Stille im Zimmer nebenan

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Stille im Zimmer nebenan
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Janina Hoffmann

Stille im Zimmer nebenan

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Das Luftschloss

2. Das Spiel

3. Das Erwachen

4. Die Entfremdung

5. Das Verschwinden

6. Der Verdacht

7. Die Bedrohung

8. Die Wahrheit

Impressum neobooks

1. Das Luftschloss

Meine Mutter hielt sich immer für etwas Besseres. Nie war sie zufrieden mit dem, was sie hatte. Dadurch brachte sie meinen Vater und mich in die missliche Lage, in der wir uns noch heute befinden. Obwohl das eine harmlose Umschreibung für unsere Situation ist. Es ist ein tiefer Sumpf, in dem wir feststecken und aus dem wir uns nie wieder werden befreien können. Schuld daran ist allerdings auch mein Vater. Er hätte alles für meine Mutter getan. Zu was er ihr zuliebe bereit gewesen war, erfuhr ich erst Jahre später. Anschließend bereute ich, es herausgefunden zu haben. Ich wünschte, ich wüsste bis heute nicht, zu was meine eigenen Eltern fähig gewesen waren.

Dieses Motel zu kaufen, das sich als völlige Fehlinvestition entpuppte, war die Idee meiner Mutter gewesen. Als sie es sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, war sie nicht mehr davon abzubringen. Mein Vater versuchte es auch nur anfangs mit wenig Nachdruck - natürlich ohne Erfolg. Dann bemühte er sich, meiner Mutter ihren großen Traum zu erfüllen. Sicher trug mein Vater eine ständige Angst in sich, meine Mutter könnte ihn verlassen, wenn er ihren hohen Ansprüchen nicht genügte. Sie tat es dennoch, nur etwas mehr als zwei Jahre nach dem Kauf des Motels, in der Nacht vor meinem fünfzehnten Geburtstag. Ohne ein Wort des Abschieds.

Einen Teil der Verantwortung für die vergangenen Ereignisse trage ich selbst. Schließlich ahnte ich gleich, als dieses Pärchen vor einigen Monaten an der Rezeption auftauchte, dass mit den beiden etwas nicht stimmte. Ich hätte vorgeben sollen, wir seien ausgebucht, obwohl das Schild „Zimmer frei“ an der Landstraße vor dem Motel das Gegenteil behauptete. Ich hätte die beiden Fremden einfach fortschicken sollen, ganz egal, wie unhöflich das gewirkt hätte. Stattdessen gab ich dem Mann und der Frau eines der zehn Doppelzimmer, damit endlich wieder ein paar Mark in die Kasse kamen. Und obwohl es gar nicht ihre Absicht war, lüfteten die beiden Gäste schließlich das Geheimnis, das mein Vater all die Jahre mit sich herumgetragen hatte.

Ich denke viel über diesen Moment nach, in dem ich dem Paar den Zimmerschlüssel gab. Doch wie ich es auch drehe und wende: Ich werde das, was ich nun weiß, nie wieder aus meinem Gedächtnis löschen können.

Seit dem Kauf des Motels ist mein Vater psychisch labil. Vielleicht war er es vorher auch schon, und es fiel nur niemandem auf. Wiederholt war er wegen seiner paranoiden Schübe, während derer er sich alle möglichen Bedrohungen einbildet, in psychiatrischer Behandlung. Die Therapien blieben stets ohne Erfolg, nicht zuletzt, weil mein Vater die Medikamente, die ihm verschrieben worden waren, nie lange einnahm. Er setzte sie ohne Absprache mit dem jeweiligen Psychiater einfach ab, weil er davon erst recht verrückt im Kopf werde, wie er es ausdrückte. Danach wollte er dann immer für Monate und Jahre nichts mehr von ärztlicher Hilfe wissen, bevor er sich wegen seiner Stimmungsschwankungen und der schlimmen Wahnvorstellungen, die er für real hielt, erneut in eine erfolglose Behandlung begab.

„Wenn du gehst, hänge ich mich auf“, hat mir mein Vater schon des Öfteren gedroht. „Den passenden Balken auf dem Dachboden habe ich mir schon ausgesucht. Du weißt genau, dass ich es ernst meine.“

Ja, das weiß ich allerdings. Das sind keine leeren Worte. Er würde das wirklich tun. Daher kann ich meinen Vater nicht verlassen, obwohl ich inzwischen dreißig Jahre alt bin. Ich werde bei ihm bleiben, auch wenn ich ihn für das, was er getan hat, verabscheue. Und mich selbst, weil ich ihn nicht der Polizei ausliefere.

