Das Mädchen mit dem Flammenhaar

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Aufbruch nach Kadolonné



„Was soll ich denn jetzt machen?“, fragte ich Jodee, während wir in ihrer Behausung bei einem erfrischenden Becher Kräutertee saßen. Unschlüssig starrte ich auf die darin schwimmenden Ingwerstückchen, als hätten diese für mich eine Lösung parat.

Nach den unfassbaren Enthüllungen meines Vaters war ich nicht mehr gewillt, mit ihm unter einem Dach zu leben. Skyler widerstandslos zu folgen gefiel mir hingegen genauso wenig.

„Hm“, brummte Jodee, als ich meinen Bericht beendet hatte. „Wozu raten dir denn die Karten?“

„Ich nehme sie nicht mehr zu Hilfe“, antwortete ich verbittert. Früher konnte ich aus ihnen die Zukunft lesen, doch das Massaker in Gullorway hatte ich nicht darin gesehen.

„Dann eben deine innere Stimme, bei den Göttern! Was sagt sie dir?“ Theatralisch flogen ihre kleinen Hände in die Luft ob meiner Begriffsstutzigkeit.

Seufzend ließ ich die Luft entweichen. „Auf welche von den tausend Stimmen soll ich denn hören? Einerseits will ich den Aufbau Gullorways weiter vorantreiben. Dann wieder will ich mich an den einfachen Dingen des Lebens erfreuen. Es erfüllt mich mit Stolz zu sehen, wie aus dem verdorrten Land fruchtbarer Boden entsteht.“

„Es gibt genügend Männer hier im Ort, erfahrene Handwerker, die bei der Errichtung des Dorfes behilflich sein können. Und um dem kümmerlichen Korn beim Wachsen zuzuschauen kannst du auf die Feldarbeiter vertrauen.“

„Du willst mich also auch loswerden“, warf ich gekränkt ein.

Sie legte ihre kleine, dunkle Hand versöhnlich auf meine und drückte sie leicht.

„Niemand will dich loswerden, Avery, und ich schon gar nicht. Glaube mir, ich sähe dich viel lieber als Heilerin denn als Kriegerin, aber Skylers Bedenken einer bevorstehenden Gefahr sind nicht von der Hand zu weisen. Er hat Recht, wenn er die Ansicht vertritt, dass wir uns nicht in Sicherheit wähnen sollten.“

„Aber wir leben doch jetzt in friedlichen Zeiten.“ Inzwischen war ich aufgesprungen und durchwanderte aufgebracht den Raum. „Nach Jahrhunderten der Tyrannei sind die Menschen von Kandalar endlich ein freies Volk.“

Jodee sah mich geduldig an, wie man zu einem Kind schaut, dass gerade seine Trotzphase durchlebt.

„Und genau darin liegt die Gefahr. Es muss jemanden geben, der dieses Land führt. Die ersten Gesetzlosen durchbrechen bereits unsere unzureichend gesicherten Grenzen, um sich unter die breite Masse zu mischen. Selbst Timno Theben, die Goldene Stadt, erhöht ihre Schutzmauern, damit der Pöbel fernbleibt. Dabei handelt jeder Clanführer Kandalars nur im eigenen Interesse. Frieden, wie du ihn dir vorstellst, wird es niemals geben, Avery. Aber jetzt haben wir noch die Gelegenheit, ein lebenswertes Kandalar zu schaffen.“

„Dachtest du an jemand bestimmten für diese Rolle?“

Sie schüttelte lachend den Kopf und schenkte mir ein entwaffnendes Lächeln. „Politik ist nicht meine Berufung.“

„Meine auch nicht und von kriegerischen Handlungen habe ich für den Rest meines Lebens genug. Warum sollte ich mich daher in etwas ausbilden lassen, dass ich nicht will?“

„Niemand von uns kann stets tun und lassen, wonach ihm der Sinn steht.“ Der Humor in ihrer Stimme war einem scharfen Unterton gewichen. „Geh mit Skyler nach Kadolonné, Avery! Wenn dir seine Beweggründe auch nicht klar erscheinen, so besitzt er dennoch ein feines Gespür für die entscheidenden Dinge des Lebens.“

Es ärgerte mich, dass stets andere zu wissen glaubten, was das Beste für mich ist.

