Sie war meine Königin

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Meine Schwester spielte also die heiratswillige Prinzessin und ich den Aristokraten, der aus einem fernen Land angereist war, um um ihre Hand anzuhalten. Dabei war es nicht damit getan, sie einfach zu fragen, ob sie mich heiraten wolle. Nein, erst einmal musste ich diverse Quizfragen beantworten, die meine Schwester auf ihrem Thron sitzend den Karten eines Gesellschaftsspiels entnahm und in würdevollem Tonfall verlas. Hatte ich zumindest einige der Fragen richtig beantwortet, musste ich der Prinzessin, um ihre vollständige Zuneigung zu erlangen, Geschenke machen. Das waren dann irgendwelche Sachen, die ich aus meinem Zimmer anschleppte und gegenüber der Prinzessin anpries, bis sie irgendwann endlich einwilligte, meine Frau zu werden, von ihrem Thron herabstieg und mich innig umarmte. Bis dahin konnte ein ganzer Nachmittag vergehen. Ich hasste dieses Spiel und war jedes Mal froh, wenn es wieder einmal überstanden war. Aber Melissas glücklicher Gesichtsausdruck, nachdem die Prinzessin endlich ihren Bräutigam gefunden hatte, verleitete mich dazu, mich stets aufs Neue dazu überreden zu lassen, den verliebten Aristokraten zu mimen.

Es konnte einige Tage dauern, bis meine Mutter ihr Tief überwunden hatte. Anschließend war sie dann geradezu euphorischer Stimmung und bestand darauf, gemeinsam mit Melissa und mir etwas Schönes zu unternehmen. Meistens fuhren wir dann, da meine Mutter keinen Führerschein besaß, mit dem Bus in die Stadt, streiften durch die Geschäfte und gaben jede Menge Geld aus. Meine Mutter investierte dabei gern in ihre Schönheit und erstand diverse Kosmetikartikel, während Melissa und ich uns Spielsachen aussuchen durften und manchmal auch komplett neu eingekleidet wurden.

An einem Tag zu Beginn der Sommerferien wollte meine Mutter einem gerade neu eröffneten Friseursalon gemeinsam mit meiner Schwester und mir einen Besuch abstatten. Normalerweise ließ sie sich in einem teuren Salon in der Großstadt frisieren, doch nun gab es seit einigen Wochen in unserem Vorort einen Salon mit dem Namen „Engelshaar“, und einige Mitglieder des Diskussionskreises, den meine Mutter besuchte, hatten bereits angekündigt, sich dort frisieren lassen zu wollen. Die Besitzerinnen des Friseursalons waren nach Auskunft der Diskussionskreismitglieder zwei italienische Schwestern, die angeblich ein bisher unbekanntes, modernes Flair verbreiten. Wer wie meine Mutter dem neuesten Trend folgte, musste also unbedingt Kundin im Salon „Engelshaar“ werden.

Melissa wollte, als sie von dem anstehenden Friseurbesuch erfuhr, zunächst nicht mitkommen. Sie hatte von allen Mädchen an der Schule nämlich die längsten Haare, und das sollte unbedingt so bleiben. Erst als unsere Mutter ihr versprach, dass nicht mehr als zwei Zentimeter abgeschnitten würden, willigte sie schließlich ein. Von meiner eigenen Haarlänge konnte ich durchaus mehr entbehren. Mein Schopf war inzwischen so lang, dass mir der Rundschnitt fast bis zu meinem Kinn reichte, was zu der Zeit langsam unmodern wurde. Leider hatte ich nicht nur die hellbraunen Augen, sondern auch den rotblonden Haarton von meiner Mutter geerbt. Letzterer brachte mir an der Schule den Spitznamen „Karottenkopf“ ein, was mich dermaßen störte, dass ich bereits ernsthaft darüber nachgedacht hatte, meine Mutter zu bitten, mir eine Haarfärbung zu spendieren. Vermutlich wegen meiner unliebsamen Naturhaarfarbe machte ich mir wie Melissa nicht viel aus Friseurbesuchen, weshalb mein Haarschnitt einen so vernachlässigten Eindruck machte. Außerdem war mir die durch die ständig laufenden Trockenhauben und Föhne stickige Luft im Friseursalon zuwider, genauso wie der Geruch nach Haarspray und Färbemitteln, der mich dort umgab. Dazu kam noch das angeregte Geschnatter der Kundinnen mit den Friseurinnen über die unwichtigsten Dinge, denn leider musste ich mit meiner Mutter einen Damensalon besuchen. Mein Vater nahm mich nämlich nie mit, wenn er sich die Haare kürzen ließ. Mein Haarschnitt war immer recht schnell erledigt, genauso wie der von Melissa, bei der sowieso nur die äußersten Spitzen fallen durften. Dafür dauerte es bei unserer Mutter umso länger. Sie ließ sich gern ausgiebig zu neuen Trends beraten, um letztlich bei ihrer derzeitigen Frisur und ihrer Naturhaarfarbe zu bleiben, während meine Schwester und ich bereits ungeduldig darauf warteten, endlich aufbrechen zu können. Zwischendurch nach draußen zu gehen, war Melissa und mir strengstens verboten, weil uns unsere Mutter stets im Blick behalten wollte. Dass sie uns noch wie Babys behandelte, war wirklich anstrengend.

