Seewölfe - Piraten der Weltmeere 658

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 658
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Impressum

© 1976/2020 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-96688-072-5

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Jan J. Moreno

Verraten und verkauft

Sie sind Gäste des Padischah – aber auch der Tod wurde eingeladen

Die Nacht war unheimlich und hallte wider von den beängstigenden Lauten des Dschungels. An Schlaf dachte keiner der vier schiffbrüchigen Portugiesen. Die Entermesser in Händen, starrten sie in das dampfende, undurchdringlich scheinende Dickicht des Waldes.

Ribeira phantasierte. Er fieberte und fror abwechselnd, aber die Vergiftungserscheinungen klangen allmählich ab. Unvermittelt sprang er auf. „Da ist ein Schiff!“ rief er. „Hört ihr?“

Alle Gefahren vergessend, bahnte er sich einen Weg durch die verfilzten Mangroven. Die Gefährten folgten ihm – Kapitän DeLuz riß sogar noch einen glimmenden Ast aus dem Feuer.

„Jemand singt die Fadentiefe aus“, behauptete Ribeira.

Kurze Zeit später standen sie bis zu den Hüften im schlammigen Uferwasser und winkten und brüllten sich die Seele aus dem Leib. Aber niemand hörte sie.

Flußaufwärts verschwand die Silhouette der kleinen Galeone in der Nacht. Das Schiff, zweifellos ein Portugiese, lief unter Segeln gute Fahrt …

Die Hauptpersonen des Romans:

Francis Ruthland – sieht seine böse Saat aufgehen: Die Arwenacks werden überrumpelt und als „Piraten“ zum Tode verurteilt.

Enrile DeLuz – sein Schiff ist zum Teufel, aber er schafft es, mit drei Überlebenden nach Surat zurückzukehren.

Don Juan de Alcazar und Blacky – sie sind die einzigen Arwenacks, die den Häschern des Padischah entwischen.

Philip Hasard Killigrew – tappt ahnungslos in eine Falle, die ihm ein Unbekannter gestellt hat.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

1.

Das Geräusch schleichender Schritte auf dem Achterdeck der Schebecke weckte den Seewolf aus seinem ohnehin leichten Schlaf.

In der Ferne bellte ein Hund, die heiseren Rufe von Sumpfvögeln hallten über den Fluß, und unter dem Rumpf des Schiffes gluckerte das Wasser. Philip Hasard Killigrew zögerte nur kurz, bevor er sich aus der Koje schwang und seine Kammer verließ. Wegen der immer drängender werdenden Ahnung einer nahen Gefahr schlief er seit der Ankunft in Surat in voller Kleidung.

Die Nacht war warm und sternenklar. Der leichte Westwind trug den Geruch des feuchten Urwalds mit sich, mitunter wehte auch ein Schwall berauschend süßer Düfte über den Tapti-Fluß.

Stenmark, der blonde Schwede, ging auf der Kuhl Wache. Als er Hasard bemerkte, deutete er nach unten.

Vor dem Hintergrund der funkelnden Sterne zeichnete sich eine hochgewachsene Gestalt ab. Der Mann saß auf dem Schanzkleid. Er winkte, als er den Seewolf auf den Stufen des Niederganges sah.

„Bis zur Morgendämmerung sind es noch gut zwei Stunden, Don Juan“, sagte Hasard.

Der Spanier vollführte eine ausschweifende Handbewegung.

„Dieses Fleckchen Erde ist ein kleines Paradies, mein Freund. In Nächten wie dieser unter Deck zu verweilen, erscheint mir wie sinnlos vergeudete Zeit. Und du denkst ähnlich, sonst wärst du nicht hier oben.“

Der Seewolf verzichtete darauf, klarzustellen, daß ihn Don Juans Schritte an Deck gelockt hatten.

„Ich konnte nicht schlafen“, erwiderte er. „Die Begegnung mit dem Padischah bedeutet viel für uns.“

Don Juan de Alcazar kniff die Brauen zusammen und musterte ihn überrascht.

„Du sorgst dich wegen der englischen Karavelle? Die Kerle sind keine ernsthaften Konkurrenten. Zugegeben, ihre rauhe Art, zum Padischah vorzudringen, hatte Erfolg, aber ob sie damit auf große Gegenliebe stießen, bleibt fraglich.“

Das Keckern einer Affenhorde hallte über die Nebenbucht, in der die Schebecke vertäut lag. Vom Geschrei der Affen aufgeschreckt, zog ein riesiger Vogelschwarm schwerfällig über den Fluß davon. Hinter den Magazinen des Kaufmanns Rahid trompetete ein Elefant. Und auf der Großteil begann prompt der Bordschimpanse Arwenack zu zetern, der sich in seiner Ruhe gestört fühlte.