„Du hast mich gefragt“, sagte Jodee, als hätte sie meine Gedanken erraten.

„Also nach Kadolonné?“

Sie nickte bejahend.

„Aber ich weiß doch erst so wenig über die Heilkunst. Hat es denn nicht Zeit bis …“

„Bis wann, Avery? Bis du die Ausbildung zur Heilerin abgeschlossen hast? Das dauert Jahre. Und auch bei den Javeérs versteht man sich auf diese Kunst.“

„Was ist, wenn die Zeit in Kadolonné aber nicht ausreicht mich auszubilden? So wie Skyler sich anhörte, steht Amarott – wenn er denn tatsächlich überlebt hat – schon mit einem Fuß auf Grund und Boden Kandalars.“

„Dann hast du es zumindest versucht.“

Kraftlos ließ ich mich auf einen Stuhl gleiten. Die Quelle meiner Argumente versiegte. Danach sprachen wir nur noch über unbeschwerte Dinge.



In den frühen Morgenstunden wollte ich mich aus dem Haus stehlen, um mich mit Skyler bei den Stallungen zu treffen. Kaum hatte ich die Hand auf den Türknopf gesenkt, da vernahm ich die gekränkte Stimme meines Vaters.

„Wolltest du wirklich gehen, ohne dich von mir zu verabschieden, Avery?“

Erschrocken hielt ich in der Bewegung inne. Dann fasste ich mich wieder.

„Ich dachte, gerade du müsstest das verstehen.“

Eine knöcherne Hand, an der der Zeigefinger fehlte, legte sich auf meine Schulter und versuchte mich aufzuhalten. Unwirsch schüttelte ich sie ab und riss die Tür auf. Die Hand glitt von meiner Schulter, strich mir sachte über den Rücken, bis sie den Saum meines Umhangs zu fassen bekam, als wolle sie mich halten.

„Lebwohl, mein Kind. Du warst mein größtes Glück. Mögen die Götter mit dir sein.“

Ohne mich noch einmal umzudrehen, stapfte ich davon. Viel zu spät kam die Erkenntnis, dass er Lebwohl gesagt hatte, nicht auf Wiedersehen. Doch ich war zu verbittert, um ihm sein über die Jahre gehütetes Geheimnis zu verzeihen. Wie hätte ich auch ahnen sollen, dass wir uns zum letzten Mal sahen?

„Gab es Probleme?“, fragte Skyler, als ich in den Stall trat.

Zwei Pferde waren bereits gesattelt und ein Lapendor, ein zotteliges Lastentier, stand mit Proviant bepackt daneben.

„Nein. Alles gut“, log ich und hatte Mühe, das Zittern in der Stimme zu verbergen.

Er nahm mir den Lederbeutel ab, warf einen prüfenden Blick hinein, bevor er ihn zu dem übrigen Reisegepäck auf dem Lapendor festzurrte.

„Hast du dein Messer und den Lesestein?“, erkundigte er sich angespannt.

Ich rollte mit den Augen. Das konnte ja heiter werden.

„Bist du jetzt mein Vater?“, fuhr ich ihn unbeherrscht an.

„Zum Glück nicht“, knurrte er.

Kurzerhand entschied ich mich für den Fuchs, wand Skyler die Zügel aus den Händen und saß auf. Ich gab dem Pferd die Sporen und preschte voraus. Noch vor einem Jahr wäre dies undenkbar gewesen. Doch inzwischen hatte ich gelernt, mich im Sattel zu halten und auch Gefallen daran gefunden.

Es dauerte eine Weile, bis Skyler aufholte, das gutmütige Lapendor im Schlepptau. Er brachte sein Pferd an meine Seite, und zwang mich dadurch anzuhalten.

