Buch lesen: «Das Geheimnis des Stiftes»

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Das Geheimnis des Stiftes

Wo ist Melanies Vater?

Das Geheimnis des Stiftes

Wo ist Melanies Vater?

Für alle, die sich gelegentlich unsichtbar fühlen.

Für jene, die nicht wissen, wo ihr Platz ist:

Ihr werdet gesehen und geliebt.

Niemand ist gänzlich allein.

JZ

»Es ist nicht alles schlecht, wissen Sie?

Manchmal werden wir von den Menschen um uns herum überrascht.«

* Melanie Note *

Idee und Text: Janine Zachariae

Bilder: von Pixaby und Zedge

Cover: Janine Zachariae

Lektorat: Björn Sünder

Auflage: 2

Prolog

Name ...

Ja, und genau da fängt es schon an. Wie soll ich mich nur nennen?

Mir schwebt Marinette vor. Klingt doch schön, oder? Schnell muss ich nachschauen, in welcher Form dieser Name bereits vorhanden ist ...

Natürlich tauchen jede Menge Assoziationen mit der Zeichentrickfigur auf.

*Ladybug und Catnoir* ist auch eine schöne Serie über zwei Helden, die Paris vor dem bösen ›Hawk Moth‹ beschützen. In Wahrheit handelt es sich um die Schülerin Marinette und den Schüler Adrien, die durch ein Miraculous

(eine Art Talisman)

ihre Fähigkeiten erhalten.

Sehr süß gemacht, muss ich zugeben. Aber das bleibt unter uns, schließlich bin ich zu alt für so eine Animationsserie.

Instagram ist mir immer noch ein Rätsel, aber ich muss mich dem langsam beugen. Auch, wenn ich große Angst vor diesem ganzen Unbekannten habe. Aber für das, was ich vorhabe, und den nötigen Raum benötige, muss ich mich mit dem vertraut machen. Allerdings nur unter einem Pseudonym. Wenn jemand meinen richtigen Namen erfahren würde, wäre das eine Katastrophe.

Nicht, weil ich gesucht werde oder so. Nein, mich würde niemand suchen. Sondern, weil ich nicht zum Gespött aller dargestellt werden will. Oder schnell wieder in Vergessenheit geraten möchte.

Was würde ich auf meinem Account zeigen?

In erster Linie Bücher.

Ich habe jede Menge davon im Bücherregal und vielleicht wäre es eine gute Möglichkeit, mit anderen darüber zu sprechen. Denn sonst redet niemand mit mir über Literatur. Oder allgemein.

Seit ich denken kann, hab ich das Gefühl, unsichtbar zu sein. Natürlich nicht wörtlich betrachtet, ich bin ein Mädchen aus Fleisch und Blut und hab keine Superkräfte. Alles an mir ist nur sehr unscheinbar. Ganz gleich wie sehr ich mich auch bemüht habe, ich bin einfach übergangen worden.

Sogar in der Schule, besonders da eigentlich. Nicht einmal meine Lehrer haben mich wahrgenommen. Ich bin sooft weinend nach Hause gekommen, habe mich in meinem Zimmer versteckt und konnte es einfach nicht verstehen.

Jeden Morgen, wenn die erste Unterrichtsstunde angebrochen war, wurden wir Schüler namentlich aufgerufen und jeder bestätigte, ob man da ist oder eben nicht. Doch jedes Mal, jeden Tag über so viele Jahre, stockten die Lehrer bei meinem Namen, rümpften mit der Nase und blickten sich fragend um. Ich hob, wie jeder andere auch, meine Hand und oft folgte noch ein »Anwesend«. Sie aber blickten förmlich durch mich hindurch. Ich hatte einmal so viele fehlende Tage im Klassenbuch stehen, dass es ein Wunder war, nicht sitzen geblieben zu sein. Aber ich habe nur dann gefehlt, wenn ich wirklich krank war. Was ich mir so gut wie nie erlaubte. Denn je länger ich vom Unterricht ferngeblieben wäre, desto weniger würde man sich an mich erinnern.

Meine Mutter schüttelte oft missbilligend und unfassbar verwirrt oder wütend den Kopf, wenn sie von einem Elternabend nach Hause gekommen war und die Lehrer nicht einmal wussten, wie ich ausgesehen habe oder wo ich saß.