Hasard lehnte sich an die Brüstung. Sinnend blickte er über die schlafende Stadt.

Wo das Gewirr der Häuser und Hütten am dichtesten war, ragte schlank und zerbrechlich ein Minarett auf. In den frühen Morgenstunden, zwischen Morgenröte und Sonnenaufgang, würde der Muezzin von dort zum Gebet rufen. Fast am entgegengesetzten Ende Surats, trotz der Dunkelheit golden schimmernd, erhob sich der reich verzierte Hindutempel. Ungefähr zwischen diesen beiden Bauwerken, inmitten weitläufiger Gärten, ragte der Palast des Padischah auf.

„Dieses Land übt einen eigenartigen Reiz aus“, sagte Don Juan. „Findest du nicht?“

Hasard nickte. Vielleicht, dachte er, empfand Juan de Alcazar die Fremdartigkeit Hindustans noch eindringlicher. Weil er im Grunde seines Herzens Spanier geblieben war und es ihm schwerfiel, mit anzusehen, wie sich Portugiesen und Engländer anschickten, zumindest in diesem Teil der Welt der Seemacht Spanien den Rang abzulaufen.

Vor allem die Niederländer trumpften auf, waren doch erst vor einem Jahr achtzig Handelsschiffe der Generalstaaten in die südlichen Meere aufgebrochen, nachdem zuvor vier niederländische Kauffahrer das Südkap Afrika gerundet hatten und durch den Indischen Ozean bis nach Java gesegelt waren.

„Indiens Geheimnisse sind wahrscheinlich ebenso groß wie seine Reichtümer“, sagte der Seewolf. „Wir können leider nur Vermutungen anstellen, was in den Köpfen von Hindus und Moslems vorgeht.“

„Sie treiben mit den Portugiesen Handel, also werden sie auch uns nicht unverrichteter Dinge ziehen lassen. Rahid ist das beste Beispiel dafür.“

„Wahrscheinlich hast du recht, und meine Sorgen sind unbegründet.“ Philip Hasard Killigrew sog tief die würzige Luft in seine Lungen. Eine Weile stand er unbewegt, wie zur Salzsäule erstarrt, aber als er sich umwandte, lag ein herausforderndes Glitzern in seinen Augen. „Bis zum Mittag wissen wir mehr“, sagte er zuversichtlich.

Der neue Morgen brachte düstere, schwere Wolkenbänke. Ein auffrischender Wind trieb sie von Westen, vom Arabischen Meer heran, und im Nu verdunkelten sie den Himmel. Die aufgehende Sonne war nur noch als fahle, verwaschene Scheibe zu erkennen.

Innerhalb weniger Augenblicke brach das Unwetter los. Es goß in Strömen, die Sicht reichte schlagartig nur mehr knapp ein Dutzend Schritte weit. Die Stadt, die Lagerhallen, selbst der Fluß – alles verschwand hinter schier undurchdringlichen Wassermassen.

Der Tapti, sonst träge dahinfließend, schwoll an, überflutete die Ufer und riß Sträucher und Bäume mit sich. Die lehmig braunen Fluten verschonten auch den ruhigen Seitenarm nicht, in dem die Schebecke lag. Von dem Augenblick, da das Wasser zu steigen begann und erstmals über die Uferbefestigungen leckte, bis zu seinem höchsten Stand, immerhin gut drei Fuß über normal, verging gerade eine halbe Stunde.

So schnell, wie er begonnen hatte, hörte der sintflutartige Regen auch wieder auf. Die Sonne brach durch die Wolkendecke und verwandelte die Stadt und ihre weitere Umgebung in ein dampfendes Treibhaus. Gierig leckten die Strahlenfinger durch den aufsteigenden Dunst.

Sogar die Arwenacks litten unter der unwahrscheinlich hohen Luftfeuchtigkeit, die jede Arbeit zur Qual werden ließ. Wer an Deck ging, hatte rasch keinen trockenen Faden mehr am Leib.

„Monsunzeit“, sagte der Bettlerjunge Doglee in seinem gebrochenen Portugiesisch. „Aber das Land braucht den Regen. Wenn Monsun ausbleibt, wir alle müssen hungern.“

Ein entwurzelter Baum trieb vorbei. Hätte nicht Arwenack zu zetern und zu kreischen begonnen, wäre wohl niemand auf das Affenjunge aufmerksam geworden, das ängstlich in der weit ausladenden Krone hing.

