Das Mädchen mit dem Flammenhaar

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Das Tor von Merdoran

Skylers seltsames Verhalten und seine Worte hatten mich nachdenklich gestimmt. Weiteren Fragen verschloss er sich, indem er mir einfach den Rücken zukehrte. Alsbald schlief er ein. Wie konnte er jetzt schlafen? Ich dagegen war viel zu aufgewühlt. Als die Kälte unerträglich wurde, rückte ich enger an ihn heran. Er murmelte etwas im Schlaf, wies mich aber nicht ab. Stunden später fiel auch ich in einen unruhigen Schlaf.

„Wir müssen los“, drang Skylers Stimme ungeduldig und dennoch zäh wie Brei an mein Ohr. Langsam kam wieder Leben in meine verspannten Glieder. Alles tat mir weh, von dem unbequemen Nachtlager. Mit steifen Beinen stand ich auf, streckte mich und konnte gerade noch erspähen, wie er seinen Blick rasch abwandte.

„Sind wir heute schlecht gelaunt?“, fragte ich ihn, erhielt aber keine Antwort. „Na toll“, fluchte ich vor mich hin, fuhr mir mit den Fingern statt einer Bürste durchs Haar, um die Locken zu bändigen. Ich suchte den steinigen Untergrund nach meinem Lederbeutel ab, doch Skyler hatte unser Gepäck bereits auf das Lapendor geschnallt, längst im Sattel sitzend.

„Wie ist dein Plan?“, startete ich erneut den Versuch, eine Unterhaltung in Gang zu bringen.

„Wir machen uns auf den Weg nach Merdoran zu den Javeérs.“

„Was für eine Überraschung. Ich dachte, du wolltest mit mir ans Meer“, gab ich schnippisch zurück.

Schweigend führte uns Skyler sicheren Schrittes durch die Ellar Hills, deren graue Granitwand ich bisher nur aus weiter Ferne kannte. Je mehr wir uns darin verloren, desto erdrückender wirkten sie auf mich, hüllten uns ein wie ein steinerner Kessel. Sonnenstrahlen huschten bald nur noch vereinzelt über die kantig, schroffen Felsen und wurden kurz darauf von einem dichten Wolkenkranz verhüllt.

Verstohlen schaute ich mal auf Skylers ausladende Schultern, mal erhaschte ich einen flüchtigen Seitenblick auf seine versteinerte Miene. Was mochte ihn nur derart verstimmt haben?

„Können wir wohl mal eine Pause einlegen?“

Wenn er schon auf mich keine Rücksicht nehmen wollte dann gegebenenfalls auf mein Pferd, das ob des unwegsamen Geländes bereits zu lahmen begann. Statt einer Antwort schweifte sein Blick über die uns umgebenden grauen Steilhänge, bevor er absaß.

„Höchstens eine halbe Stunde.“

„Sag das dem Pferd. Es lahmt. Ich hingegen kann natürlich tagelang ohne Nahrung auskommen, wenn es sein muss. Ich übe mich dann einfach in Meditation. Genug Ruhe dazu habe ich ja.“

Herausfordernd sah ich ihn an, kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, um seine Regungen besser wahrzunehmen. Er schien etwas erwidern zu wollen, verkniff es sich aber. Stattdessen nestelte er an den Vorräten herum und hielt mir ein Stück Brot hin.

„Herzlichen Dank. Ich werde es mir gut einteilen. Wer weiß wann ich wieder was …“

„Avery, bitte.“ Er griff sich in den Nacken, knetete die Muskulatur, als sei er darauf aus, sie herausreißen.

„W-a-s?“

„Ich – sehe mal nach deinem Pferd.“

Er wandte sich abrupt ab, als hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst. Unbändige Wut stieg in mir auf. War es das, was er bezweckte? Wollte er mich provozieren, damit die Funken aus meinem Zeigefinger unkontrolliert entweichen konnten? Nein. Ich würde ihm beweisen, dass ich meine Emotionen unter Kontrolle hatte.