Da ich allerdings keinen Ärger haben wollte, dokumentierte ich jeden Schultag ganz präzise. Als das erste Zeugnis mit den vielen unentschuldigten Fehltagen eintrudelte und ich meiner Mutter hoch und heilig geschworen habe, dass ich keinen Tag davon fehlte, beschloss ich, jeden Morgen zur Direktorin zu gehen, und zeigte ihr meinen Schülerausweis. Sie sollte es eintragen, falls der Lehrer es nicht hinbekommen würde.

Dass ich auch schlechte Noten in Mitarbeit bekommen habe, muss ich wahrscheinlich nicht extra erwähnen. Ich habe so hart gearbeitet, so viel gelernt, stundenlang, oft bis tief in die Nacht hinein, dass ich alles andere gut ausbügeln konnte und ich war eine hervorragende Schülerin, auch wenn ich nicht in jedem Fach glänzte, aber niemand ist überall perfekt.

*

Manchmal besucht mich die Direktorin oder ein Lehrer oder eine Lehrerin in meinen Träumen. Sogar die Schule, die so eindrucksvoll und doch beängstigend wirkte, erscheint regelmäßig. Das bräunliche Gebäude, mit dem roten Dach, welches spitz zulief. Die Fenster waren mit grünen Fensterläden ausgestattet und ich hatte manchmal wirklich das Gefühl, ich sei in einem holländischen oder irischen Dorf, da die Schule so gar nicht zur restlichen Umgebung gepasst hat. Sie wirkte auf mich wie aus einem Märchen. Ringsum hatte man Bäume und Pflanzen gesetzt, die eine Grenze zur Straße bildeten.

In meinen Träumen werde ich manchmal von ihnen angegriffen, wenn ich aus der Schule fliehen will. Sie halten mich auf und dann kommen die Schulkinder und schmeißen mit Steinen nach mir, die aber durch mich hindurch gleiten, als sei ich ein Geist. Gelegentlich sitze ich in einem Klassenraum, welches aber immer enger wird.

Alles verschwimmt dann um mich herum und ich sehe nur noch die Wände, die unaufhaltsam auf mich zukommen. Bevor ich aber zerquetscht werde, wache ich jedes Mal auf.

*

Irgendwie aber schien es, als wäre meine Direktorin genau für diesen Ort gemacht. Sie war um die fünfzig, hatte bereits graue Haare, eine füllige Figur und wirkte doch jünger als so manch eine Lehrkraft. Sie versprühte eine Art Autorität, wie ich sie so noch nie gesehen hatte. Ich mochte sie und sie gab mir eine Chance, jedenfalls hatte sie mir nie das Gefühl gegeben, ich sei nicht erwünscht - morgens um halb acht. Ehrlich gesagt aber glaube ich, hatte sie nur eine Notiz auf ihrem Schreibtisch liegen, die mich jeden Morgen aufs Neue ankündigte. Denn ich hatte manchmal das Gefühl, sie würde erst einmal auf ein Blatt schauen, ehe sie mich wahrnahm. Aber selbst wenn es so gewesen war, meine Illusion konnte sie auch damit nicht zerstören.

Denn für diese eine Minute am Tag hatte ich wirklich das Gefühl, da zu sein.

Während mich die Lehrkräfte behandelten, als sei ich komplett im Weg, wenn ich einmal eine Frage hatte.

Ich war unendlich froh, die Schule hinter mir gelassen zu haben. Denn es war sehr anstrengend gewesen unsichtbar zu sein und doch scheint es mich noch immer zu verfolgen.

Allerdings war nicht alles schlecht gewesen, denn ich hatte genug Zeit und auch Inspiration, um ein Buch zu schreiben.

Dadurch war ich in der Lage an einem Wettbewerb teilzunehmen.

Junge Autoren zwischen 14 und 20 Jahre

1. Platz:

Dein Buch wird von uns verlegt.

2. - 10. Platz

Buchpaket im Wert von 50 Euro

Thema:

Superhelden

1. »Herzlichen Glückwunsch, Du hast gewonnen!«

Ich weiß nicht, wie das passieren konnte, aber ich hatte tatsächlich gewonnen und mein Buch wurde zum Sieger gekürt. Der Vertrag flatterte kurz vor den Sommerferien zu mir, eigentlich zu meiner Tante, aber das ist ja ähnlich. Ich fühlte mich wie ein Zauberer, der seinen ersten Brief aus einer berühmten Zauberschule erhalten hatte.

*

»Herzlichen Glückwunsch Marinette Strike, wir freuen uns, Dir mitteilen zu können, dass Du bei unserem Gewinnspiel den ersten Platz belegt hast.

