Kurzgeschichtensammlung II

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Kurzgeschichtensammlung II
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Jan Nadelbaum

Kurzgeschichtensammlung II

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kissens Gang zum Fluss

Sommerschwüle

Die Rache

Die Mutmacherin

Am Kopierer

Das Forsthaus von Friedrichsheyde

Anhang

Impressum neobooks

Kissens Gang zum Fluss

Berta Kissen stand auf der Bank und blickte über die Dächer der Stadt. Von unten drang das Dröhnen des Verkehrs, das Knattern der Mopeds, das Summen der Autos und Brummen der Busse. Die dicke Berta holte tief Luft. Sie war Mitte fünfzig, anderthalb Meter groß und ebenso breit. Manche hielten sie für die Reinkarnation Trude Herrs oder zumindest für eine ihrer engeren Verwandten. Ihre schwarzen gelockten Haare hoben sich kontrastreich von der hellen Haut ihres Gesichtes und der kräftigen roten Brille ab. Sie wusste, dass die Männerwelt sie für zu dick befand und sie sich selbst eigentlich auch, doch hatte sie sich eine Gleichgültigkeit zu eigen gemacht, um die sie nicht wenige ihrer Kolleginnen beneideten. Berta war halt Berta, rund, ein bisschen schrill, aber sympathisch. Heute wollte sie wieder zum Fluss. Dort hatte sie jeden Mittwoch ein Treffen mit einem Amerikaner, einem richtig süßen! Sie bemerkte, wie ihre Kolleginnen stets zu tuscheln begannen, wenn sie mittwochmorgens deutlich aufgebretzelter als sonst das Büro betrat. Berta genoss es. Es war geradezu herrlich! Was ihre Kolleginnen sich wohl alles ausmalten, was sie sich alles einbildeten! Berta lächelte, zupfte ihren Blazer zurecht, der in der gleichen Farbe wie ihre Brille gehalten war und schritt zum Dachausgang. Unten am Bahnhofsplatz angekommen, marschierte sie in ihren pechschwarzen Pumps schnurstracks auf den Zebrastreifen zu. Das Pflaster nervte. Es war schon ziemlich alt und nicht mehr im besten Zustand. Sie blieb stehen, schob den linken Ärmel nach oben und riss es ab. Die Wunde war längst vernarbt. Es wanderte in ihre Hosentasche.

Am Zebrastreifen wartete eine Mutter, dass sie endlich die Straße überqueren konnte. Berta wollte einen Schritt nach vorne machen, als sie einen herannahenden Bus wahrnahm, der sie offensichtlich – was ihr unverständlich war – nicht gesehen hatte und an ihr vorbeisauste. Gerade noch hatte sie rechtzeitig halten können. Die Mutter vor ihren Füßen erwischte es allerdings. Sie blieb im Rinnstein liegen. Berta schaute kühl darüber hinweg und wechselte endlich die Straßenseite. Sie wählte den Weg durch die Altstadt, durch die engen Gässchen mit den Fachwerkhäusern, über die schmucken Plätzchen, auf denen es immerzu von Touristen wimmelte.

Sie bog in die Wenzelsgasse ein, vorbei an der kleinen Bäckerei, vor der ein Junge mit einem Bienenstich hockte. Schmerzverzerrten Gesichts drückte er stetsfort einen kalten Lappen auf die Stelle, die ihn peinigte. Berta zwinkerte ihm zu und wäre beinahe auf dem holprigen Pflaster gestolpert. Sie fing sich und ging weiter, sicher, elegant, wie eine Dame von Welt. Schließlich gelangte sie auf den Platz mit dem Bach. Eine Gruppe bayerischer Ausflügler bewunderte die Steinmetzkunst, die sich ihnen bot. Berta mochte bayerische Touristen nicht. Die waren ihr zu laut, zu rustikal. Auch diese Gruppe hörte sie längst, bevor sie sie sah. Es schienen richtige Lautsprecher zu sein, denn auf dem ganzen Platz hörte man nur Bayerisch, obwohl die Gruppe gerade einmal sechs Personen zählte.

Sie folgte dem Bachlauf und wurde Zeugin, wie ein Mann eine Frau schlug. Dann zerrte er an ihr, sie wehrte sich, schrie und lief davon. ‚Was ein Arsch‘, dachte Berta und bewunderte das wohlgeformte Gesäß, das sich unter dem Stoff der engen Hose abzeichnete. Sie geriet ins Schmachten, ließ sich aber nichts anmerken und setzte ihren Gang zum Fluss fort. Vor dem Schaufenster eines Handarbeitslädchens hielt sie kurz inne. Stickereien, Strickereien, Häkeleien – Berta hegte eine stille Bewunderung für all die Menschen, die so etwas schufen. Ihr fehlte dazu das Fingerspitzengefühl.