Wie verbringen Besitzer eines Motels, in dem kaum noch ein Gast übernachtet, den Tag? Was bleibt zu tun, wenn das Frühstück in dem Imbiss, der sich ebenfalls auf dem Motelgelände befindet, serviert ist und die wenigen belegten Zimmer gereinigt sind? Wie soll ich die Zeit an der Rezeption totschlagen, während mein Vater in dem kleinen Laden, der Reiseartikel führt, zunächst vergeblich auf Kunden wartet und mir nachmittags im Foyer meist schweigend Gesellschaft leistet? In letzter Zeit setze ich mich gewöhnlich in das hinter der Rezeption befindliche kleine Büro an den Schreibtisch und rauche. Mein Vater will nicht, dass ich mich hier aufhalte. Er hätte das Büro am liebsten wie früher ganz für sich allein. Wenn er wüsste, wie egal mir das ist. Er kann froh sein, dass ich überhaupt noch hier bin. Der Gestank des Zigarettenrauchs ist ihm zuwider. Seltsam, wenn Gäste im Imbiss rauchen, stört ihn das nicht. Doch ich habe keine Lust, mit meinem Vater zu diskutieren. Stattdessen öffne ich stets das Fenster hinter dem Schreibtisch, egal bei welchem Wetter. Es gibt in diesem Raum für mich nichts zu tun. Ich könnte die Buchhaltung machen oder die Rechnungen für die wenigen Gäste schreiben, doch das habe ich noch nie getan. Mein Vater gab mir jahrelang keine Chance, Einblick in die Finanzen des Motels zu erlangen. Inzwischen habe ich herausgefunden, was er dadurch vor mir verbergen wollte. Soll er sich ruhig weiter allein um die Buchhaltung kümmern. Ich habe kein Interesse mehr daran.

Ich sitze in dem schon etwas ramponierten braunen Lederschreibtischstuhl mit den gepolsterten Armlehnen und der hohen Rückenlehne und sehe dem aufsteigenden Zigarettenrauch zu. Irgendwann schließe ich dann meistens die Augen und denke an alles Mögliche. Wenn meine Mutter noch hier wäre. Wenn mein Ex-Verlobter sich nicht als Vollidiot erwiesen hätte. Wenn meine Eltern nie dieses verdammte Motel gekauft hätten. Dann würden wir heute sicher noch in der Großstadt leben, in der ich den ersten Teil meiner Kindheit verbrachte. Rückblickend betrachtet waren das die besten Jahre meines Lebens, und die damaligen Probleme waren klein im Vergleich zu den jetzigen.

Meine Eltern arbeiteten damals in einem gut besuchten Hotel in der Nähe des Hauptbahnhofs. Bekannten gegenüber stellte meine Mutter ihren Arbeitsplatz gern als Grandhotel dar, doch das war es nicht. Es war ein ganz gewöhnliches Hotel der mittleren Preisklasse, in dem hauptsächlich Touristen kamen und gingen. Meine Mutter war an der Rezeption tätig. Sie hasste ihren Arbeitsplatz, hauptsächlich wegen des aus ihrer Sicht aufdringlichen Hoteldirektors Gustav Greif, der ihr „ständig an die Wäsche wollte“, wie sie es nannte. Allerdings suchte sie sich dennoch keine andere Anstellung, denn das Hotel bot ihr einige Freiheiten, die meine Mutter schamlos ausnutzte. So blätterte sie an ihrem Arbeitsplatz in ruhigen Momenten heimlich in den Zeitschriften, die in der Empfangshalle für Gäste ausgelegt waren, und las sich die Skandalgeschichten über Prominente durch, die meine Mutter allesamt schon deshalb bewunderte, weil sie viel Geld hatten, zumindest mehr als meine Eltern. Wenn sie ein Bericht besonders faszinierte, riss sie ihn heraus und nahm ihn mit, um ihn sich zu Hause immer wieder durchzulesen und meinem Vater zu zeigen, der jedes Mal sowohl angewidert als auch beeindruckt von der Dreistigkeit meiner Mutter war. Manchmal ließ sie auch gleich die ganze Zeitschrift mitgehen. Zudem telefonierte sie wiederholt während ihrer Arbeitszeit, wenn an der Rezeption gerade nichts zu tun war, mit ihren ehemaligen Schulfreundinnen, die inzwischen fortgezogen und Hausfrauen waren, und erzählte ihnen von ihrer eigenen anspruchsvollen Tätigkeit in dem Grandhotel. Ich wusste von diesen Dingen, weil es deswegen zwischen meinen Eltern zu Hause des Öfteren Streit gab. Sie diskutierten darüber spätabends in der Küche, wenn sie glaubten, ich schliefe. Tatsächlich stand ich im Flur und lauschte. Mein Vater fand es leichtsinnig von meiner Mutter, ihren Arbeitsplatz für seiner Ansicht nach dämliche und überflüssige Telefonate und Zeitschriften aufs Spiel zu setzen. Meine Mutter ließ das völlig kalt. „Duckmäuser“ und „Spießer“ zählten noch zu den harmlosen Ausdrücken, die sie ihm dann an den Kopf warf. „Als ob das dem Hotel wehtut!“, rechtfertigte sie sich gegenüber meinem Vater. „Du bist so ein kleinlicher Moralapostel! Wenn ich schon sehe, wie du vor dem Greif herumkriechst, wird mir speiübel!“

