Romica und Julio

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Romica und Julio
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Jan Riebe

Romica und Julio

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Szene 1

Szene 2

Szene 3

Szene 4

Szene 5

Szene 6

Szene 7

Szene 8

Szene 9

Szene 10

Szene 11

Szene 12

Szene 13

Szene 14

Szene 15

Szene 16

Szene 17

Szene 18

Szene 19

Szene 20

Szene 21

Szene 22

Szene 23

Szene 24

Szene 25

Szene 26

Szene 27

Impressum neobooks

Ein Spektakel, das sich niemand entgehen lassen sollte.

Ritter, Drachen und die einzige, wahrhaftige, große Liebe.

Lassen Sie sich bezaubern, von:

Romica und Julio

CHOR: Nun Vorhang auf,

das Leben ruft

nach Schicksals Hand,

Theaterluft.

Zu kitschig, hör’n wir manche klagen,

fingiert, die vorgespielten Plagen.

Doch der, den das nicht weiter stört,

wer sitzen bleibt

uns singen hört,

erlebt die Liebe,

sie brennt hell wie Stroh,

von Romica und Julio.

Szene 1

Warum nur, fragte sich Apfelkern, war es so schwierig, ins Innere der Menschen zu blicken?

Nicht wörtlich ins Innere, ermahnte sie sich zur Genauigkeit. In ihre Gedanken schauen wollte sie, hinter einen Blick, eine Geste, ein Wort. Denn all das, was die Leute »miteinander reden« nannten, schien offenbar im Grunde dazu da zu sein, genau davon abzulenken, was sie eigentlich sagen wollten.

Apfelkern war an diesem Morgen die erste in der Schule gewesen. Sie hatte gesehen, wie der Nebel in seine Höhlen und die Schatten zurück zu ihren Besitzern gekrochen waren. Die Luft hatte nach Erwartung gerochen, als sie über den Dorfplatz gehuscht war, das Buch in der Hand, zu der Hütte, die sie die Schule nannten. Sie konnte sich nicht erinnern, in der letzten Nacht geschlafen zu haben.

Nach und nach waren die anderen gekommen. Es gab keine Sitzreihen, sondern ein großes U aus Tischen und Bänken und am offenen Ende eine Tafel. Die Schule war für alle da, von den jüngsten bis zu den ältesten Kindern des Tals, von der Schäfertochter bis zum Sohn des Fürsten. Minna, Jurte, Arthur, Tomas, Nils, Stiff, die beiden Zwillinge Christian und Christopher, Gabriela, Klaudius, Tzementina, Aaron, dessen Hosenbeine aussahen, als hätte ihn sein Schulweg an diesem Morgen durchs Moor geführt, Jasper, Terry, Judidth, Annette, Patrik, Chulian, Oomir, Andreas, Lilli, Lilly und Lillith, Andrea, Waldemar, Finja, Bruno, Lars und Veronica. Martha und Bärbel tuschelten miteinander, sahen kurz zu Apfelkern und kicherten dann hämisch. Dierk, Nickola und Thea hatten das Buch aufgeschlagen und lasen darin. Als einer der letzten war Julio gekommen. Sein Blick hatte den von Apfelkern getroffen und einen Moment gebrannt. Dann hatte er sich eilig abgewandt, als er bemerkte, dass sie ihn beobachtete, und jetzt schien er sie aufmerksam zu ignorieren. Er blickte so deutlich nicht in ihre Richtung, dass es sich anfühlte, als starrte er sie unentwegt an.

Wie viel einfacher alles wäre, wenn sie seine Gedanken lesen könnte, seufzte Apfelkern in sich hinein. Was bedeutete es, dass er versuchte, sie nicht zu beachten? Wollte er ihr damit etwas sagen? Oder war er einfach nur schüchtern?

War er jetzt so erwachsen, dass er nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte, oder bedeutete es, dass ihre Freundschaft seit neuem eine andere Ebene gefunden hatte. Bedeutete es vielleicht doch... scheue Zuneigung?