Gegenüber wohnte ein Debrecziner, mit dem sie vor vielen Jahren kurz etwas gehabt hatte. Dann war er nach Ungarn abgehauen und lebte jetzt wieder hier. Berta guckte verstohlen hinauf zu seinem Fenster, aber er schaute nicht hinaus. Sie seufzte. Sie hatte ihn ziemlich scharf gefunden und er sie auch, doch was vergangen war, war vergangen, das musste sie einsehen. Etwas weiter lehnte an einer Tür eine Flasche, die Berta wild grüßte, allerdings tat sie, als nähme sie keinerlei Notiz von ihm. Jedes Mal, wenn sie sich getroffen hatten, hatte er einen Kater gehabt. Solange es bei ihm war, war das für sie kein Problem gewesen, als er das Tier indes zu ihr mitschleppen wollte, hatte sie ihm erklärt, dass das nun wirklich zu weit gehe! Im Bett hatte er sich zudem eher als Knallfrosch denn als Granate erwiesen und da hatte Berta schlicht die Reißleine gezogen. Jetzt wedelte er jedes Mal mit dem Schwanz, wenn er sie auf der Straße erspähte und auch der Kater stürmte stets auf sie zu, sobald sie um die Ecke bog. Sie schob eilig die Brille ein Stück weiter nach oben – weshalb wusste sie selbst nicht – und stolzierte davon.

Die halbe Stadt kannte Berta Kissen. Auf dem Schachfeld im Hofgarten, einer kleinen Grünanlage, winkten ihr zwei Bauern. Ihre Damen genossen im Eiscafé Reiter am alten Turm nebenan einen Pharisäer. Berta nickte ihnen huldvoll zu und wich geradeso zwei Läufern aus, denen sie in ihren sportlichen Höschen lange lüstern hinterherglotzte.

Hinter dem alten Turm begann das warme Viertel der Stadt. Hier lebte alles, was Rang und Namen in der Schwulenszene hatte. Bisweilen ging es dort etwas gröber zu, was Berta nicht störte, denn dafür hätte sie jeden zweiten Typen anbeißen können. Die Straße verengte sich, wurde zu einem regelrechten Nadelöhr. Aus einem Fenster rief eine Männerstimme inbrünstig: „Ich komme!“ Jemand anderes antwortete vorwurfsvoll: „Schon?! Spritz mir nicht wieder die Kissen voll!“ Berta beeilte sich, dass sie unter dem Fenster wegkam.

Sie verließ die Altstadt und trat auf die große, von Kastanien umsäumte Allee. Sie wartete an einer Ampel auf Grün und staunte nicht schlecht, als ihr der zwischen den Basaltsteinen zu ihren Füßen steckende Löwenzahn in die Augen fiel. Wo der herkam? Irgendjemand musste ihn verloren haben. In der Stadt gab es zumindest keinen Zoo.

Straßenabwärts jagte derweil eine Frau einem ihrer Möpse hinterher, der sich verselbstständigt hatte. Der andere wollte ihr hingegen nicht recht folgen und so hechelte sie dem ersten nach, während der zweite sich von ihr widerwillig über den Bürgersteig schleifen ließ.

Durch einen romantischen Park erreichte Berta die Uferpromenade. Unter einer Gruppe Platanen stand eine kleine Kapelle. Sie spielte irgendeinen schwungvollen Marsch, der Bertas Vorfreude steigerte. Etwas weiter lagen drei junge Soldaten halbnackt und sonnten sich. Berta ließ sich nicht anmerken, dass sie – während sie geradeaus weitertippelte – knallhart nach rechts schielte. Ihr entkroch ein leises, lustvolles Stöhnen. Einer der Jungs schien ihr Gaffen trotz des Schiffchens, das er der Sonne wegen in sein Gesicht gezogen hatte, zu registrieren und reckte die Hand zum Gruße. Berta senkte beinahe majestätisch das Kinn und wandelte weiter, in Gedanken längst bei ihrem Amerikaner. Leicht erregt, wie sie es nach all der Zeit immer noch war, konsultierte sie die Uhr. Zehn Minuten früher als üblich! Sie ließ sich auf einer Bank nieder und beobachtete die Schiffchen, die den Fluss hinauf- und hinabglitten. Neben ihr im Gras entdeckte sie etwas. Sie kniff die Augen zusammen und glaubte, einen Hering zu erkennen. Was der hier zu suchen hatte? Vermutlich hatten Jugendliche ihn nach dem Zelten vergessen. Ungeduldig schaute sie erneut auf ihre Uhr. Noch sieben Minuten. Sie spürte, wie sie innerlich nicht mehr nur bebte, sondern regelrecht brodelte. Mittwoch war einfach der geilste Tag ihrer Woche.

