Das Mädchen mit dem Flammenhaar

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Das Mädchen mit dem Flammenhaar
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Janet Borgward

Das Mädchen mit dem Flammenhaar

Die 13. Javeér

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Unerwartetes Wiedersehen

Geständnisse

Aufbruch nach Kadolonné

Das Tor von Merdoran

Die Javeérs

Die Ausbildung

Perges

Die Macht der Gedanken

Charmanter Dämon

Klärende Worte

Verlorene Schätze

Vereinte Kräfte

Leben mit dem Tod

Mutter und Tochter

Marionetten

Böses Blut

Das Gift der Macht

Der Statthalter von Alebas

Botschafter von Kandalar

Zwei Monate später

Nachwort

Danksagung

Bisher von Janet Borgward erschienen

Impressum neobooks

Unerwartetes Wiedersehen

Was du liebst, lass frei,kommt es zurück, gehört es dir – für immer.Konfuzius

Wie vom Donner gerührt stand ich da. Mein Gesicht wurde heiß, der Schweiß trat mir unter der Hutkrempe hervor, was nicht nur an der sengenden Hitze lag.

„Du?“, stammelte ich und starrte verdattert in Augen, die mich vom ersten Tag an in ihren Bann gezogen hatten und die so gefährlich aufblitzen konnten.

„Jemand anderen erwartet?“, knurrte Skyler.

Das nachlässig aus Schilf und Tampur geflochtene Band glitt aus seinen Händen. Als er sich zur vollen Größe aufrichtete, überragte er mich um fast einen Kopf, dabei war ich mit meinen einen Meter achtzig auch nicht gerade klein. Mit der Fußspitze zertrat er das kümmerliche Geflecht und begrub es in dem staubigen Grund.

„Ja, ich meine nein. Jedenfalls keinen Bowman …“ Ich ließ den Satz unvollendet.

„Sondern?“, seine Augen bohrten sich in meine.

„Einen Handwerker.“

„Kommst du zurecht, Avery?“, meldete sich mein Vater dazwischen. Misstrauisch sah er Skyler an. „Oder brauchst du mich hier noch?“

Ich schnitt eine Grimasse, woraufhin er sich zurückzog. Der heiße Wind verfing sich in den blauschwarzen Haaren Skylers, die ihm inzwischen weit über die Schulter reichten. Zahlreiche goldglänzende Piercings kamen an seinem Ohr zum Vorschein. Wir starrten uns an, versuchten, in dem Gesicht des anderen zu lesen, was Worte nicht zu sagen vermochten.

„Sehe ich etwa aus wie ein Handwerker?“, durchbrach er die Stille. Unwirsch griff er nach dem auf dem Boden liegenden Pfeilköcher und dem kunstvoll gearbeiteten Bogen. Ein Tattoo, Pfeil und Bogen, spannte sich über seinen Bizeps. Unwillkürlich berührte ich mein Brandmal am rechten Oberarm mit ebendiesen Motiven. Damals bekam ich es von den Bowmen eingebrannt, dessen Clanführer er war.

„Nein, danach siehst du in der Tat nicht aus. Trotzdem bin ich froh, dass dich der Weg nach Gullorway führt.“ Endlich, wollte ich hinzufügen, verkniff es mir jedoch.

„Du hast das entwickelt?“

Er sah mich nicht an. Dafür schweifte sein Augenpaar über die Bewässerungsanlage.

„Es funktioniert besser als beim ersten Mal, wenn auch noch nicht optimal. Der Wasserdruck reicht oftmals nicht aus, um die entlegensten Bereiche zu versorgen. An der Stelle, an der die Bambusrohre aufeinandertreffen, sind sie stellenweise undicht. Der Mukonor verschlämmt die Leitungen.“

Ich fuhr mir mit dem Ärmel über die schweißnasse Stirn und behielt einen schlammbraunen Streifen darauf zurück. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich mein Gesicht mit Lehmpunsch eingestrichen hatte, einer Eigenkreation zum Schutz meiner hellen Haut gegen die unbarmherzige Sonne.

Skyler schien mein Aussehen nicht zu stören. Stattdessen malten seine Kiefer angespannt aufeinander. Schweigsam betrachtete er den spärlichen Wuchs auf den Feldern. Getreide, Kartoffeln und Lendjens, eine nahrhafte Wurzelfrucht, die der Hitze des Tages trotzte, dafür in der Kühle der Nacht heranreifte.

„Du hast viel geschafft.“ Ein unergründlicher Ausdruck trat in seine Augen.

„Ich bekam unerwartet Unterstützung.“ Insgeheim hegte ich den Wunsch, dass diese ihm geschuldet war.

„Leider nicht von mir.“ Er rang sich ein Lächeln ab. Konnte er Gedankenlesen?