Sie kannten sich seit sie sprechen konnten. Gemeinsam hatten sie die Höhlen in den Felsspalten erforscht und in den alten Gemäuern gespukt. Julio trug noch heute eine Narbe auf dem Rücken seiner rechten Hand von dem Tag, an dem sie den Gipfel der Schroffen Klinge hatten erklettern wollen. Sie waren nicht höher gekommen als Oma Werther auf ihrem wöchentlichen Spaziergang, aber ein Abenteuer war es trotzdem gewesen. Julio war abgerutscht, und ein Zacken im Fels hatte ihm die Hand aufgeschlitzt. Blutüberströmt waren sie beide ins Dorf zurückgekehrt, und Apfelkern hatte seine Wunde verbunden, weil er es nicht gewagt hatte, nach Hause zu gehen aus Furcht vor der Ansprache, die ihn dort erwartet hätte.

Sie waren im Spiel in die unterschiedlichsten Rollen geschlüpft, waren Berglöwen gewesen und Drachen, Abenteurer und Schafhirten. Julio hatte gerne Prinz gespielt – eine Rolle, die ihm nicht viel Fantasie abverlangte – und sie war die Prinzessin gewesen, die er aus den Fängen jeder Kreatur gerettet hatte, die sie sich ausdenken konnten.

Wehmütig erinnerte sie sich an die Spiele zurück.

Sie hatten gemeinsam Kaulquappen aus den Teichen gefischt und großgezogen, bis es Frösche waren, jedes Jahr.

Nur in diesem nicht.

Sie seien zu alt für so etwas, hatte Julio erklärt und war mit seinem Vater auf die Jagd geritten. Apfelkern hatte alleine Kaulquappen gefischt und sich gewundert, dass man für etwas zu alt sein konnte. Früher war sie für alles nur immer zu jung gewesen.

»Wenn ich jetzt nicht zu ihm gehe, dann niemals«, ermahnte sie sich. Zumindest nicht mehr heute. Und wer wusste, wann sie dann den Mut dazu fand?

Sie schloss die Augen und erhob sich, so natürlich wie sie konnte. Sie spürte die Blicke der ganzen Klasse auf sich ruhen. Vorsichtig öffnete sie die Lider und sah sich um, doch niemand schien Notiz von ihr zu nehmen. Sie setzte sich neben Julio.

»Aufgewacht!« strahlte sie ihn an. Das Grinsen half. Sie war weniger nervös.

»Morgen.« Seine Stirn lag in Falten.

Sie blickte in seine müden Augen und wusste, dass es der Moment war, an dem sich alles entschied. Sie musste etwas sagen. Doch in ihrem Kopf waren so viele Worte wie auf einem weißen Blatt Papier.

Die Runzeln auf Julios Stirn wurden noch tiefer. Er sah Apfelkern verwirrt an, als hätte er an diesem Morgen ein bellendes Schaf gesehen. Dann sah er zur Tafel, als versuchte er, dort etwas zu entziffern.

»Hast du es gelesen?« fragt er.

Apfelkern löste sich aus ihrer Starre. »Was?«

»Das Stück.«

»Ach«, stotterte sie und lachte. Sie nickte und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Sie hatte einmal gelesen, dass es auf Jungen anziehend wirkte, wenn sich ein Mädchen die Haare aus dem Gesicht strich. Es musste eine Art geheimer Code sein, den alle kannten, ein Zeichen der Zuneigung, das niemand bemerkte, und doch jeder verstand. Ebenso verhielt es sich mit Blinzeln und besonders mit langen Blicken.

»Und?« riss Julio sie wieder aus Gedanken. »Was meinst du?«

»Über das Stück?«

»Ja.«

Innerlich jubelte sie. Ein normales Gespräch zwischen ihnen. Das hatte es schon länger nicht mehr gegeben. Es war eine gute Grundlage. Jetzt musste sie zusehen, dass sie einer Meinung waren, und wenn die Stimmung aufgelockert war, würde sie es ihm sagen.