An dem besagten Nachmittag Anfang der Sommerferien marschierte ich lustlos neben meiner Mutter und Melissa zu dem neuen Friseursalon „Engelshaar“, der einen etwa fünfzehnminütigen Fußweg entfernt von unserem Haus lag. Zumindest blieb mir die lange Busfahrt in die Stadt erspart. Wenn wir den bisherigen Lieblingssalon meiner Mutter besuchten, verging mit Hin- und Rückfahrt immer der ganze Nachmittag. Vielleicht würde ich so nachher noch Gelegenheit haben, meinen Freunden ausnahmsweise, wenn meine Mutter es erlaubte, beim Angeln an einem See Gesellschaft zu leisten, falls sich bei dem miesen Wetter dort heute überhaupt jemand aufhielt. Zum Baden war es sowieso zu kalt. Der Himmel war schon seit Tagen grau, und hin und wieder gab es einen kräftigen Regenschauer. Meine Mutter hatte sicherheitshalber einen kleinen Schirm in ihre Handtasche gesteckt. Dass Melissa und ich womöglich nass werden könnten, hätte sie wohl in Kauf genommen, doch fände sie es sehr ärgerlich, wenn ihre aufwendig geföhnten Haare durch den Niederschlag in Mitleidenschaft gezogen würden.

Der neu eröffnete Friseursalon sah von außen aus wie jeder andere auch. Neben der gläsernen Eingangstür gab es ein Schaufenster, in dem Haarpflegeprodukte sowie Perücken ausgestellt wurden und außerdem mehrere große Fotos hingen, die Köpfe von Fotomodellen mit den neuesten Frisurentrends zeigten. Über der Tür stand in gelber Leuchtbuchstabenschreibschrift das Wort „Engelshaar“. Was für ein dämlicher Name. Doch hatten das nicht viele Friseursalons?

Melissa und ich betraten nach unserer Mutter den Salon, in dem es angenehm warm und keineswegs stickig war. Ein zitronenartiger Duft lag in der Luft, der so anders war als der widerwärtige Chemiegeruch der Haarpflegemittel, den ich von anderen Friseurbesuchen gewohnt war. Eine junge Frau mit blondem Haar, das streng in der Mitte gescheitelt zu einem Zopf zusammengebunden war, stand in einem sonnengelben Kittel hinter dem Empfangstresen und lächelte uns an, bevor sie uns freundlich begrüßte. „Hallo. Herzlich willkommen.“ Es klang so, als hätte sie uns schon ewig voller Sehnsucht erwartet.

„Hallo“, erwiderte meine Mutter sachlich. „Marianne Hart. Ich hatte angerufen. Das sind meine Kinder Constantin und Melissa.“ Sie wies auf meine Schwester und mich.

Ich fand es seltsam, dass sie der Friseurin unsere Namen mitteilte. Was ging es sie an, wie die Kinder hießen, denen sie die Haare schnitt? Die Friseurin schien das nicht zu verwundern. „Hallo ihr zwei“, wandte sie sich an Melissa und mich. „Ich heiße Emily. Möchtet ihr einen Lolli?“ Emily zeigte auf einen bauchigen Glasbehälter, der auf dem Empfangstresen stand und bunt eingewickelte Lutscher enthielt.

„Nein, danke“, lehnte meine Mutter ab, bevor Melissa und ich den Mund aufmachen konnten. „Zucker macht dick und schadet den Zähnen.“

Emily ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. „Na ja, vielleicht später?“, lenkte sie ein und zwinkerte Melissa und mir zu. Mir fiel auf, dass sie so unnatürlich runde Brüste wie meine Mutter hatte. Vielleicht hatte sie denselben Schönheitschirurgen besucht. „Möchtet ihr ablegen?“ Sie wies einladend auf den Garderobenständer, der in einer Ecke stand und an dem schon einige Jacken untergebracht waren.