„Jetzt bist du ja da“, versuchte ich, meine Enttäuschung zu kaschieren, von ihm keine Hilfe erhalten zu haben. „Komm mit. Ich zeige dir Gullorway. Später lassen wir uns von Jodee ein stärkendes Getränk geben.“

Ich unterdrückte das Verlangen, ihn zu berühren. Als die Bowmen meine Schwester Charise und mich in den Sümpfen Greenerdoors gefangen nahmen, stand zunächst eine unsichtbare Wand der Feindschaft zwischen uns. Dann begannen wir einander zu achten und schließlich verband uns mehr denn bloße Freundschaft miteinander. Doch die Bowmen lebten nach ihren eigenen Gesetzen. In ihren Augen beanspruchten Frauen eine untergeordnete Stellung. Ihre Meinung zählte nicht. Eine Barriere, die wir bis heute nicht überwanden.

Wir ließen die Felder hinter uns und die neugierigen Blicke derer, die darauf arbeiteten. Einige von ihnen, die sich mir damals anschlossen, stammten sogar aus Greenerdoor.

„Wir errichteten die Häuser auf den alten Fundamenten. Was uns an Baumaterial fehlte, fanden wir teilweise in den Ruinen. Die restlichen Steine stammen aus dem Steinbruch der Ellar Hills.“

„Ein weiter Weg bis hierher.“

„Ja.“

Es war eine fast unmenschliche Schinderei. Dankbar nahmen wir jede Hilfe von Handwerkern und Händlern mit Karren an, die sich unverhofft in unsere Gegend einfanden. In den Nächten schmerzten die zerschundenen Hände von der ungewohnten Arbeit. Manchmal fürchtete ich, nie wieder aufrecht gehen zu können.

„Dank der Erinnerungen meines Vaters gelang es mir, Baupläne zu Papier zu bringen, die den Baumeistern als Vorlage dienten.“

„Sind sie … lebendig geworden?“

Ich wusste, worauf er anspielte. Meine Gabe Bilder darzustellen, die real wurden. Eine mächtige Fähigkeit die vielen Menschen das Leben kostete, wenn sie uns auch am Ende von der Knechtschaft der Herren von Kandalar befreite.

„Nein“, sagte ich mit Bestimmtheit. „Die Zeiten haben sich geändert. Es ist nicht erforderlich, zu magischen Hilfsmitteln zu greifen. Außerdem gibt es keine Bedrohung mehr für die Bevölkerung von Kandalar.“

„Du versteckst dich hinter einem Trugbild.“

„Ich verstecke mich vor niemandem.“ Gekränkt presste ich die Lippen aufeinander. „Hast du den weiten Weg von Greenerdoor etwa auf dich genommen, nur um mir Vorhaltungen zu machen?“

„Nein. Ich wollte dich sehen.“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

„Nach einem Jahr? Oder sollte ich etwa scheitern?“

„Ein bisschen habe ich es gehofft.“ Er grinste frech.

„Schönen Dank auch!“

Ich wandte mich ab und stapfte davon. Pfeilschnell war er bei mir und hielt mich am Arm fest.

„Brauchst du Hilfe, Avery?“

Garlow, ein kräftig gebauter Handwerker aus Scarles trat unverhofft an meine Seite und warf Skyler einen drohenden Blick zu.

„Nein, alles gut. Vielen Dank, Garlow.“

Dennoch blieb er einen Moment wie versteinert stehen, bevor er den Weg frei gab.

„Ich denke, es gibt keine Bedrohung mehr?“, raunte Skyler, wobei er mich belustigt ansah.

„Vermutlich hat ihn dein wildes Aussehen alarmiert. Ist das alles, was du an Gepäck dabeihast?“ Ich wies mit dem Kinn auf seine Waffen und die Ledertasche über der Schulter. „Wo ist dein Pferd?“

„Bis Abylane nahm mich einer unserer Händler auf dem Karren mit. Den Rest der Strecke habe ich zu Fuß zurückgelegt. Wo kann ich übernachten und die Spuren der Reise abwaschen?“

Er sah mich durchdringend an, als erwarte er mehr als eine Einladung von mir.

„Am Marktplatz gibt es eine Herberge. Sie ist einfach aber zweckmäßig.“

Er nickte, dann folgte er dem beschriebenen Weg. Mit klopfendem Herzen wandte ich mich ab.

„Schon zurück?“

Die Hände meines Vaters zitterten, während er einen Karpfen entschuppte, den er für unser Abendessen vorsah. Die Gefangenschaft in den Kerkern der Burg von Kandalar machten aus ihm einen alten Mann, obwohl er erst achtunddreißig Jahre zählte. Der schmerzliche Verlust meiner Mutter und meiner Schwester, sowie der Wiederaufbau Gullorways taten das Übrige dazu.

 

„Lass mich das doch machen, Vater.“

Sanft legte ich ihm die Hand auf die Schulterblätter, die so dürr waren, dass sie durchs Hemd stachen. Er schüttelte energisch den Kopf.

„Du kannst Zwiebeln hacken und den Ingwer zerreiben. – Erwarten wir noch Besuch?“, fragte er scheinheilig.

„Nein.“

Er brummte etwas Unverständliches und gab sich weiter seinen Kochkünsten hin.

Nach dem Essen schlenderte ich zu Jodee, unserer Heilerin. Seit Greenerdoor bestand eine tiefe Freundschaft zwischen uns. Bereits dort unterwies sie mich in der Heilkunst. Hier setzte sie ihre Arbeit mit Feuereifer fort.