»Es ist gut geschrieben, finde ich?«

»Wirklich?« Er sah sie aus großen Augen an.

»Na ja, sprachlich. Da war es wirklich außergewöhnlich, finde ich. Die Worte, die sind außergewöhnlich.«

 

Sie nahm das Buch, blätterte und zitierte: »'Geziemt euch wohl, hulde Knaben.' Wann hast du jemals jemanden 'Geziemt' sagen hören?«

»Mein Vater redet manchmal so, wenn er einen schlechten Tag hat, oder man ihn auf dem falschen Fuß erwischt. Wenn er 'geziemt' sagt, dann ist es Zeit in Deckung zu gehen.«

Julio lächelte wieder. Ein wenig gequält, aber es war ein Lächeln. »Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan.«

»Ich auch nicht.«

»Das Stück ist einfach zu sperrig. Ich meine, einmal reden sie fünf Seiten lang übers Heiraten. Fünf Seiten!«

Apfelkern unterdrückte ein »aber«. Sie waren offenbar nicht einer Meinung über das Stück. Sie musste zugeben, dass die Szene, in der fünf – eigentlich nur viereinhalb – Seiten über die anstehende Hochzeit geredet wurde, zäh war. Aber das Stück hatte etwas an sich, das Apfelkern im tiefsten Inneren angesprochen hatte. Sie hatte darin etwas über sich selbst entdeckt, etwas, das zuvor bereits da gewesen war, doch das sie nicht verstanden hatte. Wie eine Blüte hatte es sich in ihr geöffnet und erfüllte sie seitdem mit einem süßen Duft.

Sie und Julio, sie waren füreinander bestimmt. Das Schicksal hatte sie ausgewählt und zusammengeführt. Sie hatte endlich verstanden, dass sie Julio liebte.

»Kann es sein, dass mit deinen Augen etwas nicht stimmt?« fragt er und sah sie besorgt an. »Vielleicht solltest du die Alte einen Blick darauf werfen lassen. Du blinzelst immerzu.«

Apfelkern seufzte. Wie konnten Jungen so blind sein.

»Elisabeth«, tadelte sie ihn, aber nur in ihren Gedanken. »Sie heißt Elisabeth.«

Warum nur nannte niemand Elisabeth beim Namen? »Die Alte«, nannte man sie, wenn man sie brauchte, sogar »die Weise«, wenn man sie aber nicht brauchte »die alte Hutzel, die Giftmischerin« oder schlimmer. Jeder kannte ihren echten Namen, doch niemand benutzte ihn. Vielleicht weil sie in den Augen der Leute wie ein Teil des Tals selbst war, wie die Berge, die verfallenen Bauten aus längst vergessener Zeit, der Fluss, der seit Menschengedenken von Sonnenaufgang nach Sonnenuntergang floss, oder der Regen. Sie war die Lehrerin und sie schien schon immer da gewesen zu sein.

»Aufgewacht.«

Der Singsang von Elisabeths Stimme zog Apfelkerns Aufmerksamkeit fort von Julio. Sie hatte nicht bemerkt, dassdie Lehrerin gekommen war, doch jetzt füllte deren Anwesenheit die Schule aus, wie das Licht einer Kerze einen dunklen Raum.

Apfelkern wagte einen Blick in die Runde. Alle waren da, die da sein sollten. Alle warteten gespannt, was geschähe. Keiner von ihnen hatte je ein Theaterstück im alten Amphitheatererlebt. Doch bald war ihr Tag.

Niemand wusste, wann und von wem das Amphitheater erbaut worden war, doch seit jeher kamen die Menschen des Tals nach jedem Vierteljahrhundert zur Sommersonnwende dort zusammen, um dem Vergehen der Zeit zuzusehen. Ein jeder spielte nur ein einziges Mal mit in dem Theaterstück, das anlässlich dieses besonderen Tages aufgeführt wurde, und man erinnerte sich zurück, wie man selbst auf der Bühne gestanden hatte, für kurze Zeit der Mittelpunkt des Universums. So jedenfalls hatte Apfelkern gehört.