„Nicht so laut, Yvonne. Du weckst Susi noch auf“, versuchte mein Vater dann, meine Mutter zu beschwichtigen. „Herr Greif ist nun einmal unser Chef“, argumentierte er weiter. „Ich verhalte mich ihm gegenüber nur höflich. Dass du ihn nicht magst, ist keine Entschuldigung für das, was du unerlaubterweise während deiner Arbeitszeit tust.“

„‚Höflich‘!“, höhnte meine Mutter. „Bist du mir jemals zur Hilfe gekommen, wenn er an mir herumgetatscht hat? Nein! Du verkriechst dich lieber im Restaurant und tust so, als ginge dich das nichts an!“

 

„Du weißt, dass das nicht stimmt“, widersprach mein Vater ruhig. „Ich habe ehrlich gesagt noch nie erlebt, dass sich Herr Greif unkorrekt verhalten hat. Außerdem gibt es im Restaurant immer so viel zu tun, dass mir gar nicht die Zeit bleibt, ihm hinterherzuspionieren.“

„Alles klar“, stellte meine Mutter bitter fest. „Mein eigener Mann ist zu beschäftigt, um sich für mich einzusetzen.“ Einen Moment später lachte sie plötzlich heiter. „Weißt du, wie viel ich heute an Trinkgeld eingenommen habe?“

„Oh nein“, stöhnte mein Vater. „Du hast es nicht schon wieder getan.“

Mit „es“ meinte mein Vater die Tatsache, dass meine Mutter die an der Garderobe zwischen der Rezeption und dem Eingang zum Restaurant von Gästen aufgehängten Mäntel und Jacken gern in einem unbeobachteten Moment nach Bargeld durchsuchte, von dem sie dann einen Teil einsteckte. Sie achtete immer darauf, so wenig zu stehlen, dass der Verlust so schnell niemandem auffallen und sie somit nicht damit in Verbindung gebracht werden würde. Diesen Diebstahl bezeichnete sie dann als das ihr zustehende Trinkgeld, von dem sie an der Rezeption viel weniger bekam als zum Beispiel mein Vater als Kellner im Restaurant, und gleichzeitig Schmerzensgeld, weil sie einen so widerlichen Chef ertragen musste.

„Die Leute sind doch selbst schuld, wenn sie ihr Geld unbeaufsichtigt in ihren Jacken lassen“, rechtfertigte sich meine Mutter. „Dummheit muss bestraft werden.“

„Sie gehen wahrscheinlich davon aus, dass niemand so dreist wäre, ihre Sachen an der Garderobe zu durchsuchen“, lautete die Ansicht meines Vaters. „Sie halten das Hotel für einen seriösen Ort.“

Seine Meinung interessierte meine Mutter nicht. „Das ist ihr Problem, nicht meines. Tu doch nicht so, als könnten wir das Geld nicht gut gebrauchen. Susi braucht demnächst wieder neue Schuhe. Und ab und zu würde ich auch gern ein wenig für mich selbst ausgeben.“

Damit untertrieb meine Mutter maßlos. Denn in Wirklichkeit gab sie das meiste, was sie verdiente, für sich selbst aus. Sie war ein Mensch, der nicht mit Geld umgehen konnte und alles, was da war, sofort ausgeben musste. Sie musste einfach alles kaufen, was sie sah, und vor allem das, was andere hatten, auch wenn sie schon kurze Zeit später die Freude daran verlor. Wäre mein Vater nicht gewesen, wären wir wegen ihrer Verschwendungssucht sicher schon auf der Straße gelandet. Das Thema Finanzen war zwischen meinen Eltern leider immer wieder ein Streitpunkt.