„Was?“, herrschte ich ihn immer noch aufgewühlt an.

„Bevor wir diesen Weg fortsetzen, lass uns reden, Avery!“

Mit einer fließenden Bewegung glitt er aus dem Sattel.

„Wozu? Für dich steht doch schon fest, wohin uns der Weg führt. Was sollte dich da meine Meinung interessieren?“

„Ich will jetzt hören, was du zu sagen hast, bevor wir den langen Weg auf uns nehmen und uns nur angiften.“

„Darf ich dich daran erinnern, dass es deine Idee war und nicht meine?“

„Ist es das, was dich stört?“ Eine Augenbraue schnellte spöttisch in die Höhe.

„Das und so vieles mehr!“ Ich spürte, wie ich mich in Rage zu reden begann und zwang mich zur Ruhe. Er sollte in mir nicht mehr das sechzehnjährige Mädchen sehen, das er gehen ließ, sondern eine erwachsene Frau.

„Dann lass mal hören“, forderte er mich mit samtiger Stimme auf, was mich nur noch höher brachte.

„Nun gut. Du bequemst dich nach einem Jahr hierher und erwartest, dass ich in Begeisterungsstürme ausbreche. Dass ich die Menschen zurücklasse, die mir etwas bedeuten. Du fragst mich nicht, wie es mir in dieser Zeit ergangen ist, aber ich soll dir in eine ungewisse Zukunft folgen, zu einer Gruppe verschrobener Mönche, die in der Abgeschiedenheit der Ellar Hills hausen. Selbst nur aufgeschnappte Gerüchte im Gepäck, glaubst du meine Ausrüstung hingegen kontrollieren zu müssen, wie du alles gern unter Kontrolle hast.“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust zum Zeichen dafür, dass ich mir fürs Erste alles von der Seele geredet hatte.

Skyler wartete geduldig, ob ich meiner Tirade noch was hinzuzusetzen hatte. Jeglicher Spott war aus seinem Gesicht gewichen. Seine Stimme klang fest und bestimmt.

„Ich habe dir bereits erklärt, dass ich Zeit brauchte mich selbst zu finden, indem ich Antworten bei den Javeérs suchte. Ich wollte nicht, dass du etwas für mich empfindest, sollte in mir derselbe Dämon leben, wie in meinem Halbbruder Amarott.“ Seine Augen bemühten sich um Blickkontakt. Ich sah jedoch rasch an ihm vorbei, um klar denken zu können.

„Es betrübt mich, deinen Vater in die Enge gedrängt zu haben, womit das gut gehütete Geheimnis deiner Herkunft ans Tageslicht kam. Ich wollte euch nicht entzweien.“

Er trat in mein Blickfeld und zwang mich damit, ihn anzusehen.

„Durch deine Ausbildung bei den Javeérs bist du wertvoller für die Menschen, die dir am Herzen liegen, als wenn du mit ihnen einen steinharten Acker bearbeitest.“

Ich wollte protestieren, doch er hob gebieterisch die Hand.

„Allein die Javeérs sind in der Lage, deine Fähigkeiten zu ergründen und auszubilden.“

„Was macht dich da so sicher?“, unterbrach ich ihn und erntete ein zorniges Funkeln seiner Augen.

„Lass mich ausreden! Ich habe dich auch nicht unterbrochen!“

Ja, Meister. Wie du befiehlst, Meister. Ich hasste es, wenn er sich so aufspielte.