„Habe soeben alles fortgeräumt.“

Sie strahlte mich an, wobei ihr Lächeln über die kreideweißen Zähne hinaus bis zu den Ohren reichte. Ich kannte niemanden sonst, der so von innen heraus strahlte. Kaum einen Meter fünfzig groß, wirkte sie dennoch sehr präsent. Ihre Haut, von dem tiefen Schwarz der Menschen aus dem Norden, machte sie ebenso zur Exotin, wie mein blasser Teint und das flammend rote Haar.

„Ich wollte nur …“

„Er ist nicht hier.“ Sie warf den Kopf in den Nacken, wodurch ihr die langen, kunstvoll geflochtenen Zöpfe bis weit über die Hüfte fielen.

„Hm?“, gab ich mich ahnungslos.

Jodee kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.

„Skyler, bei den Göttern nochmal! Und es wird wohl eine Weile dauern, bis er seinen Rausch ausgeschlafen hat, das kann ich dir versichern.“

Geschäftig räumte sie Gläser mit undefinierbarem Inhalt ins Regal, das sie kaum mit den Fingerspitzen erreichte.

„Er hat auf dich gewartet. Als du nicht kamst, verlangte er nach Kumbrael, unverdünnt. Er hatte sich einen gewaltigen Rausch angetrunken. Danach ist er zur Herberge aufgebrochen. War das deine Idee mit der Unterkunft?“ Eine haarlose Augenbraue, nachgezogen mit einem Kohlestift, schoss skeptisch in die Höhe.

Ich nickte und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Scheint ihn irgendwie getroffen zu haben.“

„Dann für mich auch einen Kumbrael“, bat ich sie mit Genugtuung.

Jodee brach in ein donnerndes Lachen aus. Es dauerte einen Augenblick, bis sie sich wieder gefangen hatte.

„Das wollen wir gar nicht erst einführen. Dafür bist du noch zu jung.“

„Ich bin fast achtzehn“, protestierte ich.

Ihre kurzen Arme umfassten meine Hüfte und zogen mich zum Tisch hin.

„Für dich habe ich etwas Anderes.“

Sie griff unter ihren Umhang, brachte ein kleines Ledersäckchen hervor, zog an einer Schnur und entleerte den Inhalt auf die Tischplatte. Argwöhnisch sah ich sie an.

„Was soll das sein?“

„Es schützt dich vor ungewolltem Kindersegen“, legte sie mir unverblümt dar.

Ich schnappte nach Luft, sie dagegen erklärte mir die Zusammensetzung der braunen Kügelchen bis ins Detail.

„Jodee, du bist mir eine treue Freundin aber, was zwischen Skyler und mir ist, geht nur uns etwas an.“

„Entschuldige. Ich wollte nicht indiskret sein.“ Sie hob abwehrend die Hand. „Willst du darüber reden?“

„Nein“, sagte ich mit Bestimmtheit.

„Sehen wir uns dann morgen? Ich würde dir gerne zeigen, wie du gegen Blutvergiftungen vorgehen musst.“

Ich nickte und verließ mit hochrotem Kopf den Raum.

Am nächsten Tag war ich schon früh auf den Beinen und damit offensichtlich nicht die Einzige. Mein Vater und Skyler saßen bereits am Tisch in eine hitzige Debatte verstrickt.

„… werde ich niemals dulden!“, hörte ich meinen Vater gerade ausrufen. So aufgebracht hatte ich ihn noch nie erlebt.

„Was duldest du nicht?“, fasste ich sofort nach.

„Nichts. Guten Morgen, Liebes.“

Er nahm mich zur Begrüßung in die Arme. Ein unterdrücktes Beben durchfuhr seinen Körper, woraufhin ich Skyler zornige Blicke sandte.

„Dafür, dass es um nichts geht, habe ich euch beide bis in meinem Zimmer gehört.“

„Guten Morgen, Avery“, erklang die raue Stimme Skylers. Seine rotgeäderten Augen zeugten noch von dem übermäßigen Kumbraelgenuss.

Ich ignorierte ihn, rückte mir stattdessen einen Stuhl zurecht.

„Also?“

„Das hat Zeit bis nachher. Skyler wollte sowieso gerade gehen.“

Das kam einem Rauswurf gleich und machte den Ernst der Lage deutlich.

„Was ist denn in euch gefahren? Kann mir mal einer erklären, was los ist oder muss ich raten?“

Die Männer saßen mit versteinerten Mienen da, bis Skyler sich als Erster aus der Starre löste.

„Dein Vater will einfach nicht einsehen, wieso es unerlässlich ist, dass du mit mir nach …“

Mein Vater hob gebieterisch die Hand zum Zeichen dafür, dass Skyler schweigen sollte.

„Meine Tochter hat lange gebraucht, um sich hier ein neues Leben aufzubauen, etwas, das dich offenkundig nicht interessierte. Ich setze ihr Leben kein zweites Mal aufs Spiel“, fuhr er ihn mit ungewohnter Schärfe an.