„Du wirst deswegen noch eines Tages gefeuert“, prophezeite mein Vater. „Ist es das wirklich wert?“

„Natürlich ist es das wert!“, gab sich meine Mutter selbstsicher. „Überleg nur mal, wie viel ich so dazuverdient habe! Und wenn ich gefeuert werde, muss sich der Greif, dieser perverse Grabscher, ein anderes Opfer suchen, das er ausnutzen kann. Das wird er sich zweimal überlegen. Es lohnt sich auch nicht, darüber weiter zu diskutieren. Ich werde sowieso nicht erwischt.“

Kennengelernt hatten sich meine Eltern Ende der 1960er Jahre in der Großstadt in einer Bar, in der meine Mutter als Bedienung arbeitete, obwohl Auguste, die Mutter meines Vaters, immer abfällig behauptete, meine Mutter sei dort als Animierdame tätig gewesen und habe ihren ambitionierten Sohn vom rechten Weg abgebracht. Mein Vater studierte, als er meiner Mutter begegnete, Medizin und sollte die Praxis seines Vaters in seiner Heimatstadt, einem Vorort der Großstadt, übernehmen. Mit ihrem rotblonden, dicken, kinnlangen Haar, ihren blassblauen Augen und ihrer hellen, von Sommersprossen übersäten Haut hatte es meine große, schlanke Mutter meinem Vater wohl sofort angetan. Leider – das betonte meine Mutter auch in meiner Anwesenheit später immer wieder – wurde sie bald schwanger. Meine Eltern heirateten 1970 nur ein paar Wochen, bevor ich auf die Welt kam, und zogen in ein günstiges, aber hässlich graues Hochhaus, in dem wir jahrelang lebten. Mein Vater gab sein Studium auf – er bekräftigte mir gegenüber wiederholt, es habe ihm sowieso nicht viel daran gelegen – und nahm eine Anstellung als Kellner in dem Restaurant des Hotels an, in dem später auch meine Mutter zunächst als Serviererin und nach ein paar Jahren als Rezeptionistin arbeitete. Diese großzügige Beförderung hatte sie übrigens ihrem Vorgesetzten Gustav Greif zu verdanken.

Solange ich zurückdenken kann, waren unregelmäßige Arbeitszeiten und zahlreiche Überstunden für meine Eltern nichts Ungewöhnliches. Sie hatten nur wenig Zeit, sich um mich zu kümmern. Zunächst arbeitete meine Mutter noch halbtags, während ich im Kindergarten untergebracht war. Als ich in die Schule kam, stockte meine Mutter ihre Arbeitszeit auf, und ich verbrachte die Nachmittage und oft auch die Abende bei meiner Oma Tilly, der Mutter meiner Mutter, die ein kleines Reihenhaus mit einem überschaubaren Garten, in dem sie ausschließlich ihr eigenes Gemüse anbaute, am Rand der Großstadt besaß.

Tilly war eine Kurzform von Mathilde, doch ich kannte niemanden, der meine Großmutter so nannte. Sie war eine kleine, dicke Frau mit spärlichem, oft fettigem grauem Haar, durch das ihre Kopfhaut hindurchschimmerte. Über ihrer Kleidung trug sie immer eine ihrer bunt gemusterten Kittelschürzen. Das sei sie so gewohnt, erklärte sie mir einmal, da sie schon als Kind in der Schlachterei ihrer Eltern ordentlich habe mit anpacken müssen und später in dem kleinen Lebensmittelgeschäft ihres Mannes, der früh verstorben war. Stets haftete Oma Tilly ein mal leichter, mal schwerer Schweißgeruch an, was wohl daran lag, dass sie sehr sparsam war und weder sich selbst noch ihre Kleidung öfter wusch als unbedingt notwendig.

Bei meiner Großmutter lebte ein sehr scheuer, grau getigerter Kater namens Larry, der sofort unter das Sofa flüchtete, wenn Fremde, mich eingeschlossen, in der Wohnung waren. Oma Tilly behauptete, der Kater sei ihr eines Tages zugelaufen. Anfangs versuchte ich noch, Larry mit Leckerbissen und schmeichelnden Worten unter dem Sofa hervorzulocken, jedoch ohne Erfolg. Ich hatte vielmehr den Eindruck, dass er noch näher an die Wand rückte, wenn ich vor dem Sofa hockte. Irgendwann ließ ich es frustriert sein. Ich war richtig böse auf den Kater. „Wie kann Larry dir zugelaufen sein, wenn er so scheu ist?“, fragte ich meine Großmutter ärgerlich.