Es haben hunderte von junge Menschen mitgemacht, weshalb wir etwas länger zum Auswerten benötigt hatten, als ursprünglich beabsichtigt.

Dein Buch wird noch vor der ›Frankfurter Buchmesse‹ veröffentlicht.

Es wird eine offizielle Preisverleihung geben, zu der wir Dir die nötigen Daten in diesem Schreiben beifügen.

Fahrkarte, Ticket und VIP Ausweis wirst Du vorfinden.

Liebe Marinette, wir haben uns sehr über Deine Geschichte gefreut und wünschen Dir viel Erfolg damit.

Dein Buch ›Das mysteriöse Mädchen: Die unsichtbare Retterin‹ wird als Jugendbuch des Sommers‹ im Juni erscheinen.

Was uns aufgefallen ist: Du bist nicht im Social Media zu finden.

Vielleicht möchtest Du das ja ändern, so kannst Du Dein Buch ebenfalls etwas promoten.

Wenn Du Hilfe benötigst oder Fragen hast, kannst Du Dich jeder Zeit an unseren Fachmann für Social Media wenden. Eine Visitenkarte ist ebenfalls im Paket vorhanden.

Nun wünsche ich Dir ganz viel Spaß und Freude an Deinem ersten Buch.

Alles Liebe wünscht Dir,

Will.«

*

Nachdem ich diesen Brief gelesen habe, musste ich mir eingestehen, nicht mehr hinterm Mond leben zu können. Das nötige Mobiltelefon hatte ich, warum also nicht tatsächlich einen solchen Schritt wagen?

Für dieses Buch habe ich ein Pseudonym benutzt und den Nachnamen meiner Tante Hayley verwendet.

Ich konnte nicht riskieren, dass meine Mutter etwas davon erfährt oder der Postbote es wieder mitnimmt, da nicht mein richtiger Name darauf zu lesen ist.

Meiner Tante erzählte ich, dass ich auf eine Überraschung für meine Mutter warte und es deshalb nicht zu uns geschickt werden soll. Mir ist durchaus bewusst, dass man nicht lügen darf, aber in diesem Fall hatte ich keine andere Wahl und ich weiß, dass es nur eine Ausrede ist, aber ihr werdet noch herausfinden, wieso ich das machen musste.

Ich mag Hayley, sie ist eine tolle Tante, auch wenn sich unsere Ansichten manchmal unterscheiden. Es gab schon Zeiten, da bin ich verweint zu ihr und habe darüber gesprochen, dass ich einfach nicht wahrgenommen werde und das es an meinem Aussehen liegen würde.

Sie aber sagte jedes Mal: »Das ist besser so, glaube mir. Du bist ein hübsches Mädchen, aber ich bin froh, dass du so ein stilles und unscheinbares Leben führst.«

Trotz all meiner Bemühungen und Argumentation ließ sie sich nicht von diesem Satz abbringen, weshalb ich es mittlerweile nicht mehr anspreche. Es hat einfach keinen Sinn.

Deshalb konnte ich ihr nicht die ganze Wahrheit erzählen, oder mein Buch zeigen. Sie hätte es nicht verstanden. Sie hätte die Freude nicht mit mir geteilt, sondern es eher als nichtig betrachtet. Was es aber nicht ist. Ich habe ein Buch geschrieben und das vor meinem 19. Lebensjahr. Das Preisausschreiben fand bereits 2016 statt, als ich 18 war. Einsendeschluss war im Dezember.

Hayley ist die Schwester meines Vaters, kurz bevor er verschwunden war, ist sie in unsere Nähe gezogen.

Sicherlich seid ihr über das Wort ›verschwunden‹ gestolpert, oder? Aber es stimmt: Mein Dad ist verschwunden.

Nicht zu finden.

Spurlos.

Wieso, weshalb, warum weiß ich wirklich nicht. Aber plötzlich war er nicht mehr da. Einfach so.

2. Der Tag, an dem der Vater verschwunden ist

Ich war zehn Jahre alt und weiß noch alles ganz genau.

Am 14. Oktober 2007 hatte ich Geburtstag und mein Vater schenkte mir einen unvergesslichen Tag. Obwohl er normalerweise wenig Zeit hatte, verbrachten wir den 14.10. immer zusammen. Das war unsere Tradition seit meinem ersten Geburtstag, was viele Fotos bestätigten. An diesem Tag unternahmen wir etwas ganz Besonderes und Einmaliges. Nur wir zwei. Meine Mutter hatte mich sonst immer, da gehörte dieser Tag nur ihm.