Schwindel erfasste mich. Die Erschöpfung forderte ihren Tribut. Ich sank ein Stück weiter abseits auf einen Felsvorsprung nieder, atmete tief ein, bis mein Herz wieder ein gemächlicheres Tempo anschlug. Lustlos kaute ich auf der harten Brotkruste herum, mein erster Bissen für heute.

„Verdammt“, hörte ich Skyler leise fluchen, während er die Fesseln des Pferdes untersuchte. „So kommen wir nicht voran. Wir werden zu Fuß weitermüssen.“

Bald zeigte sich jedoch, dass auch dies nicht gelang. Der stetig ansteigende Pfad, dem wir folgten, stellte für die Tiere ein nicht kalkulierbares Risiko dar. Skyler schnallte ihnen daher das Gepäck ab, teilte es unter uns auf, wobei er sich selbst den größeren Teil auflud. Die Pferde überließ er einfach sich selbst, sie würden ihren Weg schon finden, meinte er.

Allmählich begann ich die Anstrengungen des Aufstiegs zu hassen. Jeder Schritt schmerzte. Lederriemen, an denen das Gewicht des Proviants zerrte, schnitten mir ins Fleisch. Doch ich wollte Skyler keinen Anlass zur Kritik geben. Das Atmen fiel mir angesichts der ungewohnten Höhe immer schwerer. Der Wind frischte auf und senkte die Temperatur empfindlich herab. Die Augen konzentriert auf den steinigen Untergrund gerichtet, achtete ich darauf, nicht zu straucheln. Seltsam geformte braune Anhäufungen, bepflasterten zeitweise den Pfad, machten es fast unmöglich ihnen auszuweichen.

„Nur noch ein kleines Stück, dann treffen wir auf eine Höhle, die uns Schutz für die Nacht bietet.“

Skylers Stimme, die ich seit Stunden nicht mehr gehört hatte, drang unnatürlich laut an mein Ohr.

„Wo willst du denn hier eine Höhle finden? Für mich sieht alles gleich aus“, maulte ich. Augenblicklich ließ ich das Gepäck zu Boden gleiten. Kraftlos gaben meine Knie nach.

„Es ist wirklich nicht mehr weit.“

Durchdringend sah er mich an. Irgendetwas an seinem Ausdruck versetzte mich in Alarmbereitschaft. Ich mobilisierte die letzten Kraftreserven, um hinter ihm herzustolpern.

„Ab hier müssen wir einzeln nach oben.“

„Einzeln nach oben? Wie stellst du dir das vor?“ Ich sah ausschließlich Grautöne in sämtlichen Schattierungen des Bergmassivs.

„Ich klettere voraus und sehe nach, ob die Höhle weiterhin unbewohnt ist, dann hole …“

„Klettern?“ Entgeistert sah ich ihn an.

„Du brauchst mir nicht alles nachzusprechen“, fuhr er mich gereizt an. „Wenn die Höhle gesichert ist, komme ich wieder herunter, nehme dir dein Gepäck ab, dann wird es für dich leichter.“

Ich wollte nachhaken, wann mit seiner Rückkehr zu rechnen sei, verkniff es mir jedoch. Wenn er in dieser Stimmung war, machte es keinen Sinn, ihn zu bedrängen. Also harrte ich aus, folgte seiner Silhouette mit müden Augen, bis er mit der Felsformation verschmolz und sich schließlich in Luft aufzulösen schien. Nur vereinzelt herabrollende Kiesel zeugten von seinem weiteren Aufstieg, der ansonsten völlig lautlos vonstattenging. Ich hoffte, dass er die Höhle bald fand und diese unbewohnt war. Dabei – wer sollte sich sonst in diese Abgeschiedenheit hineinwagen?

Kaum hatte ich den Gedanken zu Ende geführt, da erhielt ich meine Antwort: Bernsteinfarbene Augen nahmen mich ins Visier, deren raubtierhafte Kälte mir die Härchen auf den Unterarmen aufstellten. Das beigebraune Fell einer Raubkatze, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte, mit unregelmäßigen Schattierungen, die ihr eine hervorragende Tarnung verliehen. Das blutverschmierte Maul leicht geöffnet, traten säbelgleiche Fangzähne zum Vorschein.