„Er hatte eben ein Gespür dafür, wem er vertrauen kann“, lautete Oma Tillys Antwort. „Wir beide haben uns sofort verstanden. Du kannst deine Bemühungen um ihn ruhig aufgeben, Susi. Er wird nicht zu dir kommen. Nimm‘s nicht persönlich. Und jetzt komm, lass uns essen.“

Die Kochkünste meiner Großmutter hielten sich in Grenzen, unter anderem weil sie auch bei Lebensmitteln darauf achtete, möglichst wenig Geld auszugeben. Meistens gab es einfache Gerichte wie Kohl, Bratkartoffeln mit Spiegelei oder Pfannkuchen. Wenn wir zusammen in der kleinen Küche am Tisch saßen und aßen, füllte Oma Tilly immer weniger auf ihren Teller als auf meinen. Sie müsse dringend abnehmen, erklärte sie mir. Sie glaubte wohl, ich bemerkte es nicht, wenn sie nachmittags, während ich am Küchentisch meine Schularbeiten machte, heimlich im Wohnzimmer Süßigkeiten oder Kartoffelchips futterte.

Das Beste an meinen Aufenthalten bei Oma Tilly waren die Fernsehabende. Es kam vor, dass ich aufgrund der Arbeitszeit meiner Eltern bei meiner Großmutter übernachtete. Bevor der Film begann, nahm Oma Tilly eine Tafel Schokolade aus dem Wohnzimmerschrank und zählte zwei Stück für sich ab, die sie sorgfältig auf eine Stoffserviette vor sich auf den Wohnzimmertisch legte, während Larry mit halb geschlossenen Augen unter dem Sofa hockte. „Die müssen für heute reichen“, teilte sie mir dann immer voller Überzeugung mit und drückte mir die Schokolade in die Hand, damit ich mir davon so viel nahm, wie ich wollte.

Meistens hatte ich keinen großen Appetit auf die Süßigkeiten meiner Großmutter und legte sie, bevor ich mich auf meinen Fernsehsessel setzte, zurück in den Schrank, denn es war abgelaufene und daher wenig schmackhafte Ware, die Oma Tilly irgendwo zum halben Preis oder umsonst erstanden hatte.

Gewöhnlich handelte es sich bei den abendlichen Filmen um harmloses Geplänkel, das ich mir zwar ansah, mich jedoch nicht wirklich fesselte. Meine Großmutter verfolgte das Geschehen auf dem Bildschirm mit großem Interesse, schlief aber trotzdem früher oder später ein und kippte auf dem Sofa leicht schnarchend zur Seite. Dann war mein Moment gekommen. Oma Tilly hatte nämlich zum sechzigsten Geburtstag von meiner Tante einen Videorekorder geschenkt bekommen – 1980 eine sehr moderne technische Errungenschaft. Meine Großmutter hätte für so etwas niemals Geld ausgegeben. Sie beklagte sich auch hin und wieder über das nutzlose, wenn auch gut gemeinte Geschenk, da sie keine Videokassetten besaß und auch nicht beabsichtigte, sich welche anzuschaffen. Ich hingegen wusste mit dem Gerät sofort etwas anzufangen. Der Vater meines Mitschülers Marco besaß nämlich eine Videothek, und Marco brüstete sich ständig damit, dass er an alle Filme komme. Eigentlich hielt ich ihn für einen Vollidioten, weil er im Unterricht die einfachsten Dinge nicht kapierte, was er durch freche Sprüche zu kaschieren versuchte. Aber gegen ein paar Mark besorgte er mir zuverlässig die gruseligsten Filme, die erst ab sechzehn Jahren freigegeben waren, so dass ich ihn schließlich doch ganz sympathisch fand und wir, wenn auch keine Freunde, zumindest Komplizen wurden.

Ich nahm eine von Marco beschaffte Videokassette aus meiner Schultasche und legte sie in den Videorekorder. Den Ton stellte ich extra leise, um Oma Tilly nicht zu wecken. Die grauenhaften Bilder waren auch so unheimlich genug. Leider schaffte ich es nie, einen Videofilm vollständig am Stück zu sehen, da meine Großmutter gewöhnlich gegen 22:00 Uhr wieder wach wurde. Vorher hatte ich den Fernseher dann schon immer ausgeschaltet.