„Es war nie meine Absicht, Averys Leben oder das anderer in Gefahr zu bringen, aber sie muss lernen, ihr Potenzial zukünftig besser einzubringen.“

„Das da wäre“, wandte ich mich nun doch an Skyler.

„Es sind nicht allein die Bilder, die du malst und die daraufhin zum Leben erwachen oder deine Fähigkeit, dich und andere mit einem Schutzzauber zu belegen. Der Grundstein deiner Gabe wurde dir bereits in die Wiege …“

„Raus aus meinem Haus!“

Mein Vater war aufgesprungen, baute sich drohend vor Skyler auf, dabei hätte dieser ihn mit einem einzigen Schlag zu Boden gehen lassen können.

Geschmeidig erhob er sich, um der unmissverständlichen Aufforderung meines Vaters Folge zu leisten.

„Wie du willst!“ Er zielte mit dem Zeigefinger auf ihn wie mit einer Waffe. „Du bist ihr Vater, Aris. Aber lass sie nicht länger im Ungewissen.“ Mit diesen Worten rauschte er davon, ohne sich nochmals umzudrehen.

„Ich will dich hier nicht mehr sehen, hörst du?“, schrie mein Vater ihm hinterher, um das letzte Wort in dieser Angelegenheit zu behalten.

Schwankend hielt er sich an der Tischkante fest. Ich ließ ihm die Zeit, die er benötigte, um seine Fassung wieder zu erlangen.

„Was ist zwischen euch vorgefallen?“, fragte ich leise.

„Er will, dass du mit ihm gehst. Aber das lasse ich nicht zu!“

„Ich soll mit ihm zurück nach Greenerdoor gehen?“

War er deshalb gekommen, damit ich seine Zugesprochene wurde, wie es die Bräuche der Bowmen verlangten?

„Nein, diesmal will er sicher sein, dass ich ihn nicht behindere und dich nach Kadolonné mitnehmen“, stieß er verbittert hervor.

„Nie gehört davon.“

„Ein winziges Bergdorf in Merdoran bei den Ellar Hills.“

Ellar Hills. Die Bezeichnung war stark untertrieben für eine Gebirgskette, deren Spitzen oft in den Wolken verschwanden und deutlich höher waren, als der Berg, der Burg von Kandalar.

„Woran hast du ihn denn schon einmal gehindert?“, hakte ich nach.

„Mit uns nach Gullorway zu kommen.“

Jetzt verstand ich überhaupt nichts mehr.

„Du hast …“

Mit einem schmerzhaften Ausdruck in den Augen sah er mich an.

„Er ist nicht gut für dich, Avery. Sieh dir doch bloß deinen Arm an. Mit einem Brandzeichen hat er dich als seinen Besitz gekennzeichnet. Welcher Mann tut einer Frau dies an?“

„Das war nicht er, das waren die Bowmen.“

„Deren Anführer er zu diesem Zeitpunkt war.“

„War?“, fragte ich verwundert.

„Offensichtlich hat er dir nicht alles gesagt.“ Triumph schwang in seiner Stimme mit. Er begann Geschirr zusammenzustellen und am Waschbecken zu werkeln.

„Wir haben kaum miteinander gesprochen, Vater. Er war müde von der Reise. Womit sollst du mich nicht länger im Ungewissen lassen?“

Mit hängenden Schultern stand er da, die knochigen Arme auf der Anrichte abgestützt.

„Nichts, Kind. Er war aufgebracht und wollte mich bloß beleidigen.“

Sanft drehte ich ihn zu mir um, zwang ihn, mich anzusehen.

„Welchen Grund hatte er dafür, Vater? Rede mit mir! Wir haben uns nie über das ausgesprochen, was in Gullorway passiert ist und danach.“

„Es liegt viel weiter zurück, Avery.“

Geständnisse

Das Frühstück stand unangetastet vor mir, der heiße Kräutertee war inzwischen kalt. Erst der Schmerz in meinen Händen, als sich meine Fingernägel darin vergruben, löste mich aus meiner Starre.

„Du darfst mich nicht hassen, Avery.“

Die Stimme meines Vaters klang flehend. Gemessen an dem Ausbruch von heute Morgen, als er Skyler aus dem Haus jagte, war sie nur noch gehaucht. Er räusperte sich, nahm einen kräftigen Schluck aus dem Wasserbecher. Seine Augen, die tief in den Höhlen lagen, sahen unendlich müde aus.

„Ich wollte es dir schon lange sagen aber …“

Lügen. Ein Leben, aufgebaut auf Lügen.

Wieder hatte ich vor Augen, wie er mich damals bat, für ihn die Karten zu legen, um Antworten in einer politischen Frage zu erhalten. Lüge. Die Karten waren in einem wilden Strudel davongetragen worden. Danach wiesen sie keine Bilder mehr auf und mein Vater war ohne jegliche Erklärung geflohen. Nach Perges, wie ich jetzt wusste, zu meiner Mutter – meiner leiblichen Mutter. Nicht die Mutter, die meine Schwester Charise und mich mit ihrer Liebe aufzog. Nicht die Mutter, die uns unserer roten Haare wegen vor den Herren von Kandalar beschützte. Nein, er wollte bei der Mutter seines Magier Bastards um Hilfe bitten …

Ich schloss die Augen, doch die Bilder, die in meinem Kopf zum Vorschein kamen, ließen sich nicht vertreiben. Gullorway, niedergebrannt bis auf die Grundmauern. Gelblinge, wie sie gefräßig in den Trümmern nach Überlebenden suchten. Und über allem lag der Geruch von verbranntem Fleisch – Menschenfleisch. Bis zum heutigen Tag war ich davon ausgegangen, sie alle in den Tod geschickt zu haben. Meine Schwester Charise, meinen besten Freund Miles und Charise‘ Mutter – nicht meine.