Ich sah dem pikierten Gesichtsausdruck meiner Mutter an, dass es ihr nicht passte, ungefragt geduzt zu werden. Dennoch antwortete sie höflich: „Gern.“ Sie zog ihren eleganten beigen Trenchcoat aus und Melissa und ich unsere Kordjacken, dasselbe Modell, nur war Melissas rot und meine dunkelblau. Unsere Mutter betonte gern durch ähnliche Kleidungsstücke die Tatsache, dass Melissa und ich fast gleichaltrige Geschwister waren. Wären wir gleichgeschlechtlich gewesen, hätte sie uns vermutlich wie eineiige Zwillinge völlig gleich angezogen.

„Dann kommt mal mit“, forderte uns Emily auf, nachdem unsere Jacken an der Garderobe untergebracht waren, und führte uns in den Raum nebenan, in dem zwei dunkelhaarige Friseurinnen damit beschäftigt waren, sich um vier bereits anwesende männliche und weibliche Kunden zu kümmern. Ein gemischter Salon. So etwas hatte ich noch nie gesehen und gefiel mir auf Anhieb. Endlich hatte ich nicht mehr das Gefühl, als Junge in einem Damensalon fehl am Platze zu sein. Vier weitere Friseurstühle auf der gegenüberliegenden Seite, die wie die übrigen vor einer Wand standen, deren obere Hälfte komplett verspiegelt war, waren noch frei. Emily lud uns mit einer Geste ein, am Fenster in der Sitzecke aus braunen Kunstledersesseln Platz zu nehmen, wo bereits ein junger Mann in einer Zeitschrift blätterte, die er vermutlich von dem niedrigen Tisch genommen hatte, auf dem alle möglichen Magazine wild durcheinanderlagen. „Macht es euch noch ein bisschen bequem“, schlug Emily uns vor. „Möchtet ihr etwas trinken? Wir haben einen vorzüglichen Espresso und für unsere kleinen Gäste Kakao.“

„Nein, danke“, lehnte meine Mutter in formellem Tonfall ab. Wer sie wie ich gut kannte, wusste, dass dieser Friseursalon aufgrund des vertrauten Umgangstons und der anwesenden Männer in ihren Augen noch vor dem ersten Einsatz der Schere bereits durchgefallen war.

„Okay“, gab Emily sich freundlich zufrieden. „Dann guckt euch doch ein bisschen den Lesestoff an. Es ist für jeden was dabei.“ Sie machte Melissa und mich auf ein Wandregal, das neben den Sesseln angebracht war, aufmerksam. „Hier gibt‛s auch etwas für unsere kleinen Gäste.“ Zu dem jungen Mann, vor dem auf der einzig noch freien Tischfläche eine leere Espressotasse samt Untertasse stand, sagte sie: „Deine Mutter ist sicher gleich fertig. Darf ich deine Tasse mitnehmen?“

 

Der junge Mann nickte, und Emily verschwand mit dem Geschirr zurück in den Empfangsraum.

Ich warf zusammen mit meiner Schwester einen Blick auf den Inhalt des Regals, während sich unsere Mutter setzte. „Wow, Astronauten-Comics!“, rief ich begeistert und hielt meiner Schwester eines der Hefte entgegen.

Melissa rümpfte nur ablehnend ihre Nase und nahm sich stattdessen ein Comic-Heft, das von Abenteuern auf einem Ponyhof handelte. Wir setzten uns mit den ausgewählten Heften auf zwei Sessel neben unsere Mutter. Der junge Mann legte die Zeitschrift, in der er geblättert hatte, auf den Tisch, um sich auch einen Astronauten-Comic aus dem Regal zu nehmen. Ich war schnell in die spannende Weltallgeschichte vertieft und erschrak etwas, als eine weibliche Stimme mit einem südländischen Akzent freundlich fragte: „So, wollen wir mit der Mama anfangen?“

Ich blickte auf. Vor uns stand eine der beiden Friseurinnen, die bei unserem Eintreffen bereits mit mehreren Kunden beschäftigt gewesen waren. Eine der Kundinnen, eine übergewichtige ältere Dame, verließ gerade mit dem jungen Mann, der in der Sitzecke gewartet hatte, an ihrer Seite den Raum.