An diesem Sonntag, im Jahr 2007, machten wir uns bereits um vier Uhr am Morgen los und fuhren in eine andere Stadt, weit weg von unserer.

Ich war total aufgeregt, weil ich nicht wusste, wohin es dieses Mal gehen würde, doch als wir schließlich Frankfurt passierten, hatte ich bereits eine Ahnung.

Es war ein Traum. Meine erste Buchmesse überhaupt und das mit meinem Vater zusammen. Er wollte mich überraschen und das ist ihm geglückt. Wir suchten uns einen Parkplatz nicht weit vom Messegelände, da wir früh dran waren, war es kein Problem und er überreichte mir einen Plan mit allen Veranstaltungen und Ausstellern.

»Wann hattest du Zeit gehabt, dir all das zurechtzulegen?«, fragte ich ihn verblüfft und er zuckte mit den Achseln, zwinkerte mir zu und sagte, ganz ernst:

»Für dich, mein Schatz, nehme ich mir immer Zeit, auch wenn ich nicht so oft da bin oder da sein werde, so bist du ständig in meinen Gedanken.«

Ich schluckte und unterdrückte die Tränen, die sich ankündigten und studierte den Plan.

Er hatte alles markiert, was mir gefallen könnte, und zwischenzeitlich war genug Zeit vorhanden, um uns einfach umzuschauen. Ich schwebte im achten Bücherhimmel, falls es den gibt. Wir blieben fast bis zum frühen Abend und mein Vater kaufte mir so unfassbar viele Bücher, dass ich für ein halbes Jahr Lesestoff hatte. Hinterher waren wir Essen und im Kino. Es war der schönste Tag meines Lebens. Nicht nur bis dahin, sondern bis heute.

Ich schlief schließlich im Auto ein, und als ich am nächsten Morgen wach wurde, hörte ich plötzlich meine Mutter laut telefonieren. Es waren Herbstferien und doch war ich relativ früh aufgewacht. Ich schlich aus meinem Zimmer und versteckte mich hinter einer Tür.

»Hayley, ich weiß nicht, wo er ist. Ich habe schon überall angerufen. Er war gestern mit Melanie unterwegs, ... ja, wie immer. Irgendwann muss er wieder aufgestanden sein. NEIN, ich weiß nicht, wo er hin ist. Deshalb ruf ich dich doch an ... Er hatte nichts erzählt. Wir wollten heute etwas Schönes unternehmen, da Mel Ferien und Paul noch ein paar Tage frei hat. ... Natürlich hab ich im Büro nachgeschaut ...«

Ich rutschte an der Wand nach unten, winkelte meine Beine an, umklammerte sie und vergrub meinen Kopf in meinen Armen. Kurz danach wurde aufgelegt und meine Mutter fand mich. Sie sagte nichts, sondern setzte sich zu mir und hielt mich fest.

Es war nicht das erste Mal, dass er plötzlich verschwunden war.

Aber noch nie hörte sich meine Mutter so hysterisch an.

Später, als sie weitere Telefonate geführt hatte, ging ich in Dads Büro und habe mich etwas umgeschaut.

Als Erstes fiel mir auf, dass die Tür aufgebrochen wurde und der Schlüssel im Inneren noch steckte. Es gibt nur ein kleines Fenster in diesem Raum, welches mit einer Leiter zu erreichen ist. Öffnen konnte mein Vater es, wenn er einen Hebel betätigte.

Doch es war so winzig, dass nicht mal ein Schlangenmensch dadurch gepasst hätte.

Mein Vater war ein Riese (okay, ich war noch sehr klein, in Wahrheit war er wohl über 1.80 Meter), schlank und hatte Schuhgröße 46. Seine Hausschuhe standen vor dem Zimmer, was ebenfalls sehr seltsam war. Warum sollte er Straßenschuhe in seinem Büro anhaben, wenn er doch von zu Hause aus arbeitete?

Es wäre einfach unmöglich gewesen, aus diesem Zimmer zu verschwinden, und warum sollte er das machen?

Auf seinem Schreibtisch sah alles ganz Normal aus. Nichts deutete auf einen Zettel oder Ähnliches hin.

Eine Sache aber zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ein Stift, der aussah, als wäre er benutzt worden und doch wies nichts daraufhin. Wenn er eine Nachricht hinterlassen hätte – was er sonst immer gemacht hatte – wäre meine Mutter nicht so hysterisch gewesen.