Eine Schrecksekunde fürchtete ich, Skyler könnte ihr beim Inspizieren der Höhle zum Opfer gefallen sein.

Die Raubkatze spannte die Muskeln und setzte zum Sprung an. Ich wusste es in dem Augenblick, da ihr Kopf sich minimal nach unten neigte. Reflexartig sprang ich zur Seite und richtete meinen Zeigefinger wie eine Waffe auf ihre Flanke. Ich ließ mein inneres Feuer entströmen, als gelte es eine feurige Schneise zu ziehen. Ein grausig heller Ton zerriss die Luft, gefolgt von Fauchen und Jaulen in einer Frequenz, die meine Ohren zum Klingeln brachte. Nachdem der massige Körper um Haaresbreite neben mir aufprallte, stand ich wie paralysiert da. Meine Hand gehorchte mir nicht mehr, war eiskalt, eine Kälte, die mir geradewegs ins Herz zu strahlen drohte. Meine Reaktionen wurden fahrig. Langsam rieb ich mir den eiskalten Arm, um die Blutzirkulation in Gang zu setzen. Umständlich schulterte ich den Bogen samt Pfeilköcher. Ich ließ das restliche Gepäck einfach zurück und begab mich in die Richtung an den Aufstieg, in die ich Skyler verschwinden glaubte.

Es kostete ungeheure Kraft, mich fortzubewegen. Auf der Suche nach Halt glitt ich mehrmals auf losen Steinen aus. Obwohl ein eisiger Wind an mir zerrte, stand mir der Schweiß auf der Stirn. Hoffnungslosigkeit griff mit unbarmherzigen Klauen nach mir. Wohin mochte Skyler verschwunden sein?

Meine Hände fassten ins Leere. Ein, zwei Meter fiel ich in die Tiefe, riss mir Fingernägel ab in dem verzweifelten Bemühen, Halt an dieser verdammten, scharfkantigen Wand zu finden. Der Schmerz brachte mich am Rande einer Ohnmacht. Ich blinzelte die Tränen weg, umschloss zitternd die geschundenen Finger mit den Lippen und konzentrierte mich auf die Heilung.

Bildfetzen blitzten plötzlich in meinem Kopf auf: Skyler wie er leblos mit verrenkten Gliedern in einer Felsspalte klemmte, dann verschwand die Vision wieder. Was war das? Spielte mir mein Verstand einen Streich?

Panisch begann ich nach Skyler zu rufen, ungeachtet dessen, ob sich Feinde in der Nähe aufhielten, sei es Mensch oder Tier. Meine eigene Stimme hallte als Echo von den Bergen wider, als wolle sie mich verspotten.

Da, ein leiser Ruf oder bildete ich mir das ein? Aus welcher Richtung? Ich lauschte angestrengt, wozu ich die Hand wölbte und hinters Ohr hielt. Rief, und diesmal erhielt ich eine Antwort.

„Skyler! Wo bist du? Sprich weiter, sonst finde ich dich ni …“

In letzter Sekunde stoppte ich. Nur knapp einen Schritt vor mir sah ich einen Spalt, halb verborgen hinter einem Felsplateau. Vorsichtig sah ich hinab.

„Ich bin hier unten, verdammt“, erklang ein Fluch aus der Tiefe, gefolgt von einem Stöhnen.

„Kannst du dich bewegen?“

„Wäre … wäre ich dann … hier unten?“, ätzte er.

„Was muss ich tun?“, fragte ich, meine eigene Erschöpfung vergessend.

Wieder ein Stöhnen, dann lange Zeit nichts. Ob er ohnmächtig geworden war? Wie tief mochte er in den Felseinschnitt gerutscht sein? Welcher Art waren seine Verletzungen?

 

„Avery“, drang Skylers Stimme erneut zu mir.

„Ja?“ Ich rutschte sofort näher an die Kluft heran und löste mit meiner Aktion ein paar lose Steinchen.

„Willst du mich umbringen?“, keuchte er.