»Schön«, hob Elisabeth an, nahm ihr Buch in die Hände und auf ihrem Stuhl an der Tafel Platz, »dass ihr alle gekommen seid, obwohl ihr den Titel des Stückes kennt, das ihr gemeinsam spielen werdet.«

Es gab hier und da ein verlegenes Lachen.

»Manche, hoffe ich doch, gerade deswegen.«

Elisabeths Blick machte die Runde und streifte den von Apfelkern. Ein stolzes Lächeln fand seinen Platz auf Apfelkerns Gesicht.

»Ich finde, es ist langweilig.«

Das kam von Julio, und Apfelkern war es, als hätte er sie mit dem Buch zwischen die Rippen gestochen. Wie konnte er vor allen so über das Stück sprechen? Er untergrub Elisabeths Autorität.

Elisabeth nickte gütig. »Ich denke mir schon, welche Stellen dir nicht gefallen. Die Szene, in der Elphrania und Phlygesia fünf Seiten lang über die Hochzeit von Grosgorus reden, will ich am liebsten herausstreichen. Vielleicht sollten wir das machen.«

Sie schlug ihr Notizbuch auf und notierte etwas. Wie jedes Mal kribbelte in Apfelkern der Wunsch zu erfahren, was genau die Lehrerin niedergeschrieben hatte. Aber auch deren Gedanken waren ihr verborgen.

»Wir müssen das Stück für uns passend machen und für unser Publikum. Der Text ist sperrig, aber du wirst sehen, es wird auch dir noch gefallen, Julio, sobald du deinen Zugang gefunden hast. Ich habe es ausgesucht, weil ich glaube, dass ihr alle euch darin wieder finden werdet. Und bestimmt hat es auch ein paar Stellen, die dir sofort gefallen. Hast du bis zum Ende des ersten Aktes gelesen?«

Julio nickte.

»Das Schwertgefecht zwischen Heraldius und Tyhboo, das ist doch dein Geschmack.«

»Ein bisschen«, gab Julio zu. »Dann will ich aber Heraldius spielen. Ich lasse mich bestimmt nicht töten.«

Ein Grummeln ging durch die Runde. Offenbar war Julio nicht der einzige, der es auf die Hauptrolle abgesehen hatte. Doch bevor noch irgendjemand irgendetwas sagen konnte, erklang ein Wiehern und dann ein Ruf: »Heyda, ihr Leute! Aus euren Häusern gekommen und versammelt euch! Begrüßt Graf Roland und seine Familie, eure neuen Herren! Laufet herbei! Laufet herbei!«

Die Stimme gehörte einem Reiter, der in wilder Hast durch das Dorf preschte, als wären die Häuser schlafende Schafe, die es aufzuwecken galt. Sie hatte eine beinahe magische Wirkung.

Szene 2

»Der König kommt!« rief jemand. »Der König kommt!«

Mit einmal fand sich Apfelkern in einem Pulk von Menschen wieder, die eben noch still auf den Bänken der Schule gesessen hatten und jetzt in Richtung der Südstraße drängten.

»Der König kommt!« Es wurde gerufen, geraunt, gemunkelt.

»Der König kommt!« Aus den Häusern kamen Männer und Frauen gestakst. Einen Augenblick lang sah Apfelkern ihren Vater mit seiner geblümten Kaffeetasse vor sich im Gedränge, eine Hand an der Backe, als hätte er sich selbst geohrfeigt und dabei nicht an den Sekundenkleber an seiner Hand gedacht, dann war er hinter dem korpulenten Metzger verschwunden.

Noch nie hatte Apfelkern die Straßen so voll erlebt. Es schien, als hätte sich nicht nur jeder aus dem Dorf eingefunden, sondern hätte noch ein paar Verwandte aus dem Küchenschrank gezogen, die sonst nie das Licht des Tages sehen durften.