Auf der Nachbarbank saß ein Mann, der sich mit zwei Tauben unterhielt. Irgendwann brüllte er sie an, fluchte, schimpfte, tobte und ließ die zwei verdutzten Frauen schließlich alleine zurück. Zornig stob er über die Uferwiesen hinweg, trat dabei auf einen Berliner, der die Sonne genoss und sich böse bei ihm beschwerte, doch ließ ihn das völlig unbekümmert. Berta beobachtete das Schauspiel und schüttelte lediglich den Kopf.

Endlich hatte das Warten ein Ende. Sie erhob sich und spazierte in Richtung des kleinen unscheinbaren Etablissements am Flussufer. Sie stieß die Tür auf und legte, wie üblich, das Geld schon im Voraus auf die Theke. Der ältere Herr mit Goldkette und leicht fettigen Haaren grinste.

„Was magst du heute für einen?“

Berta hob eine Augenbraue.

„Einen braunen…“, sagte sie bestimmt.

„Kein Ding, ich lasse ihn kommen.“

Er schellte. Es dauerte keine zehn Sekunden, und eine Tür öffnete sich. Ein großgewachsener, sportlicher junger Mann, ein Afroamerikaner, erschien, der Berta zu sich bat. Sie schlug kurz die Augenlider zu, fuhr sich mit der Zunge über die rotbemalten Lippen und folgte ihm fast willenlos in den angrenzenden Raum. Er half ihr aus dem Blazer und wies ihr das große Sofa zu, das in der Mitte des Raumes vor einem kleinen Tisch nur ihres drallen Körpers harrte. Sie setzte sich. Er stellte sich vor sie. Berta konnte die Gravur seiner Gürtelschnalle lesen, seinen männlichen Duft riechen, das edle Parfüm. Er sah streng zu ihr hinab; sie sah schmachtend zu ihm hinauf, dann auf seine gepflegten Hände, die sich halb in den Hosentaschen vergruben. Sie biss sich auf die Unterlippe. Sie kochte. Sie wusste, dass er wartete, dass er auf sie wartete. Und sie wollte es. Sie wollte es jetzt. Sofort. Er nahm die Hände aus den Taschen, schob die Daumen hinter den Gürtel und strich mit den Fingern über die Gürtelschnalle und den Reißverschluss. Dann fragte er: „Mit Zuckerguss oder Schokolade?“

 

„Zuckergussss…“, zischte Berta.

Er nickte, wandte sich um und holte Berta endlich ihren Amerikaner, den sie sich jeden Mittwoch nach ihrem Gang zum Fluss gönnte wie die anderen bedürftigen Frauen reiferen Alters, die den Raum bevölkerten und sich von jungen knackigen Kellnern bedienen ließen und auf diese Weise ihren Gelüsten frönten.

Sommerschwüle

Gemächlich stieg Martin aus dem Wagen und die Treppen hinab in die Bahnhofshalle. Außerhalb des Gebäudes grüßte ihn wieder die schwülwarme Sommerluft, von der er sich eine Stunde zuvor, als er in den Zug gestiegen war, verabschiedet hatte, allerdings lauerte sie an diesem Tag offenbar in jeder Stadt. Er hatte Zeit. Sein Vater würde erst in einer Stunde kommen, nach der Arbeit, um ihn abzuholen. Kurz überlegte er, ob er noch zum Bäcker gehen sollte oder direkt zum Fluss, wo er oft saß und las, wenn er warten musste, aber irgendwie schlugen ihm die unangenehmen Temperaturen auf den Magen, sodass er sich entschied, den Bäcker Bäcker sein zu lassen und den Weg Richtung Fluss zu nehmen, vorbei an den wenigen prächtigen Bürgerhäusern, die der letzte Krieg verschont hatte.

Das silberne Wasserband schimmerte schon von Weitem. Läufer begegneten ihm und Radler, die sich an der Hitze augenscheinlich nicht störten. Ältere Damen führten ihre Hunde aus. Einige Jungs in seinem Alter lagen meist mit ihren Freundinnen auf den Promenadenwiesen, sonnten sich oder genossen den Schatten. Enten schnatterten, watschelten über das Pflaster und verschwanden die Böschung hinab im kühlen Nass.