„Die mir zugetragenen Informationen über die gelungene Flucht Amarotts stammen nicht zuletzt von den Javeérs selbst, die über ein ausgezeichnetes Netz von Informanten verfügen. Und zu deiner letzten Frage: Es verging kein Tag, keine Nacht, an dem meine Gedanken nicht bei dir waren. Ich wollte dich in deinem Handeln nicht beeinflussen. Du bist jung, Avery, musst deinen Weg erst finden. Ein Leben im Dschungel von Greenerdoor wäre für dich, als würde man einen Tiger im Käfig einsperren.“

 

Er verstand sich gut darauf, zu argumentieren. Zweifelnd forschte ich in seinen markanten Zügen, ob seine Worte der Wahrheit entsprachen, wollte ihm gern glauben aber …

„Ich hatte mich bereits für Gullorway entschieden, für den Wiederaufbau. Dein Stolz jedoch verbot es dir, sich mir anzuschließen. Was immer es war, dass dich nach so langer Zeit bewog mich hier aufzusuchen, hat nichts mit Gefühlen für mich zu tun.“

Meine Schultern strafften sich in dem Bemühen, meinen Worten Nachdruck zu verleihen.

„Wärst du am Abend meiner Ankunft zu Jodee gekommen, auf ein gemeinsames Glas Kumbrael, hätte ich dir bewiesen, was mich sonst noch nach Gullorway geführt hat.“ Seine Stimme nahm einen rauchigen Unterton an.

„Ja, sicher. Gemeinsam hätten wir dem Alkohol zugesprochen, von dem du bei Weitem mehr verträgst als …“

Urplötzlich versiegelten seine weichen Lippen die meinen, saugten die restlichen Worte in sich auf, die daraufhin zu einem grollenden Gurgeln erstarben. Meine Knie wurden weich. Sonstige Rechtfertigungen fanden keinen Nährboden mehr. Feine Bartstoppeln kratzten mir übers Gesicht wie Brennnesseln, stimulierende Reize aussendend.

„Du hast mir gefehlt, Montai.“

„Warum jetzt?“, setzte ich zu einer letzten Gegenwehr an. Das Prickeln endete. Der Mund verzog sich zu einem warmen Lächeln.

„Weil die Zeit dafür gekommen ist.“

Elegant hob er mich aufs Pferd. Bevor wir aufbrachen, reichte er mir einen reich verzierten Bogen sowie einen gefüllten Pfeilköcher.

„Ein Ortegramm?“, mutmaßte ich in dem Bestreben, meine Emotionen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Nur wenige waren in der Lage, ein Ortegramm herzustellen. Es ermöglichte dem, der es angefertigt hatte, die beschenkte Person überall zu orten.

Meine Finger fuhren über die kunstvollen Schnitzereien des Bogens. Skyler blieb mir die Antwort schuldig, folgte jedoch meinem prüfenden Ertasten, wie ein Händler, der wusste, dass seine Ware einzigartig ist.

Der Pfeilköcher, hergestellt aus gehärtetem Dschellaleder, wies die Insignien der Bowmen auf – Pfeil und Bogen. Die blauschwarzen Federn an den Pfeilenden mussten von einem Garbet stammen, einem fast ausgestorbenen Vogel der östlichen Inseln, zu denen auch Perges gehörte.

„Probiere ihn aus“, forderte er mich auf. Eine handtellergroße Lederkugel flog plötzlich durch die Luft. Viel zu spät setzte ich einen meiner Pfeile darauf an.

„Hm. Der Bogen muss noch etwas ausbalanciert werden, das ist schnell getan. Deine Reaktionen jedoch lassen stark zu wünschen übrig.“

„Ich bin keine Kriegerin, schon vergessen?“

„Dann wird es Zeit, dass du lernst eine zu sein.“



Wir folgten dem sich windenden Verlauf des Mukonors. Das Haar klebte mir schweißnass im Nacken, doch wagte ich nicht, den unförmigen Lederhut vom Kopf zu nehmen. Trotz der unbarmherzigen Hitze trug ich ein langärmliges Hemd und weiche Lederhandschuhe. Letzteres von Skyler selbst passgenau angefertigt. Sie sollten meine helle Haut vor der gnadenlosen Sonne schützen. Ich hatte allerdings den Verdacht, dass sie ihn eher vor unkontrollierten Feuerkugeln aus meinem Finger bewahren sollten.