Wie konnte jemand aus einem verschlossenen Raum verschwinden?

Danach war nichts mehr so, wie wir es kannten. Je länger mein Vater verschwunden blieb, desto mehr zog sich meine Mutter zurück. Die Ferien waren vorüber und ich kümmerte mich nach der Schule um den Haushalt, da sie dazu nicht in der Lage war. Das Geld wurde ebenfalls knapp und ich fragte in dem Blumenladen gegenüber unserer Wohnung, ob ich dort aushelfen könnte. Ich erklärte Frau Hops alles und sie nickte traurig. Konnte mich allerdings nicht einstellen, da ich noch zu jung war. Aber hin und wieder dürfte ich ihr helfen, wenn ich möchte und immer zu ihr kommen, wenn ich wollte.

3. Der Blumenladen

Fünf Jahre lang ging ich jeden Tag nach der Schule zu Frau Hops und half ihr. Es war nur ein Vorwand, dass ich Geld bräuchte. Denn eigentlich wollte ich Gesellschaft, da ich nicht in die deprimierende Wohnung zurückkonnte. Der Geruch all dieser Blumen und Pflanzen beruhigte mich und erfüllte meine Sinne jedes Mal aufs Neue.

Meine Mutter suchte sich wieder Arbeit und schuftete in einem Dreischichtsystem im Krankenhaus. Sie war im Grunde sowieso nie da und wenn, verzog sie sich schnell in ihr Schlafzimmer.

Irgendwann schaute ich mich in ihrem Zimmer um. Ja, ich weiß, das macht man nicht. Aber ich war verzweifelt. Ich musste wissen, was los war.

Sie suchte nach meinem Vater.

Sie hatte nie aufgehört, nach ihm zu suchen, und das gab mir den Rest. Ein kompletter Ordner lag vor mir, vollgestopft mit Belegen, Dokumenten und Bildern, die eine Person zeigten, die meinem Vater ähnelten, aber er doch nicht war oder sein konnte.

Ich blätterte die Seiten durch, wusste, ich habe viel Zeit und stoppte bei einem Foto, was sehr alt aussah. Es war datiert, aber das Jahr …

Was sollte das Bedeuten?

Warum hatte meine Mutter ein Bild aufgehoben und eingeklebt, welches eine Zeichnung darstellte. Es war nicht einmal eine Fotografie. Na gut, dank Google wusste ich, dass das erste bekannte Foto wohl 1826 entstand. Aber die Zeichnung, die scheinbar in einer Zeitung vorgekommen war, stammte von 1714. Mit meinem Handy fotografierte ich alles ab und schaute es mir stundenlang an.

*

Was wusste meine Mutter?

Was verheimlichte sie mir?

*

Frau Hops war eine herzensgute alte Dame, die mir sehr viel über sich und ihre Vergangenheit erzählte.

Meine Mutter kannte Frau Hops ebenfalls und sie war ihr dankbar, dass ich zu ihr durfte. Die zwei sprachen oft stundenlang miteinander und scheinbar konnte nur diese liebe alte Frau zu ihr durchdringen.

*

Vor fünf Jahren verreiste Frau Hops und bat mich für sie einzuspringen, sofern ich es zeitlich einrichten könnte. Es war nichts Ungewöhnliches, denn oft sprang ich für sie ein, wenn sie zum Arzt musste oder einen anderen Termin wahrnehmen wollte. Sie vertraute mir und ich war unendlich dankbar, ihr helfen zu können, da sie über viele Jahre hinweg wie eine Großmutter für mich war. Ich war zwar erst fünfzehn, aber kannte mich gut im Laden aus. Es sollte nur für ein paar Tage sein und ich hatte gerade Sommerferien, da war es für mich eine willkommene Abwechslung. Doch die Tage verstrichen, und ich hatte noch nichts von Frau Hops gehört.

Es war an einem Mittwochnachmittag und der Blumenladen, den ich ordentlich hielt und jede Blume so pflegte, wie ich es gelernt hatte, war mit vielen unterschiedlichen Kunden besucht.