„Sir!“ Hasard junior blickte den Seewolf erwartungsvoll an. „Arwenack meint, wir sollen die Jolle aussetzen und versuchen, den kleinen Kerl zu retten.“

„Hat er das gesagt?“

Hasard junior grinste schwach.

„Das nicht, aber …“

„Zu Noahs Zeiten regnete es vierzig Tage und vierzig Nächte lang. Ich kann verstehen, daß er gezwungen war, von allen Tieren ein Pärchen an Bord zu nehmen. Aber wir haben keine Arche, ganz zu schweigen davon, daß ein halbstündiger Wolkenbruch nicht mit der Sintflut zu vergleichen ist. Sind wir uns da einig?“

„Natürlich, Sir. Aber der kleine Affe …“

Der Seewolf verzichtete auf eine Antwort. Statt dessen deutete er flußabwärts zur nächsten Biegung, wo sich die mächtige Baumkrone inzwischen im Ufergestrüpp verfangen hatte.

 

„Schon klar“, sagte Hasard junior. „Die Natur gibt jedem ihrer Geschöpfe eine Chance.“

„Was man von uns Menschen durchaus nicht immer behaupten kann.“ Der Seewolf drehte auf dem Absatz um und trat vor die Querbalustrade des Achterdecks.

„Mister Carberry!“ rief er zur Kuhl hinunter.

Nahezu die halbe Mannschaft war auf dem Mitteldeck versammelt. Doch der Profos fehlte.

Der Kutscher, seines Zeichens Erster Koch und Feldscher, der seit kurzem in einer Fülle kostbarer Gewürze schwelgte, beugte sich über die Laderaumgräting: „Ed, der Kapitän will dich sehen!“

Poltern und unverständliches Gemurmel drangen von unten herauf. Wenig später tauchte ein dunkelblonder, wirrer Schopf aus der Luke auf, gefolgt von einem häßlichen Narbengesicht und einem gewaltigen Rammkinn.

„Sir?“ fragte Edwin Carberry dröhnend.

„Landgang ist angesagt“, raunte der Kutscher ihm zu. „Hasard erwartet, daß du schneller arbeitest.“

„Das soll er mir selber verklaren!“

Anklagend verdrehte der Kutscher die Augen.

„Hätte ich nur eine Prise Pfeffer hier …“

„Wozu?“

„Ich würde sie dir in den Hintern blasen, Mister Profos. Das muntert auf.“

Edwin Carberry packte blitzschnell zu. Seine schwielige Pranke verfehlte den Kutscher jedoch um Haaresbreite, weil der genau das vorausgeahnt hatte.

Die herrschende Schwüle drückte den Männern aufs Gemüt und ließ manchen überreizt reagieren.

Bevor zwischen dem Profos und dem Koch ein offener Streit ausbrechen konnte, fragte der Seewolf: „Hast du die Geschenke für den Padischah bereit?“

Ein anzügliches Grinsen huschte über Carberrys Narbengesicht. Suchend ließ er den Blick über die versammelte Mannschaft schweifen.

„Old Donegal muß mir noch zur Hand gehen“, sagte er.

Hasard tat den Einwand mit einer lässigen Bewegung ab.

„Erzähl mir nicht, daß dich die Kräfte verlassen, Ed. Eher fallen wohl Weihnachten und Pfingsten zusammen.“

Alles Murmeln und Raunen ringsum verstummte. Die Männer ahnten, daß der Profos irgendeine Anzüglichkeit bereit hatte. Sie kannten ihn, der vor nichts und niemandem Respekt hatte, außer natürlich vor Toten und Särgen, und sie kannten Old O’Flynn, Hasards kauzigen Schwiegervater.

Herausfordernd schob der Profos sein Rammkinn vor.

„He, Old Donegal!“ rief er. „Du mußt Schleifchen binden!“

Das schlagartig losbrechende Gelächter erschütterte die Planken. Einige aus der Crew lachten, daß ihnen die Tränen über die Wangen kullerten.

Nur Old Donegal O’Flynn stand stocksteif da und starrte über den Fluß. Der Profos und die schadenfrohe Bande waren schlichtweg Luft für ihn.

