Lesen in Antike und frühem Christentum

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In 2Kor 3,152Kor 3,15 liegt die Decke nun auf den Herzen der „Söhne IsraelsIsrael“, und zwar wann immer Mose gelesen wird (ἡνίκα ἂν ἀναγινώσκηται Μωϋσῆς). Die passivische Formulierung schließt es hier tatsächlich nicht aus, dass an eine kollektiv-indirekteRezeptionkollektiv-indirekt Rezeptionssituation der ToraTora als außersprachliche Referenz zu denken ist. Allerdings lässt sich dies nicht zwingend aus der Formulierung ableiten, da eine Form direkter Lektüre der Tora ebenso begründbar wäre.35 Die passivische Formulierung könnte als unpersönliches Passiv „wenn man Mose liest“ in unspezifischer Weise auf jede Form der Rezeption der Tora durch nicht-christusgläubige Juden bezogen sein. Der lineare Aspekt des Präsens zielt dabei genauso wie das Verbalabstraktum in 2Kor 3,142Kor 3,14b auf den Prozess der Textrezeption – in welcher Form genau, ist für die Argumentation von Paulus irrelevant. Der Schwerpunkt der Aussage des Satzes liegt nicht auf dem Aspekt des Lesens, sondern darauf, dass eine Decke auf den Herzen, also auf dem zentralen Ort kognitiverkognitiv Verarbeitung im hebräischen Denken liegt.

Summierend ist zusammenzutragen:

Es ist entscheidend, dass die Decke in 2Kor 3,142Kor 3,14b ἐπὶ τῇ ἀναγνώσει liegt und nicht „auf der ToraTora“. Paulus bringt mit dieser innovativen MetapherMetapher im Kontext seiner Argumentation zum Ausdruck, dass der Prozess des VerstehensVerstehen bei der Textrezeption durch die fehlende christologischechristologisch HermeneutikHermeneutik (2Kor 3,142Kor 3,14c) gestört ist. Eine Hermeneutik, die nicht durch den Herrn, der Geist ist, geprägt ist (2Kor 3,172Kor 3,17), sondern an den in Stein gemeißelten BuchstabenBuch-stabe (2Kor 3,6 f) festhält.36 Mit dem Motiv der versteinerten37 Verstandeskräfte (primär griechisch gedacht), dem der innovativen Metapher der „Decke über der Lesung/Lektüre“ und mit dem Motiv der „Decke auf den Herzen“ (hebräisch gedacht) bringt Paulus also in 2Kor 3,14f in dreifacher Variation die aus seiner Sicht hermeneutischen Defizite der „Söhne IsraelsIsrael“ in Bezug auf die Tora zum Ausdruck. Die Decke konzeptualisiert sowohl in 2Kor 3,142Kor 3,14b als auch in 3,1538 eine Verstehensbarriere, die ein aus paulinischer Sicht rechtes Verstehen der Texte der Tora mit den Verstandeskräften (νόος/καρδία) verhindert. Vor diesem Hintergrund wird auch einsichtig, warum Paulus in 1Kor 3,141Kor 3,14b „von derselben“ Decke wie in Ex 34Ex 34 redet. Tertium comparationis ist nicht das, was die Decke abdeckt, sondern die „Qualität“ ihres Abdeckens eines Verstehensprozesses.

In Bezug auf die außersprachliche Wirklichkeit des Textes sei betont, dass es Paulus also nicht um irgendeine Situation von Gruppenlektüre geht, sondern auf einer höheren Ebene und unabhängig von der konkreten Rezeptionssituation um den hermeneutischen Zugang der „Söhne IsraelsIsrael“. (Entsprechend kann OrigenesOrigenes das Bild aus 2Kor 3,13–162Kor 3,13–16 als „Decke der Unkenntnis auf den Herzen der LeserLeser“ adaptieren und auf eine individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Rezeptionssituation der Schrift beziehen, wie der Kontext dort und insb. der Verweis auf die AugenAugen der Leser eindeutig zeigt [vgl. Orig. Cels. 4,50].) Theologisch resultiert aus diesem Verständnis von 2Kor 3,14 f2Kor 3,14 f, dass sich daraus keine „Untauglichkeit zur Heilserlangung“ o. ä. der ToraTora ableiten lässt, sondern ganz im Gegenteil für Paulus die „Hinwendung zum Herrn“ (2Kor 3,162Kor 3,16), durch welche die Decke aufgehoben wird (2Kor 3,142Kor 3,14c),39 also eine christologischechristologisch-eschatologische Hermeneutik entscheidend ist.40 Für Rückschlüsse auf Lesungen des ATAT/HB/LXX in den paulinischen GemeindenGemeinde lässt sich die Stelle nicht auswerten.

Im Folgenden sind noch weitere Stellen aus den pseudepigraphenPseudepigraphie Paulusbriefen zu besprechen. In 1Tim 4,131Tim 4,13 wird der fiktive Timotheus dazu aufgefordert:

ἕως ἔρχομαι πρόσεχε τῇ ἀναγνώσειἀνάγνωσις, τῇ παρακλήσει, τῇ διδασκαλίᾳ.

