprofessors, Hans Cornelius, der schon sein Doktorvater war. Doch das Institut war ökonomisch ausgerichtet. Als politischer Ökonom, der über Marx promovierte, war Pollock aus nachvollziehbaren Gründen interessierter an der Institutsidee. Er stand Felix Weil bei der Umsetzung des Projekts – anders als Horkheimer – tatsächlich von Anfang an zur Seite. Für die Zeitgenossen war unbestritten Felix Weil der Schöpfer des Instituts.75

Rolf Wiggershaus, Historiker der Frankfurter Schule, schrieb über Max Horkheimers Engagement für marxistische Theorie, dass es mehr oder weniger ›Privatsache‹ blieb.76 Ähnlich privat handhabte Max Horkheimer auch die Unterstützung des Institutsprojekts. Sie beschränkte sich darauf, im Oktober 1922 aus Solidarität der soeben gegründeten Gesellschaft für Sozialforschung beizutreten, die fortan Stiftungsträgerin des Instituts unter dem Vorsitz von Hermann und Felix Weil war. Damit die Gesellschaft möglichst schnell und unkompliziert die gemäß Statuten vorgesehene Mindestmitgliederzahl erhielt, traten ihr ein paar Freunde und Personen aus Weils familiärem Umfeld bei. Denn die Gründung der Gesellschaft für Sozialforschung erfolgte im Procedere der Institutsverhandlungen mit den Behörden. Das Kultusministerium hatte sich bei Weil nach den Namen der Mitglieder der Gesellschaft erkundigt, die das Institut finanzieren würde, und so nannte der neben den Namen Horkheimers und seiner eigenen Frau noch die Namen der Sekretärin seines Vaters und ihres Familienanwalts. In das Projekt involviert waren von den Mitgliedern der ersten Stunde allerdings nur Richard Sorge und Kurt Albert Gerlach.77 Dass der gerade aus Kiel an die wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität Frankfurt berufene Nationalökonom Kurt Albert Gerlach als Institutsleiter gewonnen werden konnte, gab dem Projekt Seriosität. Gerlach war an marxistischer Theorie interessiert und hatte in Kiel außeruniversitär einen marxistischen Studienkreis ins Leben gerufen, bei dem ihm Richard Sorge assistierte, der zu diesem Zeitpunkt bereits Parteikommunist war und ihn als wissenschaftlicher Assistent nun auch nach Frankfurt begleitete. Als Assistent des designierten Institutsdirektors gehörte auch Sorge zum Team des Institutsprojekts. Dass er seine akademische Laufbahn zwei Jahre später gegen eine russische Agentenkarriere eintauschen würde, war 1922 noch nicht abzusehen. Bevor Felix Weil im August 1922 die Verhandlungen aufnahm, erarbeiteten er und seine Mitstreiter eine Denkschrift; eine Art Exposé, in dem die wichtigsten Eckpfeiler der geplanten Einrichtung umrissen wurden. Der Fokus sollte im Bereich der Forschung liegen; das Institut war damit als Ergänzung zu den sozialwissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten gedacht, die sich auf Lehre und akademische Ausbildung konzentrierten. Das Sammeln zu wissenschaftlichen Zwecken sollte eine der zentralen Tätigkeiten bilden; Forschungsschwerpunkt sei entsprechend die Ausarbeitung dieses gesammelten Materials. Man sprach in dieser Denkschrift schon vom Institut für Sozialforschung und betonte die politische Unabhängigkeit und Ausgewogenheit des Projekts.78 Über die marxistische Ausrichtung fiel kein Wort. Ins Äsopische umwandeln – so nannte Felix Weil die begriffliche Verschleierung marxistischer Semantik. Frei nach dem Fabeldichter Äsop, der die gesellschaftliche Sprengkraft seiner Geschichten tarnte, indem er sie mit Tieren ausgestaltete. Städtischer Magistrat, Universitätskuratorium, Rektorat, wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fakultät, preußisches Wissenschaftsministerium: Sehr viele Behörden mussten hinzugezogen werden. Jede hätte ein Veto einlegen können. Also mussten erst Tatsachen geschaffen werden, bevor man offenlegen konnte, dass Methode und Gegenstand ihres Forschungsinstituts im Marxismus wurzelten. Ein besonderer Umstand begünstigte das Vorhaben. Als Folge von Inflation und allgemeiner Nachkriegsmisere war die bis dahin unabhängige Frankfurter Stiftungsuniversität in ihrem Weiterbestehen inzwischen vom preußischen Wissenschaftsministerium abhängig. Denn politisch gehörte Frankfurt immer noch zu Preußen. Und diesen Umstand wusste Felix Weil zu nutzen. »Mit dem Originalexemplar der Gerlach-Denkschrift versehen, fuhr ich nach Wiesbaden zu meinem alten Freund, Regierungspräsident Konrad Haenisch.« – Hänisch war von November 1918 bis 1921 Kultusminister der ersten SPD-geführten preußischen Landesregierung. Seitdem bekleidete er in Wiesbaden den Posten des Regierungspräsidenten. – »Ich wusste, dass wir auf seine Hilfe rechnen konnten, wenn es darum ging, den ›Marxismus‹ an der Universität hoffähig zu machen. Bei ihm brauchte ich nicht in äsopischen Floskeln zu reden. Er war es, der auf die Idee kam, dass das Direktorat (des Instituts) mit einem Ordinariat in der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät verbunden werden sollte; das sei geeignet, möglichen Widerstand seitens der Fakultät zu verhindern. Und er empfahl mir, künftige Verhandlungen nicht mit seinem Nachfolger, dem Kultusminister, selbst zu führen, der für Neuerungen nicht immer leicht zu haben sein werde, sondern stattdessen mit dem Leiter der Universitätsabteilung, Ministerialdirektor Geheimer Regierungsrat Wende, der ihm seine Stellung verdankte. Zu diesem Zweck gab er mir einen Zettel mit ein paar Zeilen an Herrn Wende mit. Er war es auch, der mir den Rat gab, mit Wende ganz offen über meine Absichten zu sprechen, aber im schriftlichen Verkehr die äsopische Sprache zu benutzen.«79

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