„Ich bin Angelina Angelo“, sprach die Frau weiter, deren Kopf voller dunkelbrauner Locken war, die sie sich mit einem rot gemusterten Band aus der Stirn hielt. „Der Salon gehört mir zusammen mit meine sorella. Ich meine: mit meine Schwester Sabrina.“

Bei der Nennung ihres Namens sah die andere Friseurin von ihrer Arbeit auf, blickte lächelnd in unsere Richtung und entblößte dabei weiße Zähne. Sie sah fast genauso aus wie ihre Schwester, nur älter. Ich schätzte Sabrina auf Ende dreißig, so alt wie meine Mutter, während Angelina sicher noch in den Zwanzigern war. Beide Schwestern trugen wie Emily gelbe Kittel, die zwar bequem saßen, ihre schlanke Figur jedoch nicht verbargen. Beide hatten ein hübsches Gesicht und große braune Augen, die dunkler als meine und die meiner Mutter waren. Sabrina trug ihr ebenfalls lockiges dunkles Haar schulterlang. Doch Angelina war eindeutig die Schönere von beiden, entschied ich für mich.

„Du sprichst so komisch“, stellte Melissa unverblümt fest. Neugierig wollte sie wissen: „Seid ihr Italiener?“

Sì, bestätigte Angelina lächelnd. „Wir kommen aus Italia, leben aber schon seit Jahren in Deutschland.“

„Ihr Deutsch ist sehr gut“, fühlte sich unsere Mutter anscheinend gezwungen, etwas Nettes zu dem Gespräch beizutragen.

„Oh danke, danke!“, erwiderte Angelina herzlich lachend. „Aber ich weiß: Es stimmt nicht. Ich mache zu viele Fehler. Deutsch ist eine sehr schwere Sprache.“

Sie hatte eine wunderbar offene Art zu lachen, die tief aus ihrem Herzen zu kommen schien. Noch nie hatte ich meine Mutter so lachen hören.

Meine Mutter erhob sich, ohne auf den Kommentar der Friseurin zu deren Deutschkenntnissen einzugehen. „Ja, fangen Sie gern mit mir an.“

„Komm mit und such dir den Stuhl aus, der dir am liebsten ist“, lud Angelina sie, weiterhin ungeniert beim Du bleibend, ein.

Mit leicht verkniffenem Mund nahm meine Mutter auf einem der Friseurstühle Platz.

„Was hast du dir vorgestellt?“, hörte ich Angelina sie fragen, während sie meiner Mutter einen Friseurumhang umlegte. „So wie bisher, oder hast du Lust, etwas Neues auszuprobieren?“

„Einfach nur etwas kürzen, bitte“, gab meine Mutter zurück. „Ohne waschen.“ Sie wollte es schnell hinter sich bringen.

Emily betrat mit einer neuen Kundin den Raum und legte dieser, nachdem sich die Kundin gesetzt hatte, ebenfalls einen Umhang um.

„Wären meine Kinder nicht zuerst an der Reihe?“, fragte meine Mutter unfreundlich. „Oder geht es hier nicht der Reihe nach? Wir haben außerdem nicht viel Zeit.“

War das peinlich. Hier waren alle so nett, und meine Mutter machte alles kaputt.

Angelina legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Mach dir keine Sorgen. Deine Kinder kommen gleich dran. Wir haben sie nicht vergessen.“ Sie lachte wieder.

Ich sah den unentspannten Gesichtsausdruck meiner Mutter im Spiegel. Sie war bemüht, ihre Fassung nicht zu verlieren.

„Emily kümmert sich jetzt um dich“, teilte Angelina meiner Mutter mit. „Und ich schneide die Haare von deine beiden süße Kinder.“ Sie forderte Melissa und mich mit einer Handgeste auf, zu ihr zu kommen.

Meine Schwester las längst wieder in ihrem Ponyhof-Comic.

„Melissa“, machte ich sie ungeduldig aufmerksam. „Es geht los.“ Aus einem mir nicht erklärlichen Grund konnte ich es nicht erwarten, mir von Angelina Angelo die Haare schneiden zu lassen.

„Ja, gleich“, gab Melissa zurück, ohne von ihrem Heft aufzusehen.

„Wie du willst.“ Ich ließ meine Schwester zurück und begab mich zu Angelina, die neben einem der Friseurstühle stehend auf mich wartete.