„Bist du denn noch gar nicht im Bett, Susi?“, wunderte sich meine Großmutter, während sie sich mühsam auf dem Sofa wieder aufrichtete.

„Wollte gerade gehen“, behauptete ich.

„Nun bin ich schon wieder eingeschlafen!“, warf sich Oma Tilly vor. „Dann komme ich gleich im Bett wieder nicht zur Ruhe! Wie ist der Film denn nun ausgegangen?“

Da ich keine Ahnung hatte, erfand ich eine etwas haarsträubende Handlung.

„Was, so ein Blödsinn war das?“, wunderte sich meine gutgläubige Großmutter. „Dabei war der Anfang doch ganz vernünftig.“

Es gab in der Wohnung meiner Großmutter kein Extrazimmer für mich, und so schlief ich mit in ihrem Ehebett, das sie vor Jahrzehnten mit meinem Großvater geteilt hatte. Oma Tillys Sorge wegen möglicher Schlaflosigkeit war unbegründet. Sie schnarchte schon, während mir neben ihr noch die schrecklichen Bilder des Videofilms durch den Kopf gingen.

Am nächsten Tag war ich dadurch übermüdet, worunter meine schulischen Leistungen litten. Bald waren meine Zensuren auch nicht mehr viel besser als die von Marco. Des Öfteren wurden meine Eltern in der Folgezeit von meinen Lehrern auf meinen Leistungsabfall angesprochen.

„Dann können wir Susi auch allein zu Hause lassen, wenn du so wenig auf sie aufpasst!“, schimpfte meine Mutter mit meiner Großmutter in deren Küche, als sie mich eines späten Nachmittags abholte. „Und wie du wieder aussiehst! Kannst du dir nicht öfter die Haare waschen? Ich könnte mich für dich in Grund und Boden schämen!“

Oma Tilly ließ die zornigen Worte meiner Mutter schweigend über sich ergehen. Es war nicht das erste Mal, dass meine Mutter gegenüber meiner Großmutter die Beherrschung verlor, und auch nicht das erste Mal, dass sie deutlich machte, wie peinlich ihr ihre eigene Mutter war. Ein einziges Mal hatten Oma Tilly und ich meine Mutter an deren Geburtstag im Hotel bei der Arbeit überraschen wollen. Ich war damals acht Jahre alt. Oma Tilly fuhr zu der Zeit noch mit Bahn und Bus durch die halbe Stadt, um mich von der Schule abzuholen. Doch schon ein Jahr später machte ich mich nach Schulschluss mit öffentlichen Verkehrsmitteln allein auf den Weg zu ihr. Meine Mutter war bereits am frühen Morgen sehr wütend gewesen, weil sie, obwohl sie ausdrücklich darum gebeten hatte, keinen freien Tag bekommen hatte. Dabei war es ein besonderer Geburtstag: ihr dreißigster. In der Küche hörte ich sie gegenüber meinem Vater laut darüber nachdenken, sich krankzumelden. Seine beruhigenden Worte hielten sie zwar davon ab, jedoch knallte sie beim Verlassen der Wohnung dermaßen die Tür zu, dass ich in meinem Bett zusammenzuckte. Mein Vater machte mir ein schnelles Frühstück und die üblichen unbeholfenen Schulbrote, bevor er kurz vor mir das Haus verließ und ebenfalls zur Arbeit aufbrach. Auf dem Weg zur Bushaltestelle dachte ich darüber nach, was ich tun könnte, um meine Mutter wieder fröhlich zu stimmen. Es war schließlich ihr Geburtstag. Da sollte jeder fröhlich sein. Als mich Oma Tilly am Nachmittag in ihrer Kittelschürze von der Schule abholte, erzählte ich ihr von der Enttäuschung meiner Mutter über die Verweigerung ihres freien Tages und meiner Idee, sie im Hotel mit einem Blumenstrauß zu überraschen. Zwar hatte ich als Geburtstagsgeschenk bereits eine kleine bunte Pappschachtel gebastelt, in der meine Mutter ihren Schmuck unterbringen könnte, doch schien mir das auf einmal nicht mehr genug zu sein. Es war ein warmer Frühlingstag, und Oma Tilly hatte sich beeilen müssen, da sie bei einem Schwätzchen mit ihrer Nachbarin völlig die Zeit vergessen hatte. Ihre kurzärmelige hellblaue Bluse, die sie unter der Schürze trug, wies unter ihren Achseln riesige Schweißflecken auf, und ihr verschwitztes Haar klebte ihr am Kopf. Auch roch sie an diesem Tag besonders penetrant. Um ehrlich zu sein, stank sie geradezu.