„Entschuldigung.“

Im Kopf ging ich alle Optionen durch, die mir zur Verfügung standen. Doch was nutzten mir magische Fähigkeiten, wenn ich sie in banalen Lebenslagen wie dieser nicht anzuwenden wusste?

„Avery?“

„Ja, ich bin hier!“

„Leg dich flach hin!“

Diesmal befolgte ich seine Aufforderung vorsichtiger.

„Reich mir eine Hand nach unten soweit wie es geht.“

Tastend griff ich in die Tiefe.

„Weiter! Aber möglichst, ohne mir zu folgen.“

Typisch Skyler. Selbst in dieser Lage verließ ihn seine angeborene Arroganz nicht. Stückchen für Stückchen schob ich mich voran, bis sich unsere Fingerspitzen berührten.

„Noch ein wenig!“

Ich lag bereits kopfüber bis knapp zu den Hüften in der Kluft, konnte seinen stoßweisen Atem hören, bis sich unsere Finger ineinander verkrallten.

„Gut. Jetzt denk an etwas Schönes, an Heilung.“

Etwas Schönes …

Erinnerungen flossen durch meine Gehirnwindungen, durch meinen gesamten Körper, wie pulsierende Energie. Bilder von Skyler, wie ich ihm in den Baumkronen Greenerdoors begegnete, er mich vor einer Kreuzbandnatter rettete und zum ersten Mal Montai nannte, kleines Äffchen. Der erste Kuss in seinem Baumhaus, unsere erste Nacht, in der wir uns fast körperlich vereint hätten, bis Amarotts Blutstein …

„Verflucht noch mal! Möchte wissen, an was du gerade eben gedacht hast!“, fuhr er mich an.

Meine Hand schnellte zurück, als er aus der Tiefe emporstieg. Fast besinnungslos vor Erschöpfung zog ich den Arm zu mir heran und rollte mich von dem Spalt fort. Ich war müde, so unendlich müde, wollte nur noch schlafen.

„Avery“, hauchte mir eine vertraute Stimme ins Ohr und ich schlug lahm die Augen auf.

„Da bist du ja wieder.“

Bei Skylers Lächeln durchströmte mich augenblicklich Wärme, doch fühlten sich meine Glieder an, als hätte jemand mit Gewalt an ihnen gezerrt.

„Du hast mir einen ordentlichen Schrecken eingejagt.“

Er hockte sich nieder und reichte mir den Wasserschlauch.

„Trink! Und dann müssen wir weiter.“

„Weiter wohin?“, fragte ich matt.

Ich trank in gierigen Zügen. Meine Kehle fühlte sich so rau an, als hätte ich Sand geschluckt. Langsam kam die Erinnerung, und mit ihr die Erkenntnis, dass er die Höhle meinte.

„Fühlst du dich kräftig genug für den Aufstieg?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Wo ist unser Gepäck?“

„Oben.“

„Du hast mich hier allein …?“

„Ich konnte schlecht dich und das Gepäck tragen.“ Kurz trat ein schmerzhafter Ausdruck in seine Augen, dann entspannte sich seine Miene wieder. „Danke.“

„Wofür?“

„Für deine Heilung.“

Ich wollte etwas erwidern, doch er packte bereits meinen Unterarm zum Aufbruch. Unwirsch wand ich mich aus seinem Griff.

„Geh schon vor, ich folge dir“, wie ich es immer tue, fügte ich in Gedanken hinzu.

„Bist du sicher?“

„Habe ich denn eine Wahl?“

Sein Unterkiefer arbeitete, dann kletterte er mir voraus. Obwohl nur von spärlichem Licht umgeben, stieg er sicheren Schrittes hinauf.

Es kam mir vor, als seien Stunden vergangen, bis Skyler über mir verschwand, um kurz darauf helfend nach meinem Arm zu greifen. Kurzatmig ließ ich mich von ihm ins Innere einer Höhle ziehen, deren Ausmaße ich in der Düsternis nicht einzuschätzen wusste. Augenblicklich nahm das Heulen des Windes ab.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte er ganz dicht an meinem Ohr. Ich konnte ihn eher spüren, als dass ich ihn sah.