„Such dir einen schönen Platz aus, bambino.“

Ich musste nicht lange überlegen und wählte den Stuhl, der am weitesten von meiner Mutter entfernt war. Nachdem ich mich gesetzt hatte, pumpte Angelina den Stuhl mit einem Fußpedal ein Stück höher. Als sie mir den Friseurumhang umlegte, beugte sie sich zu mir herab und flüsterte in mein Ohr: „Du hast extra diesen Stuhl gewählt, bambino, nicht wahr? Weil du nicht bei deine grimmige Mama sitzen willst.“

Da roch ich zum ersten Mal Angelinas wunderbares Parfum, nach dem anscheinend der gesamte Salon duftete. Es war ein leichter Zitronenduft, ganz anders als dieses schwere teure Parfum mit der süßlichen Note, das meine Mutter benutzte.

Angelina wartete keine Antwort ab, sondern befestigte den Umhang in meinem Nacken. Mit ihrer Hand griff sie sanft in mein Haar. „Du hast wunderbare Haare“, sagte sie so leise, dass es meine Mutter nicht hören konnte. „So dick und kräftig. Hat dir das schon einmal jemand gesagt?“

Ich schüttelte den Kopf. „In der Schule nennen sie mich wegen meiner Haarfarbe ‚Karottenkopf‛“, gestand ich. Ich wusste selbst nicht, wieso ich Angelina das erzählte. Sie war doch praktisch eine Fremde für mich.

„Die anderen sind dumm, wenn sie das sagen“, versuchte sie, mir Mut zu machen. „Du hast wunderbare Haare. Erdbeerblond nennt man deine Haarfarbe. Wusstest du das? Sie ist etwas ganz Besonderes.“

Wieder schüttelte ich den Kopf.

„Mein Junge“, sie sprach das U langgezogen aus, „wird an der Schule auch geärgert, weil er schiefe Zähne hat und eine dicke Brille. Vielleicht wird es an seiner neuen Schule nach den Ferien ja besser.“

„Du hast einen Sohn?“, fragte ich erstaunt. Mir kam Angelina viel zu jung vor, um schon ein Kind im Schulalter zu haben.

„Oh ja“, bestätigte sie. „Er ist neun.“

„Ich bin auch neun“, erwiderte ich schnell, als wäre das eine bedeutsame Gemeinsamkeit.

„Dann geht ihr nach den Sommerferien ja vielleicht in dieselbe Klasse“, mutmaßte Angelina. „Guido kommt in die vierte.“

„Ich auch.“

„Vielleicht werdet ihr Freunde werden.“ Angelina nahm einen Kamm und fuhr damit vorsichtig durch mein Haar. „Wie kurz soll es werden?“, wechselte sie das Thema.

Normalerweise hätte ich jetzt gesagt, es könne ordentlich etwas abgeschnitten werden, damit ich erst einmal wieder monatelang nicht zum Friseur musste. Doch ich wollte möglichst bald wieder hierherkommen. „Nicht so viel“, antwortete ich daher vage.

„Ich weiß aber nicht, ob deine Mama damit einverstanden ist, wenn ich kaum etwas abschneide“, flüsterte mir Angelina verschwörerisch zu.

„Das ist mir egal“, gab ich ungewohnt rebellisch zurück.

„Mir auch“, pflichtete mir Angelina lachend bei.

Nach dem Schneiden hielt sie einen Handspiegel hinter meinen Kopf, damit ich das Ergebnis im Spiegel vor mir betrachten könnte. In der Tat sah mein Haar noch fast genauso aus wie vorher. Höchstens zwei Zentimeter fehlten.

„Es sieht toll aus“, lobte ich Angelinas Werk. „Vielen Dank.“

„Für dich immer gern“, gab sie freundlich zurück.

„Hoffentlich besuchst du unseren Salon bald wieder.“

Aus mir nicht erklärlichen Gründen begann mein Herz bei diesen Worten, etwas schneller zu schlagen. „Ja, ...“, stotterte ich. „Das hoffe ich auch.“

Angelina nahm mir den Umhang ab und senkte die Stuhlhöhe. „Und jetzt ist deine sorella an der Reihe.“

Auf dem Rückweg vom Friseur wollte ich über Angelina Angelo nachdenken, doch Melissa hinderte mich mit ihrem ständigen Geplapper über den Inhalt des Ponyhof-Comics, den sie soeben gelesen hatte, daran. „Also, da waren jedenfalls Mädchen, die wollten die Ponys stehlen“, fuhr meine Schwester mit ihrem Bericht fort. „Und dann haben sie ...“

Es fiel mir schwer, dem zu folgen, was Melissa von sich gab. Ich dachte an Angelina Angelo. Ihr schönes Gesicht. Ihr herzliches Lachen. Ihre braunen Augen. Ihre wunderbaren Locken. Den Zitronenduft ihres Parfums.