 

„Das Hotel ist doch nicht weit von hier entfernt“, versuchte ich, meine Großmutter zu überreden. „Und ein Blumengeschäft finden wir bestimmt auch.“

Oma Tilly willigte zwar schnell in meinen Plan ein und war sogar bereit, den Strauß zu bezahlen, da das bisschen Kleingeld, das ich bei mir hatte, bei Weitem nicht dafür reichen würde. Das Finden eines Blumengeschäfts gestaltete sich allerdings schwieriger als erwartet. Mehrere Passanten mussten wir fragen und einige Stationen mit dem Bus hin und her fahren, bevor sich endlich eine Wegbeschreibung als korrekt herausstellte.

Die rotwangige Verkäuferin in dem Geschäft rümpfte leicht die Nase, als wir den Laden betraten. Vielleicht lag das am Duft der Blumen, die sie gerade band. Wahrscheinlicher war jedoch, dass sie den intensiven Schweißgeruch, der von meiner Großmutter ausging, bemerkt hatte.

Ich suchte einen extragroßen, farbenfrohen Strauß aus. Oma Tilly war von dem Preis etwas schockiert, ließ die Blumen jedoch trotzdem in Papier einwickeln und bezahlte. Vermutlich merkte sie, wie wichtig mir das Geschenk für meine Mutter war. Mit schwitzigen Händen übergab meine Großmutter den Strauß an mich, und ich trug ihn stolz aus dem Geschäft. Wir mussten erneut den Bus nehmen, um zurück in die Richtung zu gelangen, in der sich das Hotel befand, in dem meine Mutter arbeitete. Die ganze Zeit über achtete ich sorgfältig darauf, dass die Blumen nicht gedrückt wurden.

Als wir schließlich vor der gläsernen Doppeltür standen, die den Eingang des Hotels bildete, klopfte mein Herz einen Takt schneller. Das war das erste Mal, dass ich meine Mutter an ihrem Arbeitsplatz besuchte. Noch nie zuvor war ich in dem Hotel gewesen. Mein Blick fiel auf die goldenen Buchstaben über dem Eingang. „Jahreszeiten-Hotel“ stand dort. Ein Hotel für jede Jahreszeit. Das schien mir einleuchtend.

Die Glastür öffnete sich vor uns automatisch, als wir das Hotel betraten. Staunend sah ich mich in der Eingangshalle um. Eigentlich war es eher ein Eingangsraum, denn die mit hellbraunem Teppichboden ausgelegte Lobby war recht klein. Rechts vorne, direkt neben uns, gab es um zwei kleine Tische gruppierte Ledersitzmöbel, daneben ein Regal mit diversen Zeitschriften. Links führte eine Treppe nach oben und daneben ein Fahrstuhl für die, die nicht laufen wollten. In der Rückwand des Raums, neben dem Lift, befand sich der Eingang zum Restaurant, wie ein Schild unmissverständlich verdeutlichte. Rechts daneben gab es eine Garderobe, die, wohl wegen des warmen Wetters, fast leer war. Und daneben ... stand meine Mutter hinter einem rechtwinkligen Holztresen und sah meine Großmutter und mich mit vor Entsetzen geweiteten Augen an. Ansonsten war die Eingangshalle menschenleer. Bevor ich „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag“ rufen konnte, klappte meine Mutter den Tresen auf und schoss durch eine so an der Wand entstandene Lücke auf uns zu. „Was zum Teufel macht ihr hier?“, zischte sie meine Großmutter und mich an.

„Mama ...“, stammelte ich verunsichert und hielt den Strauß ein Stück höher. „Das hier ist für dich ... Zu deinem Geburtstag.“

Meine Mutter machte keine Anstalten, die Blumen an sich zu nehmen, und blickte verärgert zu Oma Tilly.

„Ja, auch von mir alles Gute, Yvonne“, ergänzte meine Großmutter etwas kleinlaut. Sie trat ein Stück vor – vermutlich, um meiner Mutter die Hand zu geben oder sie zu umarmen.

„Pfui, wie du stinkst!“, klagte meine Mutter angeekelt und trat einen Schritt zurück. Dann fügte sie leise hinzu: „Macht, dass ihr hier rauskommt!“

„Aber ... dein Geschenk, Mama“, versuchte ich es erneut und hielt meiner Mutter die Blumen entgegen.