»Der König kommt!«

Einmal, so erzählt man sich, war der König im Tal gewesen. Lange vor Apfelkerns Geburt war das gewesen. Wahrscheinlich sogar lange vor der Geburt von Apfelkerns Eltern und vielleicht sogar vor der Geburt Elisabeths. Es hieß, er sei in einer Kutsche ganz aus Gold gekommen. Der Tross seiner Diener sei so lang gewesen, dass der letzte erst Tage nachdem der König wieder abgereist war das Dorf passierte. Was auch immer der König berührt habe, sei zu Gold geworden, und als er die Schule besichtigteund den fleißigsten Schüler gesehen hatte, hatte er ihn umgehend zum Außenminister ernannt.

Man erzählte sich so einiges über den König, viel mehr als ein Buch von respektablem Umfang zu fassen vermag. Doch wenn er nun wirklich kam, wollte ihn auch Apfelkern sehen und wenn schon alleine nur, um zu wissen, was wahr war an den Geschichten und was nicht.

Am letzten Haus stockte die Menge. Reiter versperrten den Weg. Apfelkern sah von ihnen nur Schultern und Helm. Die Pferde waren verdeckt von den Leuten vor ihr. Von hinten drängten weitere nach, und es wurde immer enger. Sie reckte den Hals, doch es half nichts. Sie konnte nicht sehen, wer dort kam.

Wenn sie genau hinhörte, konnte sie unter dem vielstimmigen Geschnatter Huftritte hören.

Mit einem gemurmelten »Entschuldigung«, quetschte sie sich zwischen die beiden Männer, die vor ihr standen, und bekam wütende Blicke zugeworfen.

»Apfelkern!«

Sie sah sich um.

»Hier oben!«

Es war Julio. Mit Arthur und Klaudius, Raufsäcke von der Burg, von denen er sich früher zumeist ferngehalten hatte, saß er auf dem Dach des nächsten Hauses und winkte sie heran.

Apfelkern musste gegen den Strom gehen, um zu ihm zu gelangen. Zuerst kam sie kaum dagegen an. Es war, als wäre sie im Moor versunken und versuchte sich auszugraben. Dann wurde es immer einfacher. Wie eine Luftblase unter Wasser schnellte sie an die Oberfläche und erreichte ihr Ziel.

Das Hufgetrappel war jetzt lauter.

»Da! Die Kutsche!« rief jemand, was ein allgemeines Stöhnen und Rempeln verursachte.

An das Hausdach gelehnt, stand eine Leiter. Zu deren Fuß redete ein Mann auf einen Wachposten des Grafen – den alten Paul in seiner verbeulten Rüstung – ein.

»Das könnt ihr nicht machen!«

»Gräfliche Order.«

»Das ist mein Haus!«

Der alte Paul hob mahnend den Zeigefinger.

»Aber es steht auf dem Grund des Grafen.

Guten Morgen, Apfelkern.«

Paul nickte ihr zu und lupfte seinen Helm, der wie eine umgestülpte Salatschüssel aussah. Er war meist in Julios Nähe zu finden, wenn der sich nicht gerade heimlich davongeschlichen hatten, was früher fast immer der Fall gewesen war.

Apfelkern schenkte ihm ein Lächeln und huschte, unter Protest des Hausherrn, die Leiter hinauf.

Meistens war es störend, dass Julio der Sohn des Grafen war. All die höfischen Verpflichtungen und Diener hatten es ihnen nicht immer leicht gemacht, alleine zu spielen. Auch mieden ihn die anderen Kinder, und ihre Eltern waren meist unsicher in Julios Nähe. Wie sollte man mit einem Kind umgehen, von dem man wusste, dass ihm einmal das ganze Tal gehören würde?

Manchmal bot sein Adel jedoch auch Vorteile.

Von der Dachkante aus war die Sicht herausragend. Ein Tross von sicher mehr als zwanzig Reitern kämpfte sich seinen Weg über die immer schlammige Straße. Es war die Sorte von ritterlichem Aufzug, für die ein Bataillon Blechbläser als Begrüßungskomitee angemessen gewesen wäre. Doch so etwas gab es im Tal nicht, und so dienten als Untermalung nur die staunenden Rufe der Menge.