„Constantin!“, holte mich meine Schwester in die Gegenwart zurück. „Hörst du mir überhaupt zu?“

Als ich sie nur verständnislos ansah, wandte sie sich an unsere Mutter. „Hörst du mir denn wenigstens zu, Mama?“

„Natürlich, Schatz“, gab diese mit einem wie immer etwas gezwungen wirkenden Lächeln zurück. Es war so anders als das Lächeln von Angelina. Angelina ... Was für ein schöner Name.

„Du hättest ruhig mehr abschneiden lassen können, Constantin“, teilte mir meine Mutter unzufrieden mit, als wir unser Haus betraten. „Man sieht kaum, dass du beim Friseur warst. Aber die Friseurinnen in dem Salon waren auch so was von unfähig. Espresso servieren ist anscheinend das Einzige, was die da können. Das war das erste und letzte Mal, dass wir dort waren.“

Zwar wusste ich, dass es meiner Mutter in dem Salon „Engelshaar“ nicht gefallen hatte. Das hatte sie gegenüber Emily auch noch einmal dadurch deutlich gemacht, dass sie beim Bezahlen nicht einen Pfennig Trinkgeld gegeben hatte. Doch war es ein Schock, das jetzt aus ihrem Mund zu hören. Ich wollte doch Angelina Angelo so schnell wie möglich wiedersehen. „Kann ich mit dem Rad zum Angeln an den See fahren?“, bemühte ich mich, meine Enttäuschung vor meiner Mutter zu verbergen.

„Constantin, wie oft haben wir schon darüber gesprochen“, erwiderte meine Mutter in lustlosem Tonfall, während sie ihren Trenchcoat an die Garderobe hängte. „Ich will nicht, dass du dich in der Gegend herumtreibst.“

„Aber die anderen ...“, setzte ich protestierend an.

„Was die anderen machen, ist mir egal“, unterbrach meine Mutter mich. „Du kannst einen deiner Freunde nach Hause einladen. Oder ich bringe dich zum Spielen zu einem deiner Freunde. So, wie wir es bisher gemacht haben.“

„Aber ich bin kein Baby mehr!“, schrie ich. Ich hatte das starke Bedürfnis, meiner Verärgerung darüber, dass mich meine Mutter von Angelina fernhalten wollte, Luft zu machen. „Wie du mich behandelst, ist echt zu Kotzen! Die anderen lachen mich deswegen schon aus!“

„Constantin!“, wies mich meine Mutter zurecht. „Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen! Das werde ich deinem Vater erzählen, wenn er heute Abend nach Hause kommt.“

„Als ob Papa das interessiert!“, gab ich in demselben störrischen Tonfall wie zuvor zurück. „Als ob er dir überhaupt zuhört, wenn du ihm was erzählst!“

Dann rannte ich noch in Jacke und Straßenschuhen die Treppe hinauf in mein Zimmer und ließ die Tür geräuschvoll zufallen. Ich rechnete damit, dass meine Mutter mir folgen und mich weiter zurechtweisen werde. Doch das war nicht der Fall. Ich zog Jacke und Schuhe aus, legte mich auf mein Bett und starrte an die Decke, wo ein Mobile mit bunten Pappautos hing. Auch so ein Babykram, für den ich mich schon viel zu alt fühlte. Ich stellte mich auf das Bett, riss das Mobile aus der Befestigung und warf es in eine Ecke. Dann legte ich mich mit einer gewissen Genugtuung wieder hin. Ich ließ meine Gedanken zurück zum heutigen Nachmittag in den Salon „Engelshaar“ schweifen, ging alles noch einmal Schritt für Schritt durch. Für dich immer gern, hatte Angelina zu mir gesagt, als ich mich bei ihr bedankt hatte. Für dich immer gern. Für dich immer gern. Für dich immer gern.

Den ganzen Nachmittag dachte ich über die Italienerin nach. Als mich meine Mutter zum Abendessen rief, war ich bereits zu der Schlussfolgerung gelangt, dass ich mich in Angelina Angelo verliebt hatte.