„Alles Banausen“, murmelte er im Selbstgespräch. „Die können es nicht verknusen, wenn einer mehr Gefühl für Schönheit aufbringt.“

Luke Morgan rang nach Atem. Zwischen zwei vergeblichen Versuchen, sein bebendes Zwerchfell zu beruhigen, sagte er ächzend: „Old Donegal wird die Geschenke für den Padischah bestimmt nicht mit Schleifchen verzieren, das tut er nur, wenn er dafür viele Küßchen empfängt.“

„Klitzekleine oder riesengroße?“ japste Piet Straaten.

„Laß mich ausreden!“

„Ist doch ohnehin klar, was du sagen willst, Luke.“ Big Old Shane, der graubärtige Riese, mischte sich ebenfalls ein. „Die Fischvergiftung und sein Scheintod haben Donegal irgendwie – na ja, verdreht. Wenn seine Mary Snugglemouse wüßte, daß er jetzt nicht mehr auf Küßchen der königlichen Lissy aus ist, sondern vom Padischah …“

„Old Donegal braucht eben Abwechslung“, sagte Sam Roskill grinsend.

„Ha-ha-ha!“ Der Alte äffte ihn nach. „Ist vielleicht einer von euch Klugscheißern schon auf den Gedanken verfallen, der Padischah könnte einen Harem voll hübscher, liebreizender weiblicher Wesen haben? Die Gastfreundschaft gebietet es, daß er seinem Lieblingsgast gewisse Vorrechte …“

„Hör auf!“ stöhnte Stenmark.

„Neidisch, wie?“ Old Donegal grinste den Schweden herausfordernd an. Er schenkte überhaupt jedem ein überlegenes Lächeln. „Köpfchen muß man haben, dann ergibt sich alles andere ganz von selbst.“

Das mit dem Schleifchen lag einige Monate zurück. Old Donegal hatte damals ziemlich unbedacht den Wunsch geäußert, wenigstens eine der spanischen Schatzgaleonen als Geschenk für die Königin mit einem in schmale Bahnen geschnittenen Segel zu verzieren.

Die Crew hatte ihm daraufhin ein Schiffsmodell mit aufgebauschter Schleife in die Koje gelegt, dazu einen Zettel mit folgendem Text: Ein Schatzschiff für die Königin. Liebevoll eingepackt von Old Donegal Daniel O’Flynn, einem treuen Untertan. In der Hoffnung auf viele klitzekleine Küßchen.

„Dan!“ rief der Profos, der mittlerweile die Arme seitlich auf dem Lukenrand abstützte. „Wußtest du, daß dein Vater abmustern will, um den Rest seines Lebens in einem Harem zu beschließen?“

„Quatsch.“ Der Alte brauste auf, ehe Dan O’Flynn antworten konnte. „Zwei oder drei Tage sind doch keine Ewigkeit.“

„Für gewisse Dinge schon“, entgegnete der Profos.

„So ist es“, bestätigte Ferris Tucker und zwinkerte dem Profos zu.

„Von was redet ihr?“ fragte Old Donegal. Er stand kurz vor einem Wutausbruch.

„Wir denken“, begann Ferris Tucker. „Ja, wie soll ich mich ausdrücken? Also, die Sache ist so …“

„Ferris und ich, wir meinen, daß deine Mary …“

„Was?“

„Nun, äh …“

„Sie wird an deiner Fistelstimme keinen Gefallen finden“, sagte Tucker.

„Richtig.“ Carberry nickte zustimmend. „Und an der anderen Sache auch nicht.“

„Wieso Fistelstimme?“ fragte Old O’Flynn. „Und was für eine andere Sache?“ Diesmal war er wirklich schwer von Begriff. Er bemerkte nicht mal, daß Nils Larsen, Smoky und Jack Finnegan inzwischen halb über dem Schanzkleid hingen und vor mühsam verhaltenem Lachen Gefahr liefen, das Gleichgewicht zu verlieren.

Ferris Tucker setzte eine Leichenbittermiene auf. Es fiel ihm sichtlich schwer, Haltung zu bewahren.

„Mag sein, daß der Padischah Besucher auch in seinem Harem empfängt“, sagte er. „Aber dann eben nur Eunuchen, und die haben bekanntlich eine Fistelstimme, weil sie …“

Old Donegal fiel ihm ins Wort: „Was soll das heißen, du karierter Holzwurm?“ Er plusterte sich auf wie ein Gockel vor der Balz.

„Nichts“, sagte Ferris Tucker unschuldig.

Wütend stampfte der Alte mit dem Holzbein auf.

„Ihr könnt mich alle – zum Padischah begleiten!“ rief er. „Ein Kerl wie ich braucht keine blöden Schleifchen, um Aufmerksamkeit zu erregen.“

Das stimmte in der Tat. Nur hüteten sich die Arwenacks, das auszusprechen.