Die Herren von Kandalar griffen meinen Vater kurz vor Scarles auf. Ein willkommenes Druckmittel, dass sie gegen mich einzusetzen wussten, da ich über Kräfte verfügte, von denen ich selbst jetzt kaum etwas ahnte.

„Wann wolltest du mir denn sagen, dass ich der Bastard einer Hure bin?“

„Einer Magierin. Ich weiß, dass ich euch viel Kummer bereitet habe. Dennoch haben die Götter mich mit einer so wunderbaren Tochter gesegnet.“ „Lass die Götter aus dem Spiel, Vater.“ Tränen brannten mir in den Augen, als ich aufstand, um zu gehen. „Was wirst du nun tun, Avery?“ Schreckensbleich sah er mich an. „Herausfinden, was ich sonst noch kann, außer mich für dumm verkaufen lassen.“ Ich nahm meinen Hut vom Haken und schlug die Tür hinter mir zu, dass das Haus erzitterte. Ohne ein bestimmtes Ziel irrte ich durch das noch immer im Aufbau befindliche Gullorway. Mit hängenden Schultern, den Hut tief in die Stirn gezogen, versuchte ich, mich vor den Blicken aller zu verbergen. Wie von selbst trugen mich meine Füße vorbei an den Feldern, zum Ufer des Mukonors. Hier hatte ich mit Miles vor über einem Jahr gesessen. Er hatte die Angel ausgeworfen und ein seltsamer Fisch hatte angebissen. Mit roten Augen, die mich anstarrten, als wollten sie mir etwas sagen. Als dann noch Rauch zwischen den Kiemen des Fisches hervortrat, wusste ich, dass etwas Schreckliches bevorstand. Damals hatte ich noch keine Kenntnis davon, dass nur ich die Gabe besaß, derartiges zu deuten. Ich griff nach einem flachen Stein und ließ ihn auf den gekräuselten Wellen tanzen. Viermal sprang er übers Wasser, bis er versank. Ich war schon mal besser. Ich ließ mich nieder, um meine Gedanken zu ordnen. Mein Vater fand mich in einem Weidenkorb vor der Tür unseres Hauses, wie er mir stockend berichtete. Als einziger Hinweis meiner Abstammung steckte eine blaue Feder in dem Korb – das Zeichen der dunklen Magier. In meinem Lesestein hatte ich einmal darüber gelesen und nicht begriffen, dass dies Teil meiner eigenen Geschichte war. Die verräterische Feder ließ mein Vater verschwinden – das Findelkind zog er gemeinsam mit meiner Stiefmutter auf. Was sollte sie auch anderes tun, wo sie selbst erst einen Tag zuvor den zu früh geborenen, schwächlichen Sohn verlor? „Wie hast du mich gefunden?“, fragte ich und wusste augenblicklich, dass es Skyler war, der sich mir näherte. In seiner Heimat Greenerdoor gelang es mir nicht, ihn kommen zu hören, so leise konnte er sich anschleichen. „Jodee sagte mir, dass ich dich hier finde.“ Seit wann war sie so geschwätzig? Ich schob mein Kinn grimmig vor, starrte weiter aufs Wasser. Fast erwartete ich, dass der wundersame Fisch wieder daraus auftauchte, um mich vor was auch immer zu warnen. „Also hat dein Vater es dir gesagt?“ Statt zu antworten, stellte ich eine Gegenfrage. „Woher wusstest du davon?“ „Dein Lesestein. Er enthält zahlreiche geheimnisvolle Geschichten.“ Skyler hatte ihn in Besitz genommen, als ich die Gefangene seines Clans war. Da war ich noch davon ausgegangen, dass er ein tyrannischer Wilder ist, der in den Bäumen lebt und nicht lesen kann. „Ich sollte mir wohl mal die Zeit nehmen, die Rätsel darin zu entschlüsseln.“ Mein Vater vertraute mir den Lesestein einst an, der das Wissen sämtlicher Bücher beinhaltete. Viel zu spät begriff ich, dass er mir den Stein auch geschenkt hatte, um all die Geheimnisse, die er bewahrte, nicht selbst erklären zu müssen. „Und wie lautet deine Geschichte?“, fragte ich ihn mürrisch. „Welche Geschichte?“ Er wirkte wachsam. „Heute ist so ein Tag dafür sie loszuwerden. Mein Vater hat den Anfang gemacht. Du könntest damit beginnen mir zu erzählen, warum du nicht mehr der Anführer der Bowmen bist.“ Er sog tief die Luft ein, bevor er antwortete. „Er konnte es wohl kaum erwarten, dir das zu berichten, was?“ „Ich will hier nicht stellvertretend für meinen Vater euren Streit fortsetzen. Was ich will, sind Antworten.“ Er fuhr sich mit der Hand durch die langen Haare. Eine Geste der Unsicherheit, wie ich sie von ihm nicht kannte. „Ich habe meine Führung an Woodrow abgegeben.