 

Beim von der Haushälterin zubereiteten Abendessen, das aus Hähnchenbrustfilet mit Reis und Broccoli bestand und das wir wie immer an dem massiven Mahagonitisch im geräumigen Esszimmer einnahmen, der ausgezogen zwölf Personen Platz bot, musste Melissa unbedingt unserem Vater, der für seine Verhältnisse früh zu Hause war, die Ponyhofgeschichte aus dem Comic-Heft erzählen, die sie während des Friseurbesuchs gelesen hatte. Mein Vater war an diesem Abend auffallend guter Laune, was vielleicht mit dem Termin zu tun hatte, zu dem er später noch aufbrechen musste, wie er uns zu Beginn des Essens mitgeteilt hatte. Außerdem war meine Schwester sein Liebling, und auch deshalb hörte er ihren Ausführungen geduldig zu.

„Aber am Ende wurden die Ponys doch noch wiedergefunden“, berichtete Melissa.

„Und hoffentlich wohlbehalten zurück zum Ponyhof gebracht“, mutmaßte mein Vater.

„Das weiß ich nicht“, gab meine Schwester zu. „Denn da war ich mit Haareschneiden dran und konnte nicht weiterlesen.“

„Viel wurde ja nicht abgeschnitten“, stellte mein Vater fest.

„Nein, und das ist auch gut so“, erwiderte Melissa. „So habe ich immer noch die längsten Haare an der Schule.“

„Die hat Constantin auch bald, wenn das so weitergeht“, warf nun meine Mutter ein, die bisher kaum einen Ton von sich gegeben hat. „Eigentlich hätte ich dafür gar nichts bezahlen sollen. Die Friseurinnen in diesem neuen Salon ‚Engelshaar‛ sind die Unfähigkeit in Person. Unverschämt grinsen ist das Einzige, was die können. Das war das erste und das letzte Mal, dass wir dort gewesen sind.“

Mich ärgerte es maßlos, wie meine Mutter über Angelina und ihren Salon sprach, doch ich hielt es für besser, mich nicht dazu zu äußern.

„Aber Liebling“, wandte mein Vater ein. Es klang seltsamerweise immer ironisch, wenn er meine Mutter mit einem Kosenamen ansprach. „Deinen Haarschnitt haben sie dort hervorragend hinbekommen.“ Er sah auf der Suche nach Bestätigung zu Melissa. „Stimmt‛s? Deine Mutter sah doch noch nie besser aus.“

Ich hatte das Gefühl, er wolle unsere Mutter auf den Arm nehmen.

„Mmmh“, pflichtete ihm meine Schwester eher pflichtbewusst als überzeugt bei.

„Und wie gefällt dir dein Haarschnitt?“, wollte mein Vater nun von mir wissen.

„Super.“ Hastig bemühte ich mich, den Salon „Engelshaar“ im besten Licht erscheinen zu lassen. „Die schneiden in dem Salon viel besser als in der Innenstadt. Und viel günstiger ist es auch noch. Die Luft ist da auch nicht so stickig. Und weißt du was?“ Das Beste hatte ich mir extra für den Schluss aufgehoben. „Der Salon gehört zwei Schwestern aus Italien. Und Männer und Frauen sitzen da zusammen in einem Raum.“

„Das ist ja interessant“, meinte mein Vater – wohl hauptsächlich, um meine Mutter zu ärgern. „Vielleicht sollte ich mir da auch mal die Haare schneiden lassen.“

„Dann komme ich mit“, bot ich an. „In der Stadt lasse ich mir jedenfalls nie wieder die Haare schneiden.“

„Das entscheide ja wohl noch immer ich“, widersprach meine Mutter. An meinen Vater gewandt fuhr sie in leicht gereiztem Tonfall fort: „Wenn ich dir sage, dass der Salon nichts taugt, kannst du mir das ruhig glauben, Konrad. Diese beiden Italienerinnen und ihre Mitarbeiterin sind so etwas von unverschämt. Ungefragt geduzt wird man dort. Ich kam mir schon vor wie in einem ...“ Meine Mutter suchte nach einem unverfänglichen Wort und fand es schließlich. „Etablissement.“

„Das klingt doch vielversprechend“, erwiderte mein Vater trocken.

Ich nutzte die Situation, in der meine Eltern, wie so oft, nicht einer Meinung waren und kurz vor einem Streit standen, um ein für mich wichtiges Thema anzusprechen. „Papa, darf ich eigentlich allein mit dem Fahrrad unterwegs sein?“

„Ja, warum denn nicht?“

Ich schwieg, doch mein Vater ahnte die Antwort schon. Er sah meine Mutter an, als er fragte: „Behandelt dich deine Mutter wieder einmal, als wärst du neun Monate statt neun Jahre alt?“

Ich mochte es nicht, wenn mein Vater so abfällig redete, doch andererseits brauchte ich unbedingt meinen Freiraum, schon allein, um Angelina Angelo möglichst bald wiederzusehen.