Wir vertrieben uns die lange Reisezeit, indem Skyler mich auf alles schießen ließ, was nicht bei drei auf den Bäumen war. Mal mit Pfeil und Bogen, dann wieder sollte ich meinen Dolch zu Hilfe nehmen – ohne ihn beim Namen zu nennen. YEMAHL, wie er hieß und der rotglühend, butterweich durch Äste oder Knochen schneiden konnte, wenn ich ihn so nannte.

Wenn ich nicht verängstigte Hasen jagte und ihnen das Fell über die Ohren zog, forderte Skyler mich zum Schwertkampf heraus. Die Schwerter bestanden aus Holz, die er zu Übungszwecken angefertigt hatte.

„Stell dich schräg auf! Rechtes Bein vor! Achte auf meine Augen, meine Körpersprache. Versuche, darin zu lesen, was ich als Nächstes tun werde.“

Du meine Güte. Wie sollte ich in diesen beherrschten Gesichtszügen irgendetwas lesen können? Was verrieten mir seine angespannten Muskeln, wenn er das Holzschwert von einer Hand in die andere tanzen ließ, nur um dann doch mit dem Fuß nach mir zu treten? Schon jetzt überzogen meinen Körper mehr blaue Flecke als Mückenstiche.

Er wand mir das Schwert mit einem raschen Hieb aus meinen verkrampften Fingern. Wehrlos stand ich ihm gegenüber. Zorn und Enttäuschung stauten sich in mir und drohten sich explosionsartig zu entladen.

„Lass dich nicht von deinen Gefühlen beherrschen. Sie machen dich unvorsichtig, Avery.“

Augenscheinlich konnte er in meinem Gesicht lesen wie in einem offenen Buch.

„Wenn du mich weiterhin so schikanierst, komme ich als Krüppel bei den Javeérs an.“

Ich rauschte an ihm vorbei und schälte mich aus den verschwitzten Kleidern, stürzte mich kurzerhand in den Fluss. Was für eine Wohltat, die kühlenden, seichten Wogen über die geschundene Haut fließen zu lassen, obwohl der Strom wegen der langen Trockenperiode gerade mal hüfthoch an der tiefsten Stelle war. Genüsslich tauchte ich den Kopf unter, schüttelte mein Haar danach wie ein nasser Hund – und erstarrte.

Am Ufer Stand Skyler, umringt von fünf Männern in zerlumpten Kleidern.

„Badetag? Warum folgst du deiner hübschen Begleiterin nicht in den erfrischenden Fluss?“, verhöhnte ihn einer der Männer, die anderen brachen in donnerndes Gelächter aus. Sie waren mindestens einen Kopf kleiner als Skyler, miserabel ausgerüstet und schienen nicht aus Kandalar zu stammen.

„Er wird sowieso bei den Fischen enden, Bew-Tor.“

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, sackte Bew-Tor wie ein nasser Sack zusammen. Seine Hände, die die Eingeweide im Bauch zu behalten versuchten, glitten kraftlos von ihm ab. Nur Sekunden später brach auch der Sprecher röchelnd zusammen. Die anderen drei hatten kaum Zeit nach ihren Waffen zu greifen, bis auch sie getroffen zu Boden gingen, sich im Todeskampf windend.

All das war temporeicher vonstattengegangen, als ich mit den Augen blinzeln konnte. Wie hatte er das gemacht? Schon damals in Greenerdoor war mir die unfassbare Schnelligkeit seiner Bewegungen aufgefallen, die mit bloßem Auge kaum zu verfolgen war.

„Zieh dich an, Avery“, forderte er mich schroff auf, dabei den am Boden zuckenden Körper unbarmherzig mit dem Knie fixierend. Mit wackligen Beinen klaubte ich meine Kleidung beisammen und trat neben ihn. Beim Anblick der Leichen spürte ich Galle in mir aufsteigen, konnte nicht verhindern, dass sich der Inhalt meines Magens entleerte.

„Wer seid ihr?“, malträtierte er den Mann, dem ein blutendes Rinnsal aus den Mundwinkeln lief.