Kurz vor Ladenschluss sah ich einen Mann, um die 25 Jahre, der vor der Ecke mit dem Trauergesteck angehalten hatte.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich leise, doch er zuckte trotzdem etwas zusammen. »Verzeihung, ich wollte Sie nicht erschrecken.«

»Ist nicht ...«, er sah zu mir und schien zu überlegen, ob er mich duzen oder siezen sollte, »... deine Schuld«, entschied er sich schließlich, was mir nichts ausmachte, denn ich bin es gewohnt gewesen. Es sprach trotzdem für ihn, dass er erst einmal darüber nachdachte. »Meine Großmutter ist vor ein paar Tagen ...«, er brach den Satz ab und ich führte ihn zu einer Bank, auf der er sich setzen sollte.

»Darf ich Ihnen eine Tasse Tee oder ein Glas Wasser anbieten? Danach können wir überlegen, was Ihrer Großmutter gefallen hätte.«

Er lächelte und setzte sich schließlich hin. »Ein Tee wäre gut, danke.« Ich nickte und ging hinter die Kasse, dort hatten wir einen Wasserkocher und jede Menge Teesorten versteckt. Ich überlegte, welcher am Besten geeignet wäre, und beobachtete ihn, während das Wasser langsam kochte. Er trug eine dunkle Jeans und ein schwarzes Langarmshirt, sowie schwarze Turnschuhe und wirkte sehr lässig und doch angespannt. Er fuhr sich mit seiner rechten Hand durch sein volles dunkles Haar und schien über irgendwas nachzudenken. Ich glaubte, als ich ihn damals dort sitzen sah, dass er eigentlich andere Farben bevorzugte.

Das Wasser kochte und ich bereitete ihm einen Tee mit Kamillenblüten zu. Dieser würde ihn etwas Ruhe schenken, ohne ihn schläfrig zu machen. Hoffte ich zumindest. Zwischen all den Blumen den Duft der Kamille zu riechen, ist mag ich immer sehr gerne. Er nahm mir die Tasse dankend ab und ich ließ ihn erst einmal alleine und kümmerte mich um weitere Kunden. Nach einigen Minuten stand er auf, lächelte mich an und ich nahm ihm die Tasse wieder ab und verbarg sie hinter der Kasse. Er hatte seine Hände in den Hosentaschen vergraben und wirkte mit einem Mal sehr unsicher.

»Erzählen Sie mir doch etwas über Ihre Großmutter«, schlug ich vor und suchte in der Zwischenzeit nach etwas Passendem. Zuerst schien er nicht zu wissen, wieso ich so vorgehe, aber das hatte ich alles von Frau Hops gelernt.

Auch sie unterhielt sich gerne mit ihren Kunden und erstellte so das beste Gesteck, das man sich vorstellen konnte. Sie war eine wahre Künstlerin und ich staunte immer wieder über das, was sie erschaffen hatte. Sie sollte stolz auf mich sein und keine Beschwerden hören. Das war ich ihr schuldig. Also hörte ich mir die Männer und Frauen, Kinder und Großeltern, Menschen mit körperlicher oder geistiger Einschränkung an und versuchte für sie da zu sein. Manche kommen hier her, weil sie jemandem eine Freude machen oder sich entschuldigen wollen. Andere möchten sich selbst etwas Gutes tun. Manchmal kommen Kinder in den Laden, die ihrer Mama eine kleine Freude machen möchten oder weil sie sich in einen Kindergartenfreund oder Freundin verliebt haben. Dann stehen sie vor den ganzen Blumen, staunen und zeigen gezielt auf eine Bestimmte. Sie zücken ihr eigenes Taschengeld, obwohl ich mir immer wieder sicher bin, dass die Mutter oder der Vater es zahlen würden. Denn sie alle strahlen etwas Wundervolles aus.

Noch während dieser Mann von seiner Großmutter erzählte, griff ich nach einem schlichten, aber eleganten Gesteck. Er hatte mir berichtet, dass das eine extra Firma übernehmen würde, doch wollte er selbst etwas mitbringen.

Er betrachtete das, was ich ausgesucht hatte und zog die Augenbrauen zusammen.

»Es fehlt noch was, einen Augenblick bitte«, sagte ich und verschwand kurz hinten im Lager.

Ein Ort voller Dekoration, Blumen und Pflanzen. Im Lager geschieht und geschah die eigentliche Magie. Dieser Blumenladen hatte mich vom ersten Moment an verzaubert und viele Kunden ebenfalls.

Wenn Frau Hops im Lager etwas kreierte, dann schien es wirklich, als würde sie zaubern, so magisch wirkte es.

Ich kam mit einer zierlichen Elfe zurück, die ein Herz in der einen und eine weiße Rose in der anderen Hand hielt. Die Elfe selbst war in einem schlichten Beige gehalten. Ich setzte sie in die Mitte des Gestecks und blickte zu dem Mann auf.