„Raus hier, habe ich gesagt!“, flüsterte sie drohend.

„Gibt es Probleme?“, fragte plötzlich ein glatzköpfiger Mann, der die Lobby gerade durch den Aufzug betreten hatte.

„Nein, Herr Greif.“ Meine Mutter zwang sich zu einem Lächeln. „Die beiden haben sich nur nach dem Weg zum Krankenhaus erkundigt, wo sie jemanden besuchen wollen.“

„Tja“, wandte sich der Chef meiner Mutter mit einem leicht abfälligen Blick an Oma Tilly. „Wissen Sie denn nun, wo Sie lang müssen?“

„Ja ...“, begann meine Großmutter stotternd.

„Ja, das ist geklärt“, beeilte sich meine Mutter zu bestätigen. „Die beiden wollten gerade gehen.“

„Komm, Susi“, forderte mich Oma Tilly auf und griff mit ihrer klebrigen Hand nach meiner freien. Sie musste mich geradezu aus dem Hotel ziehen, während ich mich fassungslos nach meiner Mutter umsah, die uns jedoch nicht weiter beachtete, sondern zurück hinter den Tresen ging, wo sie einen Anruf entgegennahm.

Die für meine Mutter gedachten Blumen stellte Oma Tilly in einer Vase auf ihren Wohnzimmertisch, doch der Anblick machte mich nur noch trauriger, als ich es so schon war. Als mich meine Mutter abends abholte, erwähnte sie das Ereignis am Nachmittag mit keinem Wort. Bevor ich an diesem Abend zu Bett ging, zerriss ich die selbstgebastelte Pappschachtel, die ich meiner Mutter hatte schenken wollen, in kleine Fetzen.

Was meine Großmutter auch tat, meine Mutter ließ an Oma Tilly kein gutes Haar. „Das ist überhaupt nicht meine richtige Mutter!“, behauptete meine Mutter des Öfteren bei uns zu Hause, wenn meine Großmutter nicht anwesend war.

„Yvonne, sag so etwas doch nicht vor Susi“, versuchte mein Vater dann, sie zu beschwichtigen.

„Susi ist alt genug und kann die Wahrheit ruhig erfahren!“, regte sich meine Mutter weiter auf. „Diese Frau kann nicht meine leibliche Mutter sein! Ich habe mit ihr überhaupt nichts gemeinsam! Und ich sehe auch ganz anders aus als sie und Karin.“

Karin war die ältere Schwester meiner Mutter, die wie meine Großmutter klein und dick, allerdings gepflegter war. Sie hatte vor Jahrzehnten auf einem Schulausflug in einem kleinen Dorf ihren späteren Ehemann kennengelernt. Mit ihm bewirtschaftete sie dort nun einen Bauernhof – eine Tätigkeit, die meine Mutter verabscheute.

„Wo habe ich denn zum Beispiel diese rotblonden Haare her?“, wollte meine Mutter von meinem Vater wissen. „Kein Mensch in unserer Familie hat rotblonde Haare – bis auf Susi natürlich. Die hat sie zusammen mit der Sommersprossenhaut und den hellblauen Augen von mir geerbt. Aber ich? Von wem habe ich diese Haare? Oohh nein!“, schnitt meine Mutter meinem Vater das Wort ab, obwohl er gar nichts gesagt hatte, und zeigte drohend mit dem Zeigefinger auf ihn. „Behaupte jetzt bitte nicht, dass ich nur einen anderen Vater als meine Schwester habe, Günther! Behaupte das ja nicht! So eine ist meine Mutter nicht! Nein, ich muss direkt nach der Geburt vertauscht worden sein. Und irgendwo sitzt jetzt so ein kleiner schwarzhaariger Fettklops unter lauter Großen, Schlanken mit rotblondem Haar. Ja, genauso muss es sein!“

„Wie du meinst, Yvonne“, pflichtete mein Vater ihr bei – wohl hauptsächlich, um das Thema zu beenden.

Es gab nur eine Sache, die meine Großmutter in den Augen meiner Mutter richtig gemacht hatte – sie hatte ihr den zu der Zeit außergewöhnlichen Vornamen Yvonne gegeben, auf den meine Mutter sehr stolz war. „Das ist französisch“, pflegte sie stets hinzuzufügen, wenn jemand meine Mutter fragte, wie sie heiße.

Um meine Mutter aufzuziehen, sprach mein Vater oft das E am Ende ihres Namens mit aus, allerdings nur, wenn meine Mutter gute Laune hatte.