„Die Feder …“

Ein letztes Zucken, dann hauchte der Mann sein Lebenslicht aus. Ich sah gerade noch, wie Skyler einen unscheinbaren Stab in der Seitentasche seiner Gürtelschlaufe verschwinden ließ.

„Was hat er gesagt?“, stammelte ich, bemüht, nicht auf die niedergemetzelten Körper zu starren.

„Keine Ahnung. Ein Wort, vielleicht ein Name – es ergibt keinen Sinn“, brummte er. Mit undurchsichtiger Miene suchte er den Horizont ab. „Lass uns aufbrechen, bevor ihr Verschwinden bemerkt wird!“

Schweigend setzten wir unseren Weg fort. Wir überquerten den Fluss, ritten ein paar hundert Yards nordwestlich. Dann in östlicher Richtung, wobei es sich mir nicht erschloss, warum Skyler darauf bestand, dass wir uns mal im Kreis bewegten oder vor und zurück, bis der Boden aussah, als sei eine riesige Reiterschar darüber hinweggeprescht. Vielleicht wollte er aber auch genau diesen Eindruck erwecken.

Schließlich kamen wir wieder am Fluss aus, wateten ein Stück stromabwärts, ehe wir das Ufer aufsuchten.

„Hilf mir mal“, forderte er mich auf, zerriss eines seiner Hemden und band die Fetzen um die Hufe unserer Pferde. So hinterließen sie keine Spuren.

„Was denkst du, wer sie waren?“, fragte ich ihn.

„Weiß ich noch nicht. Jedenfalls keine Zufallsbekanntschaft. Hast du deine Karten dabei?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Warum nicht?“

„Weil …“

„Richtig, wir leben ja in einer friedlichen Zeit, da benötigen wir ja keinen Blick in die Zukunft.“ Er schloss einen Moment die Augen, als müsse er sich sammeln. Dann führte er uns weiter über holprige Steine am Uferrand.

„Kannst du uns dann wenigstens mit einem Schutzzauber belegen oder am besten gleich unsichtbar machen?“

„Wer weiß schon, zu was ich fähig bin? Aber sollte ich über Letzteres verfügen, fange ich bei dir an“, schleuderte ich ihm beleidigt entgegen.

„Ich meine es ernst, Avery. Wir wissen nicht, ob noch mehr von ihnen hier irgendwo auf uns lauern.“

Missmutig stieg ich ab, bat ihn um den sonderbaren Stab an seinem Gürtel, da ich nichts Vergleichbares fand, dass ich als Zeichenstab verwenden konnte. Ich forderte Skyler auf, samt den Pferden und dem Lapendor beieinanderzustehen. Dann zeichnete ich um uns herum einen Kreis auf dem harten Untergrund, führte den Stab anschließend in einer ausladenden Bewegung über uns hinweg. Würde es uns schützen? Kaum hatte ich damit geendet, da klangen die Geräusche um uns herum verändert, dumpfer, wie unter einer Glocke. Unruhig blähten die Pferde die Nüstern auf, drehten ihre Ohren in alle Richtungen ob der ungewohnten Geräuschkulisse. Skyler hingegen schien nichts zu bemerken, sah mich nur abwartend an.

„Erledigt“, zischte ich und saß auf.

„Aber – können wir uns so auch fortbewegen?“

„Versuchen wir es. Übernimm du die Führung, das kannst du doch so gut“, stichelte ich.

Es war ein eigenartiges Gefühl, sich auf diese Weise fortzubewegen. Zwar nicht sichtbar, war der Schutzwall dennoch mental spürbar, jedenfalls für mich. Für die Dauer einer halben Stunde wären wir sicher, bevor ich ihn erneuern musste. Das hatte ich inzwischen herausgefunden.

Skyler trieb uns nun in östliche Richtung auf die Ellar Hills zu, die er spätestens bei Einbruch der Dunkelheit erreichen wollte. Ich jagte hinter ihm her, verwundert, dass selbst das Lapendor eine flinkere Gangart an den Tag legte.