„Gib mir deine Hand. Wir müssen noch ein Stück weit hinein.“

Ich stolperte hinter ihm her über unser Gepäck in einen geräumigeren Bereich der Höhle. Kleine Öllichter standen auf dem Boden und verströmten ein unheimliches Licht, das unsere Schatten bizarr an der Höhlenwand entlangtanzen ließ.

„Wo sind wir hier?“, fragte ich ihn mit vor Erstaunen geweiteten Augen.

„Am Eingang zum Tor von Merdoran.“

„Dann ist es nicht mehr weit bis zu den Javeérs?“ Bange Hoffnung schwang in meiner Stimme mit.

„Kommt darauf an, was du unter weit verstehst.“

„Übernachten wir etwa hier?“, fragte ich phlegmatisch, viel zu müde, um mich mit Haarspalterei aufzuhalten. Kurz hatte ich wieder das Bild der Raubkatze vor Augen, deren Fänge ich nur knapp entkam.

„Ja. Halte dich einfach in der Nähe der Öllampen auf. Ich hole unsere Ausrüstung.“

Hunger schlug mir seine Faust in den Magen. Wie auf Bestellung brachte Skyler ein paar Streifen gepökelten Fleisches, den letzten Kanten Käse sowie trockenen Rest Brot zum Vorschein. Gierig griff ich nach dem Käse.

„Ich weiß, dass du kein Fleisch magst“, kommentierte er meine Wahl. „Aber bald gibt es keine Auswahl mehr.“ Er lächelte schief, was in dem spärlichen Licht eher einer Fratze glich.

Schweigend nahmen wir das karge Mahl ein. Vor Müdigkeit konnte ich kaum die Augen offenhalten. Ich wollte ihn fragen, woher er den Unterschlupf kannte, wer die Öllichter aufgestellt hatte. Doch kaum hatte ich den letzten Bissen verzehrt, ließ ich mich einfach zur Seite kippen. Skylers Arme fingen mich auf, schoben mir sanft eine Decke unter.

„Ruh dich aus, Montai. Ich halte Wache“, hörte ich noch, bevor ich in einen traumlosen Schlaf versank.

Ich erwachte von eisiger Kälte, dabei lag ich unter zweien dieser seltsamen Felldecken. Fetzen eines fast lautlos geführten Gesprächs drangen an mein Ohr.

„… hast es uns zugesagt!“ Obwohl der Sprecher die Worte sehr leise sprach, klangen sie energisch.

„Scht! Sie wird noch aufwachen“, Skylers tiefes Timbre. „Ich weiß, was ich gesagt habe …“

Ich spitzte die Ohren. Was ging hier vor? Mit wem redete er da?

Die letzten Worte konnte ich nicht mehr verstehen, da sich die Stimmen weiter entfernten. Sollte ich mich weiterhin schlafend stellen, um mehr zu erfahren? Ich ließ einige Zeit verstreichen, ehe ich mich erhob, eine der Decken wie einen Mantel um mich behaltend. Ich fand Skyler am Eingang der Höhle mit angezogenen Knien sitzend vor.

„Kannst du nicht schlafen?“, fragte er in die Nacht hinein, ohne sich nach mir umzudrehen.

„Nein. Ich meinte, Stimmen zu hören“, begann ich vorsichtig.

„Du brauchst dringend Schlaf, wenn du schon Stimmen hörst.“ Es sollte leichthin klingen, aber mein Argwohn war geweckt.

„Mit wem hast du eben gesprochen?“, hakte ich nach.

„Mit niemandem. Vielleicht hast du den Wind gehört. Draußen tobt ein Sturm.“

Du lügst, dachte ich.

„Ich denke, dass ich Windgeräusche von menschlichen Stimmen unterscheiden kann.“ Mit verschränkten Armen blickte ich auf ihn herab. „Verkauf mich also nicht für dumm.“

„Was haben dir diese Stimmen denn gesagt?“, raunte er und grinste amüsiert. In einer einzigen, fließenden Bewegung stand er neben mir. Einen Arm um meine Schultern legend, gab er mir einen Kuss aufs Haar und führte mich wieder ins Innere der Höhle zurück. Sollte ich mir das geheimnisvolle Gespräch nur eingebildet haben? Draußen tobte tatsächlich ein Sturm. Der Wind heulte wie das Wehklagen tausender Stimmen.