„Du musst nicht darauf antworten“, gestand mir mein Vater großzügigerweise zu.

„Ich halte es für zu gefährlich, wenn Constantin allein unterwegs ist“, fühlte sich meine Mutter nun genötigt, ihren Standpunkt zu verteidigen. „Er ist noch zu jung. Da draußen kann ihm alles Mögliche passieren.“

„Aber meine Freunde ...“, setzte ich an, um ihr zu widersprechen.

Mein Vater hob seine rechte Hand leicht, um mir zu bedeuten zu schweigen. „Ab jetzt darfst du so viel mit deinem Rad unterwegs sein, wie du willst“, bestimmte er und sah dabei meine Mutter an. „Aber zu den Mahlzeiten bist du rechtzeitig zu Hause, wenn du Ärger vermeiden willst.“

„Ja, klar, ich ...“

„Und was ist mit mir?“, unterbrach Melissa ungeduldig. „Ich will auch allein mit dem Rad fahren dürfen.“

„Du kannst Constantin begleiten“, entschied mein Vater. Dann wandte er sich an mich. „Du trennst dich nicht von deiner Schwester, wenn sie mit dir unterwegs ist, verstanden?“

Ich nickte, obwohl ich ganz und gar nicht damit einverstanden war.

„Schön, dass ihr drei euch einig seid“, warf meine Mutter mit leicht zitternder Stimme ein. Sie war kurz davor zu weinen. Auf einmal tat sie mir leid. Aber ihr ständiges Bemuttern konnte einem wirklich auf die Nerven gehen.

Mein Vater warf einen Blick auf seine teure Armbanduhr, ohne darauf einzugehen. „Entschuldigt mich bitte. Ich muss jetzt los zu meinem Termin. Esst in Ruhe ohne mich zu Ende.“ Mit diesen Worten stand er auf und verließ den Raum.

An den darauffolgenden Tagen wurde es wärmer und sonniger – das ideale Wetter zum Fahrradfahren. Leider hatte ich dabei die ganze Zeit Melissa im Schlepptau. Um allein zu sein, hatte ich ihr sogar angeboten, mit ihr „Prinzessin und Aristokrat“ zu spielen, wenn sie anschließend zu Hause bliebe. Doch davon wollte Melissa überhaupt nichts wissen. So fuhren wir gemeinsam, unsere Badesachen auf den Gepäckträger geklemmt, an den See, wo viele unserer Klassenkameraden versammelt waren, um sich in dem flachen Gewässer zu erfrischen. Außerdem hatte Melissa stets ihre türkisfarbene „Prinzessinnentasche“ bei sich, um die sie ihre Freundinnen beneideten. Meine Schwester band die Tasche jedesmal sorgfältig an ihrem Fahrrad fest, bevor sie es abschloss und sich auf ins Wasser machte, damit ihre kostbare Tasche auch ja nicht abhanden kam. Auf dem Rückweg nach Hause bestand ich jedes Mal darauf, noch einen Schlenker durch den Ort zu machen, vorbei am Salon „Engelshaar“, in der Hoffnung, einen Blick auf Angelina Angelo zu erhaschen. Melissa nahm den Umweg glücklicherweise in Kauf, ohne nach dem Grund dafür zu fragen. Einmal sahen wir am späten Nachmittag neben der Eingangstür des Friseursalons einen Jungen mit dunklen Locken, der etwa so alt war wie ich, auf den Steinplatten knien und mit Murmeln spielen. Vielleicht war das ja Guido. Ich hielt so abrupt an, dass meine Schwester, die hinter mir fuhr, fast in mein Fahrrad gefahren wäre.

„He, du Blödmann, was soll das denn?“, beschwerte sie sich, doch ich achtete schon gar nicht mehr auf sie, sondern ging mit meinem Fahrrad auf den Jungen zu, der bei meinem Näherkommen von seinem Murmelspiel aufsah. Der Junge hatte vorstehende Zähne – vielleicht war das der Grund, dass sein Mund halb offen stand - und trug eine Zahnspange.

„Hallo Guido“, begrüßte ich ihn.

„Woher weißt du denn, wie ich heiße?“, erwiderte Guido und sah mich hinter den dicken Gläsern seiner Brille verwundert an, statt den Gruß zu erwidern. Wegen seiner Zahnspange sprach er etwas undeutlich.