Die Sonne hatte die Gipfel des Bergmassivs kurz mit einem goldenen Glühen überzogen, bevor die Schatten länger wurden. Schließlich, von einer Minute auf die andere, schwand das Tageslicht. Die Luft kühlte merklich ab. Nun war ich froh über mein langärmliges Hemd. Skyler verteilte Trockenfrüchte, Brot, Käse und reichte mir einen Wasserschlauch. Ich nahm einen tiefen Schluck daraus und reichte ihn zurück.

„Wie fühlst du dich?“ Seine Stimme klang seltsam belegt.

„Körperlich oder emotional?“

„Beides wäre interessant zu wissen.“ Er rollte Felldecken für das Nachtlager aus, die sich warm und weich anfühlten, für Schafwolle waren sie allerdings zu dünn.

„Hm. Einerseits bin ich traurig, Gullorway verlassen zu haben und nicht zu wissen, wann ich es wiedersehe. Andererseits bin ich neugierig darauf, was mich erwartet.“

„Neugier ist immer ein guter Weg für Veränderung.“

Wir ließen uns auf die Decken nieder, Rücken an Rücken. Ich starrte in die rabenschwarze Nacht, genoss die erfrischende Kühle. Hier war es so friedlich. Skyler drehte sich zu mir um, einen Arm um meine Schultern legend. Unwillkürlich spannte ich meine Muskeln an.

„Ist es so schlimm?“

„Was?“

„Das ich dich berühre?“

„Durchaus nicht“, stammelte ich.

„Und – was ist mit diesem Garlow?“, fragte er herablassend.

„Was soll mit ihm sein?“

„Er spielte sich jedenfalls mächtig vor dir auf.“

„Nicht mehr als du. Sind die Javeérs eigentlich Frauen?“, wechselte ich abrupt das Thema.

„Was ist das denn für eine Frage?“

„Ich dachte nur, weil du es dort so lange ausgehalten hast.“

„Lass dich überraschen.“

Statt einer Antwort strich er mir sanft über die Wange, zog mich näher zu sich heran. Sein Atem kitzelte am Hals, bevor seine Lippen erst zaghaft, dann fordernd in heißen Bahnen über die sensibilisierte Haut strichen. Scheu erwiderte ich seine Küsse, was ihn nur noch mehr beflügelte. Skylers Hände glitten unter mein Hemd, erforschten meinen Körper. Siedend heiß fielen mir Jodees braune Perlen ein, die sie mir mitgegeben hatte. Sollte ich sie jetzt nehmen?

Ich wollte etwas sagen, doch er presste seine Lippen leidenschaftlich auf meine. Mein Herz schlug Purzelbäume. Nichts wollte ich in diesem Moment sehnlicher als diese Zärtlichkeiten mit ihm auszutauschen, seine Nähe körperlich spüren, doch mit einem Mal war es vorüber. Schweratmend rollte er sich auf die Seite und rammte seine Faust mit aller Kraft in die Decke.

„Verflucht!“, stieß er aus. Mit bebender Hand strich er sich die Haare aus dem Gesicht.

„Was ist los? Habe ich etwas falsch gemacht?“ Meine Emotionen schlugen Kapriolen. Mein Hirn wollte nicht funktionieren.

„Nein, nicht du. Ich hätte …“

„Falls du … also, wenn du … Jodee hat mir was mitgegeben“, stotterte ich herum. Ich spürte, wie heiße Röte mein Gesicht überzog. Mit den Fingerspitzen begann ich ihm beruhigend über die Brust zu streichen, doch hielt er mit eisernem Griff dagegen.

 

„Ich hätte mich nicht hinreißen lassen dürfen.“

Er rückte ein Stück von mir ab. Jetzt verstand ich überhaupt nichts mehr.

„Na ja, ich habe mich ja auch nicht gerade gewehrt“, versuchte ich zu scher