„Du frierst ja.“

Tatsächlich bibberte ich vor Kälte.

„Komm her, Sabelanth-Eh.“

Sabelanth-Eh – Kriegerin – ein Wort aus der Sprache der Bowmen, die ich nur ansatzweise verstand und derer er sich äußerst selten bediente. Seine Hände rubbelten mir wärmend über Arme und Rücken, heiße Ströme auf meiner Haut hinterlassend.

„Warum nennst du mich so?“

„Warst du es denn nicht, die den Tschakor getötet hat? Und das mit bloßen Händen“, bemerkte er mit Blick auf meine Schusshand.

„Ein Taschkor soll das gewesen sein? Ich dachte, die leben nur im Dschungel Greenerdoors.“

„Nicht nur. Eine Unterart von ihnen hält sich in den Bergen auf.“

Er führte meine Hand an seine Lippen und hauchte einen Kuss darauf.

„Keine Angst, dass ich meine Emotionen nicht unter Kontrolle habe?“, fragte ich bemüht kühl. Ich hatte ihm seine Zurückweisung und das damit verbundene fadenscheinige Argument noch nicht verziehen.

„Im Moment möchte ich dir vertrauen.“

Er sah mich mit einer Intensität an, die mich an einen Punkt brachte, dem mein Herz nur zu bereit war nachzugeben. Doch wollte ich es ihm nicht zu leicht machen.

„Und im nächsten Augenblick wendest du dich dann wieder von mir ab?“

„Es wäre einen Versuch wert.“

„Du spielst mit mir. Außerdem will ich nicht dein Versuchsobjekt sein.“

Mit ungeheurer Willensstärke wand ich mich aus seinen Armen und kehrte ihm den Rücken zu. Erhobenen Hauptes schritt ich zu meinem Schlafplatz zurück. Skyler folgte mir wie ein Schatten. Ich ignorierte ihn, griff stattdessen die Decke, um mich wieder schlafenzulegen.

„So müde?“, versuchte seine Stimme mich zu umgarnen. Spielerisch nahm er mir die Decke ab.

„Es war ein langer, ereignisreicher Tag und schon bald bricht der nächste an.“ Ich gähnte demonstrativ, dabei hatte ich in dieser verflixten Höhle kein Gefühl für Zeit und Raum. Fürsorglich legte er mir die Decke um die kalten Schultern, schloss mich darin ein, wie in einem Kokon, bevor er mich näher zu sich heranzog.

„Ich kann dafür sorgen, dass du entspannt in den Schlaf findest.“

„Musst du nicht Wache halten?“, fragte ich spitz.

„Da der Tschakor tot ist, bist du und dein Temperament die einzige Gefahr.“

Er hauchte mir einen Kuss aufs Schlüsselbein. Seine Finger vergruben sich in meinem Haar. Ich stieß ihn von mir.

„Du redest den ganzen Tag kein Sterbenswort. Scheuchst mich den steilsten Berg rauf, dem ich je begegnet bin, und dann meinst du, nur Süßholz raspeln zu müssen, und ich zerfließe?“ Mein wildpochendes Herz strafte meine Worte Lügen. Der Verstand versuchte angestrengt, die Oberhand zu behalten. „Ich werde aus dir nicht schlau, Skyler.“

Er maß mich neugierig. Als seine Hand meinen Nacken umfasste, er mit den Fingerkuppen zwischen meinen Schulterblättern hinab wanderte, glaubte ich, von einer Ameisenarmee überrannt zu werden. Mit einer Hand zog er mich am Bund meiner Hose zu sich heran, bis kein Blatt Papier mehr zwischen uns passte. Ich spürte seinen Herzschlag ein Stück über meinem Herzen schlagen, das mir in unkontrollierten Sprüngen aus der Brust zu springen drohte.