“ „Einfach so?“ Sein Blick nahm mich ein und ließ mich wieder los, als er sich ein Stück von mir entfernt niedersetzte. „Es war ein Tausch.“ „Und was bekamst du dafür?“ Er sah mich prüfend von der Seite an. „Noch nichts.“ Aber ich verstand auch so. Bei meiner Gefangennahme war Woodrow unter den Jägern gewesen und ich nach ihren Gesetzen seine Beute. Er hatte sein Recht nie eingefordert – bis jetzt. „Und damit hat er sich zufriedengegeben?“ „Ja.“ Ich schwieg. Zog meinen Hut weiter nach unten, um meine Augen zu beschatten. „Du verträgst die Sonne nicht gut“, bemerkte er nach einer Weile. Wie scharfsinnig. „Nein. Gibt es in den Bergen mehr Schatten?“ Er sah mich fragend an. „In Kadolonné. Gibt es da mehr Schatten?“ Seine Miene hellte sich merklich auf. „Ja. Dafür sind die Nächte empfindlich kalt.“ „Warum hast du mich nicht gefragt, ob ich mit dir dahingehe?“ „Das wollte ich, aber du bist nicht gekommen. Und als ich heute Morgen bei euch war, bin ich zuerst mit deinem Vater aneinandergeraten. Kein guter Anfang.“ „Was hattest du erwartet? Du hast dir ein Jahr Zeit gelassen, nach Gullorway zu kommen. Jetzt soll ich dir bereitwillig folgen? Ich habe mein Dorf mit den eigenen Händen erneut aufgebaut und es ist längst noch nicht fertig. Wir brauchen eine Schule, mehr Heiler und jemanden, der die Rechte der Frauen stärkt.“ „Also jemanden wie dich?“ Ein säuerlicher Ausdruck kräuselte seine Lippen. „Ich bin kein Anführer, Skyler, ich stelle nur die Weichen. Ansonsten möchte ich nur ein normales Leben führen.“ Er stieß entrüstet die Luft aus. „Was ist für dich ein normales Leben?“ „Zu sehen, wie mein Dorf wächst, dass Frauen Berufe erlernen, die sie selbst gewählt haben, dass die Menschen in Frieden …“ Mit einer blitzschnellen Drehung war er über mir und zwang mich zu Boden. „Frieden? Bist du so naiv, Avery? Hat dich die Geschichte nichts gelehrt?“ Seine Augen funkelten angriffslustig. „Ist das friedlich, wenn ich dich zu Boden zwingen kann?“ Seine Hände umschlossen meine Unterarme wie Schraubstöcke. „Du tust mir weh!“, keuchte ich. „Dann wehr dich!“ „Was ist denn in dich gefahren, Skyler?“ Langsam machte mir sein Verhalten Angst. Er schien es zu bemerken und ließ mich los. Kaum hatte ich die Hände frei, holte ich aus und schlug ihm mit der Handkante gegen das Kinn. Ein bohrender Schmerz durchfuhr mich und ich ballte die Hand zur Faust. „Geht doch.“ „Du hast sie ja nicht alle!“ Ich zwang mich, ruhig zu atmen. „Was hat dir dein Vater über deine Herkunft erzählt?“ „Das geht dich nichts an.“ Mit Genugtuung registrierte ich, wie sich sein Kinn von meinem Schlag dunkelrot verfärbte. „Hat er dir über deine Mutter …“ Unbändige Wut stieg in mir auf. Ohne Vorwarnung schlug eine Salve Feuerkugeln aus meinem linken Zeigefinger so dicht neben seinem Oberschenkel ein, dass es ihm das Leder seiner Hose schwärzte. Erschrocken über meinen unkontrollierten Ausbruch wich ich zurück, mir die eiskalte Hand reibend. Eine Nebenwirkung, die meinen Arm nach solchen Einsätzen praktisch in einen gefühllosen, kalten Eisklotz verwandelte. „Du besitzt sie also noch, deine Kräfte. Gut. Aber du solltest lernen sie besser zu kontrollieren.“ Er stand auf und klopfte sich zerdrückte Grashalme von der Kleidung. „Du kannst natürlich in Gullorway bleiben und darauf hoffen, dass dich einer dieser einfältigen Burschen irgendwann zu seiner Zugesprochenen macht. Aber können sie dein Dorf auch vor einem erneuten Angriff bewahren?“ „Es wird keine Angriffe mehr geben. Die Herren von Kandalar sind tot. Und wenn du weiterhin den Wilden spielen willst, kannst du wieder zurück in deinen Dschungel gehen.“ Ich griff nach meinem Hut und wollte auf einem anderen Weg zurückgehen. Doch eine Bemerkung von ihm ließ mich innehalten. „Sie sind nicht tot.“ „Was redest du denn da? Du warst doch dabei als die Burg gestürmt und alle bis auf den letzten Mann getötet wurden. Selbst ihre grausigen Geschöpfe, die Gelblinge, habt ihr niedergemetzelt.“ „Es gibt Gerüchte.“ „Seit wann gibst du etwas auf das, was die Leute sagen?