Martin wählte eine Bank im Schatten unter einer Pappel – es hätte sich auch um eine Ulme handeln können, so genau kannte er sich da nicht aus. Bäume schön zu finden ist eben etwas anderes, als sie zu bestimmen. Ihm war es ohnehin ziemlich egal, Hauptsache, die Pappelulme spendete Schatten. Er beobachtete das Treiben auf der Wiese, betrachtete den Fluss und die Schiffe, die sich hinaufschoben oder hinabglitten und das andere Ufer mit den bunten Häusern, die den steilen Hang zierten.

‚Wie am Mittelmeer‘, dachte Martin, um im Nachgang festzustellen, dass er dasselbe lediglich von Postkarten kannte. Blöder Gedanke also. Er schmunzelte, zog seinen Rucksack heran und kramte ein Buch hervor. Diese scheußliche Schwüle beeinträchtigte seinen Kreislauf. Er trank den vorletzten Schluck aus seiner Wasserflasche und hoffte, dass die Flauheit nach einer Weile im Schatten nachlassen würde. Die goldenen Zeiger der Kirchturmuhr gegenüber zeigten – welch Polyptoton, zeigende Zeiger! – kurz nach drei. Demzufolge verblieb ihm eine Dreiviertelstunde. Er würde zumindest versuchen zu lesen, wenngleich er von früher wusste, dass es ihm bei alldem, was um ihn herum geschah, schwer fiele. Nach jedem Absatz lugte er über die Buchkante zum Fluss, nach links, nach rechts, um zu schauen, ob nicht vielleicht jemand komme, den er kennt, doch es kam keiner. Von Ferne bemerkte er indes eine ältere Frau, die langsam auf die Bank, auf seine Bank, zusteuerte.

‚Bitte nicht, bitte geh weiter‘, betete Martin. Er hatte absolut nichts gegen Omas, sofern sie vorübergingen. Martin zählte hingegen zu ihren Lieblingsopfern, zumindest was Bushaltestellenomas anbelangte: Frauen in beige oder blasslila Farbtöne gekleidet, die aus heiterem Himmel Gespräche anfingen – stets mit ihm! Selbst wenn dort zwanzig, dreißig, vierzig Menschen standen: Die Anlaufstelle der Bushaltestellenomas hieß Martin, da gab es gar kein Vertun. Gleichermaßen gefürchtet waren die Promenadenomas und die, die dort kam, sah verdammt danach aus. Martin stierte verkrampft in sein Buch. Bloß nicht den Eindruck erwecken, als sei man ‚frei‘.

„Guten Tag“, surrte es aus einem lächelnden Mund.

Martin guckte auf.

„Hallo“, sagte er und versuchte dabei so viel Freundlichkeit in seine Stimme zu legen, wie in Anbetracht der Situation nur ging.

Die Alte strahlte und schlurfte weiter. Martin atmete erleichtert aus. Sie hatte sich nicht setzen wollen. Nachdem er ihr eine Weile hinterhergeschaut hatte – wahrscheinlich um sicher zu gehen, dass sie nicht doch noch kehrt machte – wandte er sich erneut seinem Buch zu.

„Guten Tag“, klang es plötzlich tief neben ihm.

Er zuckte zusammen. Seine Augen glitten vom Buch auf den Boden, über weiße Seniorenschuhe, Beine in grauen Strumpfhosen, einen dunkelblauen, beinahe schwarzen Rock, über einen Blazer gleicher Farbe, der von einem runden, vollen Gesicht abgeschlossen wurde, unter dem der Hals versank. Hinter einer goldumrandeten Brille blitzten zwei ungewöhnlich wache, hellblaue Augen, die nicht recht zum Rest der Erscheinung passen wollten. Die ganze wurde von einem weißen Sommerhut mit blauem Band abgerundet, den es anscheinend zusammen mit der dunklen Handtasche geben hatte, die auf ihrem Schoß ruhte und deren Verschluss die zwei kleinen Hände in den weißen Handschuhen umklammerten, einem Kaninchen beim Männchen-machen ähnelnd.

„Hallo“, sprach Martin, als er seine Worte wiedergefunden hatte. Er hatte absolut keinen Schimmer, wo sie dermaßen abrupt hergekommen war. Wie aus dem Nichts! Und sie machte gar nicht den Eindruck einer typischen Promenadenoma mit ihrem Blau und dem Hut. Promenadenomas hatten keine Hüte und waren gefälligst dunkelgrau. Vermutlich existierten aber auch hier Untergattungen. Martin ließ sich nichts anmerken, konzentrierte sich auf sein Buch.