„Vertrau mir – und gib acht auf deine Hand.“

Er brachte einen Handschuh hervor und streifte ihn über die Schusshand. Vorsichtig, als sei sie aus Glas.

„Glaubst du, damit aus der Gefahrenzone zu sein?“, fragte ich mit trockener Kehle.

„Gewissermaßen schon.“

Mit sanftem Druck bog er mir den Arm nach hinten auf den Rücken. Er vergrub sein Gesicht in meinen Haaren, als wolle er darin eintauchen. Meine Hand begann zu kribbeln. Würde ein simpler Handschuh ausreichen, vor unkontrolliert abgegebenen Feuersalven?

Skyler küsste meinen Nacken, streifte mir mein Hemd über den Kopf und führte mich auf die Decke zurück. Sein langes Haar kitzelte mir im Gesicht, strich mir über Brust und Bauch. Die Piercings an seinem Ohr spielten in meinen Händen ihre eigene Melodie dazu.

„Lerne, dich zu beherrschen, Avery“, flüsterte er zwischen Küssen, die mir schier den Verstand raubten. Seine Hände berührten mich in einer Art und Weise, dass ich glaubte, meine Haut brenne.

„Hier. Nimm eine von denen!“ Eine dunkle Kugel rollte auf seine ausgestreckte Hand. Ich machte sie flüchtig als die aus, die mir Jodee mitgegeben hatte. Hastig spülte ich sie mit ein paar Schlucken aus dem Wasserschlauch runter und verschluckte mich prompt.

„Na, na, na. Nicht so gierig!“, rügte er mich scherzhaft.

Wir prusteten beide los vor Lachen. Ein befreiendes Lachen, fern von Spott oder Zwängen. Er wartete, bis ich mich wieder gefangen hatte, bevor er sich für mein Empfinden unendlich langsam seiner Kleidung entledigte. Wie hypnotisiert starrte ich auf seine nackte Haut und das Schlangentattoo auf der Brust. Bei der spärlichen Beleuchtung und seinen rhythmischen Bewegungen wirkte es geradezu animalisch echt. Berauscht sog ich jeden seiner Küsse in mir auf, als müsse ich mich davon ernähren. Bald vergaß ich die seltsame Unterhaltung von soeben, wenn sie denn je stattfand …

Skylers Kopf ruhte auf meiner Brust. Sein Arm umschloss geradezu besitzergreifend meine Taille. Der leicht geöffnete Mund wehte mir eine sanfte Brise auf die Haut, ließ mich frösteln. Es war so verdammt kalt in dieser Höhle, doch wollte ich diesen friedlichen Moment nicht durch eine unbedachte Bewegung zerstören.

Wenn ich an die vergangene Nacht zurückdachte, stieg mir jetzt noch heiße Röte ins Gesicht. Warum konnten wir nicht einfach hierbleiben? Wozu zu den in Einsamkeit lebenden Javeérs?

Niemals zuvor fühlte ich mich derart lebendig, so ernstgenommen wie noch vor ein paar Stunden. Ein Seufzen entfuhr meinen Lippen. Kurz darauf räkelte sich Skyler neben mir und murmelte etwas das klang wie: „Ne-ma Labaschté“, und sah mich verschlafen von der Seite an.

 

„Was bedeuten diese Worte?“, fragte ich ihn interessiert.

Er grinste verwegen. „Das möchtest du nicht wissen.“

Er gab mir einen innigen Kuss, bevor er aufstand und nach seiner Kleidung griff. Kurz meinte ich, einen triumphalen Ausdruck in seinem Gesicht zu lesen, bevor sein Mienenspiel wieder undurchsichtig wurde. Arroganter Kerl.

Hatte ich geglaubt, nur durch das Tor von Merdoran spazieren zu müssen, um zum Kloster der Javeérs in Kadolonné zu gelangen, so irrte ich gewaltig. Wir durchliefen dieses Höhlensystem, in dem Skyler sich zurechtfand, als wäre es sein Zuhause. Stunden. Tagelang. Bei genauerem Hinsehen schien er zwar mysteriösen Zeichen an den Wänden zu folgen, doch sicher war ich mir nicht. Als ich schon nicht mehr damit rechnete, jemals wieder das Tageslicht zu erblicken, tat sich ein Lichtstreif in der Ferne auf, der tatsächlich einem Tor glich.