2.

Unter Führung des jungen Doglee verließen Hasard, der Erste Offizier Ben Brighton, Dan O’Flynn und Old Donegal die Schebecke. Der Alte hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt, an Bord zurückbleiben zu müssen, und Hasard war gegen die Vielzahl „logischer“ Argumente nicht gefeit gewesen.

„Treib’s nicht zu wild, Donegal!“ riefen die Kerle von Deck aus hinterher.

„Bring uns ein paar Ladys mit! Es muß ja nicht gleich der ganze Harem sein.“

Mac Pellew, der wie üblich auch jetzt griesgrämig dreinblickte, schoß mit seiner Bemerkung den Vogel ab. Er sagte schlicht und einfach: „Vergiß uns nicht, Mister O’Flynn.“

Das Gelächter folgte Hasard und seinen Begleitern, bis sie zwischen den Magazinen des Kaufmanns Rahid die Schebecke aus den Augen verloren. Old Donegal tat, als ginge ihn das alles herzlich wenig an.

„Die Männer sind eben so“, sagte er zu Dan, seinem Sohn. „Aber sie haben das Herz am rechten Fleck.“ Irgendwie klang das sogar entschuldigend.

Der Regen hatte die Stadt verändert. Dichte Nebelschwaden trieben durch die Straßen und engen Gassen und legten sich beklemmend auf das sonst bunte und lärmende Treiben.

Hie und da brach die Sonne durch, ihre gleißenden Strahlen ließen den aufsteigenden Dampf sichtbar werden. Manche Wege und Plätze standen noch unter Wasser, an anderen Stellen hatten sich Schlamm und Geröll angehäuft. Trockenen Fußes hindurchzugelangen, war unmöglich.

Doglee führte die Arwenacks tiefer in das Gewirr der Häuser und Hütten. Den Palast und den Hindu-Tempel verloren sie bald aus den Augen, doch der schlanke Turm des Minaretts tauchte immer wieder vor ihnen auf und half bei der Orientierung.

Das Leben in Surat nahm seinen gewohnten Gang. Das Rufen der Händler, die ihre Waren feilboten, das laute Werben der Gaukler und Geschichtenerzähler um die Gunst des Publikums, Hundegebell, Kindergeschrei – all das wurde zeitweise noch von einer schrillen, kreischenden, quietschenden und quakenden Musik übertönt, die den Engländern nicht immer als Wohlgenuß erschien.

Die Luft war erfüllt von dem süßlichen Aroma feuchten Erdreichs, von Essensgerüchen und dem Qualm brennender Herdfeuer ebenso wie von der sich vermengenden Vielfalt exotischer Gewürze, die die Arwenacks zum Teil nicht mal dem Namen nach kannten.

Wortreich verscheuchte Doglee einige Bettlerjungen, die nur wenig jünger als er selbst waren und den Arwenacks wie Kletten folgten.

„Aufpassen!“ raunte er dem Seewolf zu. „Die stehlen sogar ihrer Mutter die Töpfe vom Feuer. Wissen, daß wir Geschenke dabeihaben.“

Hasard schwieg dazu. Er hatte eher den Eindruck, daß Doglee die Nähe seiner früheren Gefährten peinlich war. Offenbar fürchtete er, die Ingles könnten seine Dienste künftig ablehnen.

Tatsächlich schritt der Junge schneller aus. Er hielt auch nicht inne, als die Arwenacks einem Fakir forschende Blicke zuwarfen. Der Mann, eine würdevolle Erscheinung mit mächtigem Turban und wallendem weißen Bart, kauerte inmitten einer Vielzahl geflochtener Körbe. Von zweien waren die Deckel abgenommen. Kobras züngelten daraus hervor und schienen sich zum Rhythmus seines schrillen Flötenspiels zu wiegen.

„Ich denke, den Schlangen wurden die Giftzähne gezogen“, sagte Ben Brighton. „Die taugen nur noch als Kinderschreck.“

„O nein“, antwortete Doglee im Vorbeieilen. „Biß von Kobras sein tödlich. Aber beißen nicht, solange Flöte erklingt.“

„Bist du sicher, Junge?“

„Ich zeige euch. Später.“

Darauf konnte nun jeder verzichten. Sie eilten weiter, so schnell es die schwere Truhe mit den Geschenken für den Padischah erlaubte, die Ben Brighton und Dan O’Flynn schleppten.