»Das ist bezaubernd. Danke«, sagte er und ich glaubte, eine Träne wahrgenommen zu haben. Er atmete tief durch und ging direkt zur Kasse, zahlte und bedankte sich noch einmal.

»Ihre Großmutter«, sagte ich, bevor er die Türklinke drückte, »kann stolz auf Sie sein.« Irritiert blickte er mich an und lächelte zaghaft. Warum ich das gesagt habe, wusste ich nicht. Normalerweise sagt man so etwas wie »Mein Beileid« oder »Das tut mir sehr leid«, aber manchmal genügen solche Floskeln einfach nicht und man braucht andere Worte des Trosts.

Lange konnte ich nicht darüber nachdenken, denn eine verweinte Frau betrat den Laden und blickte sich verwirrt um.

»Ist Frau Hops denn nicht da?«, fragte sie und zog ihre Nase dabei etwas hoch.

»Tut mir leid, sie ist verreist. Aber ich kann auch gut zuhören.«

Sie betrachtete mich etwas abschätzig. Meine 1.60 Meter (mittlerweile bin ich acht Zentimeter größer) sprachen nicht sonderlich für mich. Meine schulterlangen schokoladenbraunen Haare hatte ich an diesem Tag nicht so gut unter Kontrolle bringen können, auch wenn sie glatt sind, so konnte ich sie manchmal nicht in Form halten und nicht mal ein Zopf half dann.

Die Luftfeuchtigkeit im Laden hatte etwas damit zu tun.

Sehr lange habe ich nach einer wirklich guten Pflege gesucht. Mittlerweile macht es meinem Haar nichts mehr aus.

Ich reichte der jungen Frau erst einmal eine Packung Taschentücher und führte sie zur Bank. Auch ihr bot ich Tee an, dieses Mal aber Melisse und hörte ihr geduldig zu, während sie doch anfing zu sprechen.

Unter Tränen erzählte sie: »Meine Großmutter ist vor wenigen Tagen verstorben, mein Job ist weg und mein Freund hat mich verlassen und ich musste ausziehen.« Sie schnäuzte ins Taschentuch und ich nahm an, dass sie mit dem jungen Mann von vorhin verwandt sein musste. »Meine ganze Welt ist innerhalb weniger Tagen zerbrochen.«

Schon wieder konnte sie keinen Job oder Freund längere Zeit halten und sie glaubte, ihre Großmutter enttäuscht zu haben.

»Was möchten Sie?«, fragte ich, nachdem sie geendet hatte. Irritiert blickte sie zu mir. »Sie haben mir erzählt, dass Sie immer nur Jobs haben, damit sie Geld verdienen können – was natürlich auch wichtig ist … – aber wenn Sie die Wahl hätten, was würden Sie gerne arbeiten?«

»Darüber hab ich noch nie nachgedacht«, sagte sie ehrlich und doch nachdenklich. Die junge Frau hatte langes blondes Haar, trug ein fliederfarbenes Kostüm, was sie älter aussehen ließ und schwarze Pumps. Sie schien sich nicht wohl in ihrer Haut zu fühlen und ich denke, sie passte sich nur ihrer Umgebung an. Sie fuhr sich durch ihr langes Haar und ich konnte ein kleines Tattoo hinter ihrem rechten Ohr erkennen, was meine Einschätzung bestätigte.

»Wo wohnen Sie denn, nachdem Sie aus der Wohnung Ihres Freundes gezogen sind?«

»Bei meinem Bruder«, gab sie zu. »Er hat so viel um die Ohren und doch ist er für mich da. Er kümmert sich um die Trauerfeier, musst du wissen und hat dazu noch einen schwierigen Job und … ach, ich weiß nicht mal, wann der Junge überhaupt mal schläft. Er mag Pflanzen und Blumen und ich möchte ihm etwas Besonderes schenken.«

Ich wollte gerade eine bestimmte Blume ansteuern, als mir bewusst wurde, dass sie wahrscheinlich nicht so viel Geld haben würde, nach allem, was ihr passiert war. Ich musste kurz innehalten und nachdenken.

»Warten Sie kurz, ich habe, glaube ich, die richtige Blume für Sie«, sagte ich und ging ins Lager.

»Eine Hyazinthe?«, fragte sie kurz darauf. Der Duft war dezent süß, nicht so aufdringlich wie viele andere dieser Sorte, weshalb wir sie auch bei uns im Laden aufbewahren können.