“ „Diesmal schon. Die Nachrichten kommen aus Perges – und, wir haben Amarotts Leiche nie gefunden.“ „Die Toten wurden verbrannt“, erinnerte ich ihn. „Aber erst nachdem wir sie gezählt und identifiziert hatten. Fünfhundertdreiundsechzig der Herren von Kandalar – und Amarott war nicht unter ihnen. Er muss einen Fluchtweg gefunden haben.“ Mir blieb fast das Herz stehen. Amarott, der Erbe Mahilo-Eschs und – Skylers Halbbruder. Das Letzte was ich von ihm sah, war der verzweifelte Versuch, in sein Haus hineinzugelangen, bevor er mit dem wütenden Mob verschmolz. Ich stand auf der anderen Seite der Tür, deren Eintritt ich ihm versperrte. Skyler strich mir sanft über den Arm. Die Berührung verursachte mir trotz der Mittagshitze eine Gänsehaut. „Das kann unmöglich wahr sein“, hauchte ich. „Ich war nochmals dort, auf der Burg von Kandalar. Dabei habe ich etwas entdeckt.“ Gespannt hielt ich den Atem an. „Einen unterirdischen Gang. Wusstest du davon?“ Statt einer Antwort nagte ich an meiner Unterlippe und dachte fieberhaft nach. Konnte es sein, dass Amarott diesen Weg gewählt hatte, um sich heimlich davonzustehlen? Und falls ja, wie war es ihm gelungen, zu der Insel Perges zu gelangen? „Die Burg hat zahlreiche geheime Gänge.“ „Du hast eine Weile dort gelebt. Vielleicht erinnerst du dich an einen …“ „Fängst du schon wieder damit an? Ich hatte mir die Gesellschaft nicht freiwillig ausgesucht.“ Er trat näher. „Entschuldige. Ich wollte dir nichts unterstellen.“ Abrupt wandte ich mich von ihm ab. „Nenn mir einen Grund, warum ich ausgerechnet mit dir nach Kadolonné gehen sollte“, maulte ich vor mich hin. „Weil es noch nicht vorbei ist. Die Bedrohung besteht nach wie vor.“ „Hast du dafür Beweise?“ „Mag sein, dass es nur ein Gerücht ist. Aber wenn wir auf Beweise warten wollen, könnte es zu spät sein!“ „Wir? Für dich steht also schon fest, dass ich mitkomme? Seit wann weißt du davon?“ „Spielt das eine Rolle?“ „Du weichst mir aus. Seit wann?“ „Seit einer Woche.“ „Und wenn du nie davon erfahren hättest?“ „Wäre ich trotzdem nach Gullorway gekommen, falls du darauf anspielst.“ Sanft drehte er mich zu sich um. In seinem Gesicht war ein innerer Kampf abzulesen. „Die Zeiten haben sich geändert, Skyler. Auch wenn ich euer Brandzeichen trage, bindet es mich nicht mehr an die Bowmen. Ich kann entscheiden, wie und wo ich leben möchte.“ Seine Hände gaben mich frei. Trotzig verschränkte ich die Arme vor der Brust, brachte wieder etwas Abstand zwischen uns. „Ich war in Kadolonné. Viele Monate“, begann er stockend, die Augen aufs Wasser gerichtet. „Fast hätte ich mich darin verloren aber …“ Für den Bruchteil einer Sekunde huschte ein ungewohnt scheues Lächeln über seine Gesichtszüge und verriet den Menschen hinter der harten Schale. „Erzähl mir davon“, ermunterte ich ihn ergeben, weil ich spürte, dass es wichtig war, was er mir zu sagen hatte. „Das Kloster Kadolonné haftet an dem Bergmassiv der Ellar Hills, als wäre es daraus entwachsen und nicht von Menschenhand erschaffen, den Javeérs. Vor hunderten von Jahren wurden von Perges aus dreizehn Mönche entsandt, um die bedrohte Kultur der Ya-Aks im Kampf zu unterstützen. Als Dank für ihre guten Dienste wurde das Kloster Kadolonné in den Ellar Hills errichtet und ihnen besondere Privilegien zugestanden. So kam es ihnen unter anderem zu, Mönche als Krieger auszubilden. Die Kampfkünste der Mönche wurden in unzähligen Varianten und Techniken ausgeübt. Doch als ihr Großmeister im Kampf gegen die Herren von Kandalar heimtückisch von einer unbekannten Macht getötet wurde, wussten selbst sie nichts dagegen auszurichten. Mit den Jahren geriet das Kloster in Vergessenheit.“ Er trat ans Ufer, hockte sich nieder und forderte mich mit einem Wink auf es ihm gleichzutun. Dann löste er die Riemen seiner Stiefel, streifte sie ab und streckte seine langen, muskulösen Beine von sich, dass die nackten Füße vom Wasser überspült wurden. „Warum warst du in Kadolonné?