Schon die Truhe an sich war eine kleine Kostbarkeit. Sie bestand aus geschnitztem schwarzem Holz und wies auf ihren Seiten Seefahrtsmotive aus vier Himmelsrichtungen auf, den Deckel zierte das Abbild einer Galeone unter vollen Segeln. Beschlagen war sie mit versilberten Eisenbändern, das Silber wurde zum Deckel hin durch Gold abgelöst.

Die Truhe stammte ebenso wie ihr Inhalt aus den Schätzen des spanischen Geleitzugs, den die Seewölfe in einem der größten Raids ihres Lebens nach London geführt hatten. Die Spanier nahmen den Indianern in der Neuen Welt ihre Schätze ab, die Korsaren plünderten die Spanier aus, und letztlich erhielten Herrscher ferner Länder einen verschwindend geringen Teil davon als Antrittsgeschenk der englischen Krone – das war der Lauf der Welt.

Die geschundenen Eingeborenen Amerikas blieben dabei auf der Strecke. Doch die Arwenacks hatten auf ihre Fahnen geschrieben, gerade den Geknechteten und Ausgebeuteten zu helfen, und sie hatten oft genug bewiesen, daß sie dazu in der Lage waren.

Endlich erreichten sie die Palastmauer mit ihren kunstvoll und reich ornamentierten Türmen. Die Bilder und Fresken stellten Ereignisse aus der indischen Mythologie dar, wobei Elefanten und mehrgliedrige Geschöpfe die Szenerie beherrschten.

So selbstverständlich, als habe er in seinem jungen Leben nie etwas anderes getan, steuerte Doglee auf das zweiflügelige Tor und die davor postierten Wachen zu.

„Sag ihnen, daß der Padischah uns erwartet“, raunte Hasard dem Jungen zu.

Doglee wechselte einige Worte mit den uniformierten Muselmanen, die neben ihren breiten Säbeln und in den bunten Tuchgürteln steckenden Elfenbeindolchen auch Feuerwaffen trugen. Mit Kennerblick stellten die Arwenacks fest, daß Pistolen und Musketen Steinschlösser hatten.

In einer fließenden Bewegung berührte Doglee mit den Fingerspitzen der rechten Hand hintereinander Stirn, Lippen und Brustkorb und verbeugte sich. Anschließend wandte er sich zu den Engländern um.

„Wachen sagen, erhabener, großehrwürdiger Padischah gewähren Ingles Zutritt, wenn Geschenke bringen.“

 

„Feine Sitten“, murmelte Dan. „Bisher glaubte ich immer, Geschenke würden freiwillig gegeben.“

„Du mußt das von der praktischen Seite sehen“, erwiderte Old Donegal. „Wir wissen nun wenigstens, woran wir sind. Der Padischah ist so geldgierig wie alle Herrscher.“

Hasard deutete auf die Truhe – eine Geste, die ihm sofort Tür und Tor öffnete.

Hinter der äußeren Palastmauer erstreckte sich ein weitläufiger Garten unbeschreiblicher Schönheit. Wege aus weißem Kies schlängelten sich zwischen Bäumen und üppig blühenden Büschen hindurch, an Rinnsalen und kleinen Teichen vorbei, bis hin zu einem ausgedehnten Bauwerk aus vielfarbigen Ziegeln.

Eine Wache führte die Arwenacks. Abgesehen davon, daß der dunkelhäutige Mann stumm wie ein Fisch zu sein schien, hatte er zudem alle Zeit der Welt. Seine Art, sich zu bewegen, war nicht mehr als ein gemächliches Schlendern.

„Der schläft im Stehen ein“, schimpfte Old Donegal.

Zwanzig Schritte vor einer breiten, zu einem Gebäudeportal führenden Treppe verharrte der Wächter endgültig. Die Arme vor der Brust gekreuzt, wandte er sich zu den Arwenacks um. Doglee beachtete er mit keinem Blick.

„Hier warten!“ sagte er auf arabisch, was endgültig bewies, daß er zum moslemischen Teil der Bevölkerung gehörte. Nur wenig schneller als zuvor stieg er die Treppe hinauf und verschwand in dem Gebäude.

„Wie lange wird uns der Padischah warten lassen?“ fragte Ben Brighton.

„Weiß nicht.“ Doglee zuckte mit den Schultern. „Den vierten Teil einer Stunde vielleicht. Der Padischah hat euch Ingles schon genug hin … hingelegt. Ist das richtiges Wort?“

„Du meinst hingehalten“, sagte Dan O’Flynn.