Am Vormittag hatte ich etwas neu arrangiert und mich ein wenig ausgetobt, aber traute mich nicht, sie in den Laden zu stellen. Sie war chaotisch und doch strahlte sie etwas ungewöhnlich Beruhigendes aus. Ich benutzte verschiedene Farben, die alle aber irgendwie stimmig wirkten, und machte ein paar weiße Steine und schwarze Kugeln dazu. In die Erde hatte ich einige Kieselsteine gelegt, damit sie locker blieb und keine Staunässe entstehen konnte.

»Ich weiß, was Sie denken. Aber die Hyazinthe, das hatte mir Frau Hops erzählt, steht für Vertrauen und Wohlwollen«, sagte ich schulterzuckend. »Ich würde Sie Ihnen gerne schenken.«

»Schenken? Wieso? Weil ich keinen Job mehr habe?«, ihre Stimme wurde etwas heller und sie schien empört. Oje. »Sie wollen Ihrem Bruder eine Freude machen, oder?« Sie nickte. »Na, gut … Wenn ich ehrlich bin … Ich hab das heute Morgen selbst zusammengesteckt und na ja, ich bin mir nicht sicher, ob die Ladeninhaberin, obwohl sie die wundervollste Frau ist, die ich kenne, das so gut findet. Ich kann es hier nicht mehr verkaufen, aber irgendwie fände ich es schade, wenn ich es zerstören müsste. Verstehen Sie?« Irritiert nickte sie erneut. »Vermeiden Sie Staunässe und sie mag es sonnig. Ansonsten nicht austrocknen lassen.«

Ich drückte ihr den Topf in die Hand und lächelte ihr freundlich zu.

»Sie sieht sehr schön aus, ich mag die blassrosa Farbe. Und ich darf sie wirklich einfach mitnehmen?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Frau Hops hätte nichts dagegen. Sie macht es selbst gelegentlich, wenn niemand hinschaut und nur bei Kunden, die eine Traurigkeit ausstrahlen, die wirklich erdrückend wirkt. Glauben Sie nicht, ich würde das bei jedem machen.

Aber ich denke, Sie können eine kleine Aufmunterung gut gebrauchen. Es ist nicht alles schlecht, wissen Sie? Manchmal werden wir von den Menschen um uns herum überrascht.« Erneut liefen ihr die Tränen, dabei waren sie gerade dabei zu trocknen. »Hab ich was Falsches gesagt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich bin mir sicher, Frau Hops ist sehr stolz auf dich.«

»Sie kennen sie gut?«

»Ja, sie … ich bin schon als Kind gerne hier gewesen und obwohl ich weiter weg wohne, komme ich trotzdem ab und zu her.«

»Ja, sie hat etwas, was man nicht so leicht vergisst, oder? Eine Ausstrahlung und Art, die jeden im Raum sofort für sich gewinnen lässt und alles zum Strahlen bringt.«

Nachdem ich das gesagt hatte, ging die Tür auf und meine Mutter kam herein.

»Liebling, ist alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich besorgt.

»Ja, natürlich Mum. Wieso?«

»Es ist schon nach halb acht. Ich habe mir Sorgen gemacht.« Erschrocken drehten wir uns gleichzeitig zur Wanduhr hinter der Kasse um.

»Tut mir leid, ich mache hier noch schnell fertig, dann komme ich.«

»Gut, ich sehe schon, du hast alles im Griff. Abendessen ist dann fertig«, sagte sie und ging wieder in unsere Wohnung.

»Entschuldige, ich wollte dich nicht so lange aufhalten.«

»Haben Sie nicht. Wenn man sich nicht mehr Zeit für seine Mitmenschen nehmen kann, dann verliert man sich am Ende selbst irgendwann.«

Sie lächelte, hielt den Topf mit der einen und drückte meinen Arm mit der anderen Hand.

»Danke, ich weiß das wirklich zu schätzen.«

»Wissen Sie, vielleicht überlegen Sie sich einfach mal ganz genau, was sie wirklich wollen. Sie können doch bestimmt eine Weile bei Ihrem Bruder bleiben, oder? Vielleicht finden Sie das, was Sie suchen.«

0,99 €
Genres und Tags
Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
271 S. 3 Illustrationen
ISBN:
9783752923766
Verleger:
Rechteinhaber:
Bookwire
Download-Format:
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Erste Buch in der Serie "Das Geheimnis des Stiftes"
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