„Schön hier, nicht“, brummte es.

Er nickte und meinte für seine Verhältnisse unglaublich höflich: „Ja... sehr.“

Seine Augen klebten weiterhin auf den Seiten des Buches. Sie schwieg, ließ ihre Blicke schweifen, geradezu ängstlich die Tasche behütend.

„Ich bin häufig hier. Sie habe ich allerdings noch nie gesehen.“

Martin spürte, wie ihre Augen sich in ihn hineinbohrten. Er hasste dieses Gefühl, zu wissen, dass man angestarrt wird, obwohl sie ihn weder berührte und er sie nicht einmal starren sah und diese dröhnende Stille des Wartens auf eine Antwort seinerseits, wo sie eigentlich gar keine Frage gestellt hatte.

„Ich Sie auch nicht“, überwand er sich schließlich bei äußerlicher Gleichgültigkeit.

Die Oma schien jetzt erst richtig in Fahrt zu kommen.

„Ich bin mittwochs auch eigentlich nicht hier. Sonst nahezu jeden Tag.“

‚Deshalb blieb mir das bisher erspart‘, lachte Martin innerlich und geriet allein von ihrem Anblick ins Schwitzen.

„Was lesen Sie denn“, setzte sie wieder an.

Martin hielt ihr das Buch hin.

„O, Remarque. Nettes Buch. Trauriges Ende. Die Freundin stirbt.“

„Das habe ich mir schon gedacht, wollte es aber selbst lesen…“, seufzte Martin, sich über die ungewöhnlich tiefe Stimme wundernd.

„Na, wenn Sie sich das ohnehin längst gedacht haben“, grinste sie und wippte mit ihrer Handtasche.

Martins Augen sanken zurück ins Buch. Ehe er den nächsten Satz abgeschlossen hatte, startete sie die nächste Attacke: „Früher bin ich mit meinen Freunden immer am Fluss gewesen. Ja, Sie werden es kaum glauben, aber ich war mal jung.“

Sie lachte ein tiefes, rauchiges, Martin verstörendes Lachen.

„Doch, glaub ich Ihnen“, grummelte er verbissen.

„Stockfisch!“

„Was“, er schlug entsetzt das Buch zu.

„Gehen Sie nicht mir Ihren Freunden hin und wieder zum Fluss? Oder Ihrer Freundin?“

Sie stupste ihn munter mit dem Ellenbogen in die Seite und lächelte dabei übers ganze Gesicht.

„Schön auf der Wiese liegen, gedankenversunken, das Leben genießen… Machen Sie nicht manchmal?“

„Nein“, antwortete Martin und begann im Buch zu blättern, um die Seite wiederzufinden.

„Na, jetzt lassen Sie das Buch doch mal zu! Die stirbt doch eh! In der Klinik! In den Bergen! Geht alles den Bach runter! War vor fuffzig Jahren schon so und wird sich jetzt nicht geändert haben.“

Martin glotzte sie an. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Die Kirchturmuhr wies kurz vor halb vier. Über eine halbe Stunde müsste er diese Unperson ertragen, wenn er sich keinen anderen Platz suchen würde.

„Und? Woran liegt’s?“

„Ich wüsste nicht, mit wem ich hier liegen sollte. Es reizt mich ehrlich gesagt auch nicht. Ich sitze lieber auf der Bank“, bekannte er.

„Keine Freunde?“

Martin überlegte. Was wollte sie von ihm?

„Nicht hier.“

„Wo dann?“

„Woanders.“

„Wo liegt das denn“, kicherte sie.

Sein Blick verfinsterte sich ein wenig. Die Alte wollte ihn anscheinend auf den Arm nehmen.

„Entschuldigung, der war blöd“, brach sie in ein Gelächter aus, das noch lauter und klappriger klang als dasjenige zuvor, ein bisschen wie früher die Blechmülltonnen auf dem Schulhof. Dabei bebte ihr ganzer Körper und wieder knuffte sie ihn in die Seite. Martin musste ebenfalls lachen. Die Situation war einfach zu komisch.

„Früher bin ich mit meinem Großvater oft hierher“, berichtete sie und wies flussaufwärts, wo der Hauptlauf mit einem Seitenarm eine kleine Halbinsel bildete. Dort stand das Wasser, bewegte sich bloß, wenn die Wellen eines Schiffes in den Seitenarm schwappten.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?