Kaum erreichten wir dieses Tor, stellte sich uns ein Mann in den Weg. An Größe zwar Skyler ebenbürtig, verschwand die asketisch aussehende Gestalt fast gänzlich unter einer grobgewebten, grauen Kutte, in den Farben der Ellar Hills.

„Peschterr LeAssenat“, brachte Skyler ihm seinen Gruß entgegen.

„Peschterr Skyler“, antwortete eine keinem Alter zuzuordnende Stimme. Das Gesicht des Sprechers blieb unter der Kapuze verborgen.

„Hier trennen sich unsere Wege, Avery“, wandte Skyler sich an mich. „LeAssenat wird dich zu den Javeérs nach Kadolonné führen“, wollte er sich zum Gehen wenden. Ohne eine Erklärung. Ohne ein Wort des Abschieds.

Brüsk bekam ich ihn am Arm zu fassen und funkelte ihn an. „Was hat das zu bedeuten, Skyler? Wo willst du hin?“

„Ich … habe andere Pläne, vorerst.“

Seine hypnotischen Augen, in denen ich mich sonst zu verlieren drohte, sahen an mir vorbei fast flehentlich zu LeAssenat. Mit den Worten: „Ich lasse euch einen Moment allein“, zog sich dieser diskret zurück.

„Du hast andere Pläne? Wegen dir bin ich doch überhaupt erst hier!“ Meine Stimme schlug in Hysterie um.

„Du bist nicht wegen mir hier, Avery, sondern um in deinen Fähigkeiten ausgebildet zu werden.“

„Komm mir nicht so! Es war dein Wunsch, mich dir anzuschließen und dir in diese menschenleere Bergwelt zu folgen. Denkst du, ich hätte Gullorway freiwillig gegen das hier“, verbittert sah ich mich um, „eingetauscht?“ Verzweifelt kämpfte ich gegen die aufsteigenden Tränen an. Ich wollte vor ihm nicht die Fassung verlieren und tat es doch. „Dann war alles nur gespielt? Um mich herzulocken? Warum?“ Meine Stimme versagte und er konnte verdammt froh sein, dass ich noch den Handschuh trug, sonst hätte ich ihn zu Asche pulverisiert.

„Avery, nicht!“, zwang er mich mit sanfter Gewalt, den Handschuh anzubehalten. „Es ist nicht so, wie du denkst.“

„Was denk ich denn? Dass ich blöd genug war, dir wie ein Schaf zu folgen? Dass ich unserer körperlichen Vereinigung mehr beigemessen habe, als dir ein bloßes Triumphgefühl zu entlocken?“

Er hielt mich mit Bärenkräften umschlossen.

„So ist es nicht. Du bist mein …“

„Eigentum? Gebunden an ein Brandzeichen?“

„Du wirst es verstehen, Avery. Doch jetzt ist nicht die Zeit für Erklärungen. Ich werde dich zurückholen, aber während deiner Ausbildung ist für mich hier kein Platz. Daher musst du bei den Javeérs bleiben, als eine von ihnen.“

„Es war nicht der Wind, der mir im Schlaf zugeflüstert hat, dass du ein Abkommen mit ihnen getroffen hast, richtig?“

Ertappt biss er die Zähne aufeinander.

„Und wer sagt dir, dass ich dich dann überhaupt noch will?“, spie ich ihm entgegen.

„Du kannst gar nicht anders, Montai. Verzeih mir.“

Kurz zog er mich zu sich heran, presste seine Lippen auf meine, bevor er mich freigab. Plötzlich stand LeAssenat wie ein Geist neben mir, seine dürre Hand drückte meine Schulter und ich wurde mit einem Mal sehr, sehr schläfrig. Die letzten Worte, die ich noch vernahm, hallten im Inneren meines Kopfes wider, wie ein Schrei, dabei hatte Skyler sie nur geflüstert. „Meine Guhlant.“

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