Die Rüstungen glänzten blank im Sonnenlicht. In der grün- braunen Landschaft, in der sonst nur Felsen nach einem Regenschauer glänzten, wirkten sie unwirklich. Nicht einmal der Graf besaß eine glänzende Rüstung, und die Helme seiner Wachen waren so matt wie ein Nebeltag.

So weit abseits der Städte waren andere Dinge wichtig. Das Leben im Tal bestand aus Nebel und Schafen. Wollte man, dass etwas auffiel und besonders schön war, so färbte man es in leuchtenden Farben. Doch zumeist war es nicht nötig, dass sich etwas bemerkbar machte. Die Menschen kannten jeden Stein und jedes Wasserloch, und wenn etwas Aufsehen erregen sollte, so musste es nur anders sein als zuvor. Die ganze Welt hatte eine Ordnung, die sich um das Leben im Tal drehte. Die Berge, die alten Ruinen, die zwei Burgen, einander gegenübergesetzt und getrennt durch eine Schlucht, der Fluss und das Dorf. All das war schon immer da gewesen wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter, Hoch- und Niedrigwasser, Regen und Sonne.

»Seht ihr das Banner?« fragte Arthur Julio.

Der nickte und setzte eine kennerische Miene auf. »Es ist nicht das des Königs.«

»Ich meine drei Sterne zu sehen.«

»Also ein gräfliches Banner.«

»Vielleicht Besuch«, versuchte Apfelkern sich an dem Gespräch zu beteiligen.

Julio zog die Stirn kraus und starrte angestrengt auf die Ankömmlinge. »Vielleicht.« Es klang wie eine Drohung.

Die Reiter kamen näher und jetzt sah Apfelkern auch die Kutsche. Sie war nicht aus Gold – Wie viele Pferde man wohl benötigt hätte, um eine Kutsche aus Gold überhaupt ziehen zu können? – sondern aus Holz und mit weißer Farbe angestrichen.

»Jubelt!« donnerte der Befehl eines Reiters. »Jubelt für euren neuen Herren und Grafen! Roland der Schöne!«

Es gab hier und da Applaus, doch im Allgemeinen waren die Leute viel zu sehr mit Staunen beschäftigt, um zu jubeln, und nicht wenige machten einen eher verwirrten Eindruck, allen voran Julio.

Er kippte beinahe vom Dach, als er aufsprang. »Ihr!« rief er dem Reiter zu. »Was sind das für Lügen? Es gibt hier schon einen Grafen.«

Doch seine Anklage ging unter im Donnern der Hufe. Die Ritter umrundeten die Zuschauer einmal und bildeten ein Spalier für die Kutsche. Dass sie dabei Erde aufwühlten, die beim nächsten Regen zu einer undurchdringlichen Schlammschicht aufweichen würde, schienen sie nicht zu beachten.

Die Kutsche hielt. Es wurde still. Nur das Schnaufen der Pferde war noch zu hören und das Grummeln von Julio neben Apfelkerns Ohr. Dann sprang der Kutscher vom Bock – seine Stiefel rasselten – und öffnete die Türe.

 

Ein weißer Handschuh schlängelte sich vor. Ein Mädchen stieg aus der Kutsche. Ihr Kleid, das im Wind seicht tanzte, war von einem blassen Blau. Ebenso ihr Lidschatten. Apfelkern fand, dass er etwas zu dick aufgetragen war, doch sie musste zugeben, dass sie noch nie Schminke von einer so klaren Farbe gesehen hatte.

Die Fremde setzte ihren ersten Fuß in den Schlamm. Ihre Schuhe waren nicht dafür gemacht einen Boden wie diesen zu betreten, doch wie zum Trotz, bewahrte sie eine aufrechte Haltung. Die Fremde mochte kaum älter sein als Apfelkern. Sie warf einen Blick auf die gaffende Versammlung, und obwohl zwischen ihnen mehr als zehn Meter lagen, erkannte Apfelkern das herablassende Funkeln darin.