Der Junge wiederholte den Begriff. Ein Aufleuchten huschte über sein Gesicht.

„Ich lerne gut Portugiesisch von dir – und dir dafür zeige, wie Mann Kobra fängt und läßt tanzen zu Flötenmusik.“

Als Dan abwehrend die Arme hob, wandte sich Doglee an Old Donegal.

„Du Turban aufsetzen und anderes Gewand tragen, dann aussehen wie richtiger Fakir. Ich dir besorge schöne große Kobra.“

Old O’Flynn sperrte Mund und Augen auf und schluckte erst mal.

„Hasard ist unser Kapitän“, sagte er. „Wenn jemandem die Ehre gebührt, dann ihm.“

Doglees Blick sprühte vor Freude, endlich den Richtigen gefunden zu haben, als er sich Hasard zuwandte. „Ist mir Ehre, großem Ingles-Kapitän große Freude zu bereiten. Du willst Kobra, nicht wahr?“

„Und ob“, sagte Old Donegal übereifrig.

Ben Brighton musterte den Seewolf von der Seite. Er lächelte amüsiert. Immerhin kannte er Hasard gut genug, um zu wissen, daß er den Jungen nicht vor den Kopf stoßen würde, zumal Doglees Begeisterung deutlich zu spüren war.

„Später, Junge“, sagte Hasard ausweichend. „Wenn wir uns mit dem Padischah über das Handelsabkommen geeinigt haben.“

Oben auf der Treppe erschienen zwei bewaffnete Wächter. Sie postierten sich neben den steinernen Figuren zu beiden Seiten des Aufgangs, ließen die Arwenacks aber unbeachtet.

Die Viertelstunde, von der Doglee gesprochen hatte, verstrich ereignislos.

Ben Brighton und Dan O’Flynn setzten endlich die schwere Truhe mit den Geschenken auf dem Kies ab.

Old Donegal deutete auf die nur aus Dach und Säulen bestehenden kleinen Häuschen, die in gleichen Abständen entlang des Weges errichtet waren. In ihrem Inneren, von einer wahren Blumenpracht umgeben, standen marmorne Sitzbänke.

„Wenn unsere Geduld schon unnütz auf die Probe gestellt wird“, sagte er, „sollten wir uns wenigstens ausruhen. Ich für meinen Teil halte lieber ein kleines Nickerchen, als daß ich mir die Beine in den Bauch stehe.“ Sprach’s, drehte auf dem Absatz um und schickte sich an, mitten durch eine gepflegte Grünanlage hindurchzustapfen.

„Nein!“ rief Doglee entsetzt. „Nicht dahin!“

„Warum denn nicht?“ maulte Old Donegal, ohne sich aufhalten zu lassen. „Eine Bank ist zum Sitzen da. Und genau das werde ich jetzt tun, ich werde darauf warten, daß dieser schlafmützige Bursche, der hier das Sagen hat, endlich erleuchtet wird. Er denkt wahrscheinlich nur an seinen Harem und …“

„Donegal“, sagte Hasard, „bleib stehen!“ Er wußte zwar nicht, was Doglees hilflos verzweifelter Blick bedeutete, aber er ahnte, daß Old O’Flynn drauf und dran war, eins der ungeschriebenen Gesetze dieses Landes zu übertreten.

„Regt euch doch nicht auf“, sagte Old Donegal dickköpfig. „Niemand sitzt bisher da.“

„Eine Kobra!“ Händeringend stieß Doglee den Warnruf aus.

Das half. Old O’Flynn prallte entsetzt zurück. Seine Augen weiteten sich in jähem Entsetzen.

Dan zerrte die Pistole aus dem Gürtel. Aber auch er konnte nirgends eine Schlange entdecken.

„Verdammt, wo ist das Biest?“ Old Donegals schwielige Hände schossen vor, packten den Jungen und schüttelten ihn. „Wenn du mich angelogen hast, Bürschchen, dann Gnade dir Gott.“

Er war wirklich erzürnt. Doglee versuchte vergeblich, etwas zu sagen, er brachte nicht mehr als einige abgehackte, gurgelnde Laute hervor, ein Gemisch aus seiner Muttersprache und Portugiesisch.

„Gebt Ruhe, verdammt!“ Der Seewolf sagte das so scharf, daß Old Donegal unwillkürlich losließ.

„Danke, Senhor.“ Tief verbeugte sich Doglee vor Hasard. Sein Versuch, ihm die Hand zu küssen, scheiterte, weil Hasard blitzschnell den Arm zurückzog.