“, bedrängte ich ihn, bevor er sich mir wieder verschloss. Einen Moment senkte er die Augenlider, als wolle er einfach nur die erfrischende Kühle des Stroms genießen. „Weil ich erfahren wollte, wer ich bin. In Amarotts und meinen Adern fließt das gleiche Blut – wenn unsere Väter auch nicht dieselben waren.“ „Und? Hast du bei den Javeérs die Antworten gefunden, nach denen du suchtest?“ Meine Stimme klang belegt. „Ein Mönch wusste zu berichten, was ich jahrelang aus meinem Gedächtnis ausgesperrt hatte: Lord Mahilo-Esch, der ein Faible für junge Frauen hatte, lernte meine Mutter kennen, da war sie gerade sechzehn. Sie hingegen erwiderte seine Liebe nicht. Zum damaligen Zeitpunkt wusste Mahilo-Esch nicht, dass sie bereits ein Kind von meinem Vater erwartete – mich.“ Skylers Augen verdüsterten sich. „Als er sie also für sich beanspruchte und mein Vater ihm dabei im Weg war, verbannte er ihn kurzerhand in die Ellar Hills, darauf hoffend, dass er dort sein Ende fand. Schon bald dämmerte ihm, dass ich nicht ihr gemeinsames Kind sein konnte. Kaum, dass ich geboren war, ließ er mich irgendwo aussetzen. Der Zufall wollte es, dass mich eine kinderlose Frau aus Timno Theben fand und bis zu meinem fünften Lebensjahr aufzog.“ Ich sah ihn an und las den Schmerz in seinen Augen über das, was nun folgte. „Mahilo-Esch behandelte meine Mutter wie eine Leibeigene, wie man mir erzählte. Sie hatte ihm zu Diensten zu sein, wann, wo und wie er wollte. Dabei ging er – sehr experimentell vor. Sie war die erste Frau, die zu den gefürchteten Gelblingen mutierte.“ Skylers Stimme veränderte sich und nahm einen schroffen Tonfall an. „Auf irgendeine Weise musste meine leibliche Mutter davon Kenntnis erhalten haben, wo die Frau lebte, die mich aufzog. Sie hat sie getötet und mich – na ja, die Narben dürften dir nicht verborgen geblieben sein.“ Narben, die sein kunstvolles Tattoo auf der Brust, eine geflügelte Schlange, durchtrennten. „LeBronn, der Bruder meiner Ziehmutter und selbst ein ehemaliger Mönch der Javeérs war es schließlich, mit dem ich nach Greenerdoor ging. Gerade mal eine Hand voll Männer schlossen sich uns an. Den Rest der Geschichte kennst du ja.“ „Aber was ist dann mit Amarott? Ich denke, er ist dein Halbbruder?“ „Er war das letzte Kind unserer Mutter, bevor sie vollends mutierte.“ Es entstand eine unangenehme Pause, in der ich ihm Zeit gab, sich zu sammeln. Dennoch brannte mir eine Frage unter den Nägeln. „Es tut mir leid für dich, dass du so traurige Nachrichten erfahren musstest. Was hat dich trotzdem dazu bewogen, so lange bei den Javeérs zu bleiben?“ „Du gibst heute wohl keine Ruhe mehr, was?“ Sein Gesicht wirkte noch angespannt, doch den Worten fehlte die Schärfe. „LeBronn hatte mir einst geraten, ich solle sie aufsuchen, wenn er von dieser Welt ging. Er war einer von ihnen. So bat ich die Javeérs, mich zu lehren, wozu sie fähig sind. Dies im Einzelnen aufzuzählen würde jetzt den zeitlichen Rahmen sprengen. Wie du sicherlich schon bemerkt hast, verfüge ich bereits über die ein oder andere Begabung“, setzte er voraus. „Falls du damit andeuten willst, dich anzuschleichen, ohne dabei das geringste Geräusch zu machen, so musst du noch daran arbeiten.“ „Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Er brachte ein Lächeln zustande, bei dem mir augenblicklich warm ums Herz wurde. „Es sind überwiegend kämpferische Fähigkeiten. Da die Zeit drängt, setzten sie dort an, wo vorhandenes Potenzial nur verfeinert werden musste. Doch reicht dies bei Weitem nicht aus.“ Schweigend verarbeitete ich das soeben Gehörte, bevor ich ihn fragte: „Warum soll ich mit dir nach Kadolonné gehen?“ „In dir ruhen bereits all ihre Gaben, wodurch du viel schneller über die gesamte Leistungsfähigkeit verfügen wirst. Die Javeérs werden erwecken, was in dir steckt. Es ist an der Zeit, dass du deine Magie überlegen einzusetzen lernst.“ Er strich mir sachte übers Gesicht. „Und – weil es mein Wunsch ist, dass du statt meiner die Ausbildung bei ihnen aufnimmst.“ „Ich werde darüber nachdenken.“ So einfach wollte ich mich nicht geschlagen geben. Ich ließ ihn stehen und marschierte zurück.