Der Seewolf deutete auf den kleinen Pavillon, die Bank und die Blumen.

„Was ist damit?“ fragte er.

„Bänke nicht für Sterbliche“, antwortete Doglee. „Vorbehalten für Götter und für Padischah. Wer Ehrfurcht fehlen läßt, wird Kopf kürzer.“

„Quatsch“, sagte Old Donegal. „Wo sollen wir uns setzen, wenn wir müde sind?“

„Knien nieder auf Weg“, erklärte Doglee. „So, Senhor.“ Er demonstrierte die Haltung, die er meinte, woraufhin der Alte abwinkte und feststellte, er bleibe lieber stehen.

Eine Stunde später schlug Old Donegal andere Töne an. Die Sonne stand mittlerweile hoch im Vormittag und brannte sengend heiß nieder. Kein Baum spendete Schatten auf dem Weg.

„Der Padischah hat uns vergessen“, behauptete Old O’Flynn. „Jede Wette darauf.“

„Der Padischah in seiner großen Güte vergißt niemals“, widersprach Doglee.

„Was treibt er dann, he?“ Als Old Donegal sah, daß er von dem Jungen keine Antwort erhalten würde, blaffte er zu den beiden Wachen hinauf: „Alles, was eine Art hat, das ist keine Art, Gäste so lange warten zu lassen.“ Ohne es zu merken, bediente er sich der englischen Sprache. Kein Wunder, daß die Gesichter der Inder unbewegt blieben. „Bietet uns wenigstens was zu trinken an, ein kräftiger Schluck Rum wäre das mindeste, oder ein Humpen voll Bier …“

„Dad“, sagte Dan, „das sind Moslems.“

„Na und?“

„Der Genuß berauschender Getränke ist ihnen verboten.“

„Von Bier kriegt man keinen Rausch. Außerdem ist mir das scheißegal, ich fühle mich langsam wie ein Seestern auf dem Trockenen.“

„Es ist sinnlos, daß wir darüber streiten, Dad.“

Old Donegal kratzte sich ausgiebig am Hinterkopf. Seine Miene hellte sich währenddessen zusehends auf.

„Aber für Heilzwecke ist Alkohol erlaubt?“ fragte er hoffnungsvoll.

„Das weißt du doch so gut wie ich.“

„Ich wollte es nur noch mal hören.“ Old Donegal ließ sich auf die Knie sinken. „Ich bin krank!“ rief er den Wachen zu. „Die Sonne dörrt mich aus, ich vertrockne …“

„… und werde zur Mumie“, sagte Dan spöttisch.

„Laß die Schotten dicht oder schieß in den Wind!“ zischte Old Donegal. „Mit meiner Methode habe ich wenigstens Erfolg.“

Tatsächlich verließen die beiden Wachen erstmals ihren Platz. Sie stiegen aber nicht die Treppe hinunter, sondern wandten sich dem Portal zu.

„Du hast sie vergrault, Dad.“

„Unsinn. Sie haben endlich begriffen, was wir brauchen. Dieser andere englische Kapitän, der bis zum Padischah vorgedrungen ist, hat sich genau der richtigen Methode bedient. Frechheit siegt, das gilt auch für uns. Warum gehen wir nicht einfach die Stufen hinauf? Irgend jemand wird sich dann schon um uns kümmern.“

Sie brauchten sich nicht zu streiten, denn in dem Moment verließ ein bärtiger junger Mann den Palast. Die Wachen folgten ihm, und hinter ihnen erschienen weitere Bewaffnete, insgesamt zehn grimmig dreinblickende Burschen.

„Ist das der Padischah?“ fragte Ben Brighton, obwohl er eigentlich nicht an diese Möglichkeit glaubte.

Der Bärtige trug nur einfache Stiefel, eine weite Hose und darüber ein Hemd. Sein Schädel war kahlgeschoren und wirkte wie poliert.

Auf der untersten Treppenstufe blieb er stehen. Eindringlich musterte er die Engländer der Reihe nach. Erst dann hielt er es für angebracht, sein Schweigen zu brechen.

„Mein Herr, der Padischah, läßt den Ingles seine Grüße überbringen. Bedauerlicherweise erfordern die Umstände seine Anwesenheit andernorts.“

„Das heißt, der Padischah wird uns nicht empfangen.“ Hasard spürte Ärger in sich aufsteigen. Er begann sich ernsthaft zu fragen, ob er die falsche Methode anwandte. Vielleicht war es in der Tat besser, die Ellenbogen zu benutzen.

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