Üblicherweise wird die Stelle so oder ähnlich übersetzt: „Bis ich komme, kümmere du dich um die Lesung, die Ermahnung und die Unterweisung.“ Dabei wird davon ausgegangen, dass sich ἀνάγνωσις auf eine öffentlicheÖffentlichkeitöffentlich41 bzw. gottesdienstlicheGottesdienst Verlesung der Schrift42 beziehe. Zum Teil wird angenommen, dass die regelmäßige Vorlesung der Paulusbriefe in den GemeindenGemeinde der Pastoralbriefe gemeint sei.43 Diese Interpretation ist aber weder zwingend noch kontextuell eindeutig und ist auch aus lexikalischer Sicht nicht stringent ableitbar. Denn 1Tim 4,12–161Tim 4,12–16 behandelt das Thema, wie der eigentlich noch zu junge Timotheus (1Tim 4,12) die ihm aufgetragenen Aufgaben (1Tim 1,31Tim 1,3.181Tim 1,18) zumindest bis zur Rückkehr von Paulus (1Tim 4,131Tim 4,13) trotzdem wahrnehmen kann. Und zwar werden ihm Verhaltensregeln mitgegeben: Neben den in 1Tim 4,131Tim 4,13 genannten Aspekten soll er vorbildlich agieren (1Tim 4,121Tim 4,12), die ihm verliehene Gnade nicht vernachlässigen (1Tim 4,141Tim 4,14) und auf sich selbst und seine LehreLehre achtgeben (1Tim 4,161Tim 4,16). Die Anweisungen im Kontext von 1Tim 4,131Tim 4,13 zielen also in erster Linie darauf, dass der fiktive Timotheus an sich selbst arbeiten soll, um vor der Gemeinde einen festen Standpunkt zu vertreten.44

Vor diesem Hintergrund ist es nun naheliegend 1Tim 4,131Tim 4,13 folgendermaßen zu lesen: „Bis ich komme, beschäftige dich mit der Lektüre, der Ermahnung und der Unterweisung.“45 Das im Corpus PaulinumCorpus Paulinum (s. auch Paulusbriefsammlung) nur in den Pastoralbriefen und im HebrHebr vorkommende Verb προσέχω meint in 1Tim 1,41Tim 1,4 und in Tit 1,14Tit 1,14 vermutlich die Beschäftigung mit in Texten festgehaltenen Erzähltraditionen. Dass ἀνάγνωσις individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre von Texten bezeichnen kann, ist breit bezeugt (s. o. 3.1.4).46 So verstanden beziehen sich ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις, παράκλησις und διδασκαλία nicht auf (gleichsam institutionalisiert verstandene) „Amtsaufgaben“ in der GemeindeGemeinde, sondern möglicherweise selbstreferenziellselbstreferenziell auf den vorliegenden BriefBrief, der sich durchaus als „Mahnung“ und „LehreLehre“ versteht.47 So bezieht sich z.B. παρακαλέω in 1Tim 2,11Tim 2,1 auf das im Brief Gesagte. Ausgeschlossen werden kann freilich nicht, dass auch andere Texte (z.B. aus dem ATAT/HB/LXX) für die Lektüre gemeint sind. Dass BuchbesitzBuch-besitz zumindest bei Gemeindeleitenden vorausgesetzt werden kann, wird aus 2Tim 4,132Tim 4,13 deutlich.48 Die Deutung, dass die in 1Tim 3,161Tim 3,16 genannten Aspekte sich nicht auf das Verhältnis zwischen Timotheus und der Gemeinde beziehen, lässt sich vor dem Hintergrund von 2Tim 3,14–162Tim 3,14–16 plausibilisieren. Dort wird hervorgehoben, dass jede „gottbegeistete Schrift auch nützlich ist u. a. zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung und zur Erziehung in der Gerechtigkeit (πᾶσα γραφὴγραφή θεόπνευστος καὶ ὠφέλιμος πρὸς διδασκαλίαν, πρὸς ἐλεγμόν, πρὸς ἐπανόρθωσιν, πρὸς παιδείαν τὴν ἐν δικαιοσύνῃ). Aus dem Kontext dieses Satzes geht eindeutig hervor, dass es sich um das Verhältnis eines Individuums zur heiligen SchriftHeilige Schrift(en) (2Tim 3,14 f2Tim 3,14 f) handelt, also die „gottbegeisteten Schriften“, zu denen der vorliegende Brief möglicherweise auch sich selbst zählt, Subjekt des Lehrens, Zurechtweisens und Erziehens sind – und das vermutlich dadurch, dass man sie individuell-direkt liest.

Eine weitere Verstehensmöglichkeit ist die folgende: ἀνάγνωσις bezieht sich auf die individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre des BriefesBrief oder von nicht näher definierten (möglicherweise alttestamentlichenAT/HB/LXX) Texten, die wiederum die Grundlage für παράκλησις und διδασκαλία in der GemeindeGemeinde bildet. So finden sich in 1Tim 6,21Tim 6,2 die Verben διδάσκω und παρακαλέω als Bezeichnungen für Tätigkeiten in Bezug auf die Gemeinde (siehe ferner die Formulierung παρακαλεῖν ἐν τῇ διδασκαλίᾳ in Tit 1,9Tit 1,9) Von „lesen“ ist hier und auch an anderer Stelle jedoch nicht mehr die Rede. Dies deutet darauf hin, dass auch in 1Tim 4,131Tim 4,13 nicht an eine Tätigkeit gedacht ist, die in Relation zu einem Kollektiv steht. Dieses Verständnis ist rezeptionsgeschichtlich in Ps.-Ign. Hero 1,3Ps.-Ign. Hero 1,3 (vermutlich 4. Jh.) bezeugt. Hier fordert Pseudo-Ignatius, der sich die Worte aus 1Tim 4,16 leiht, den Diakon Hero auf, sich mit der Lektüre zu beschäftigen (= individuell-direkt) und zwar mit zweifachem Ziel, die Gesetze selbst zu kennen und sie anderen erklären zu können.49

Wegen der skizzierten interpretatorischen Unsicherheiten ist es nicht möglich 1Tim 4,131Tim 4,13 als Beleg für (gleichsam institutionalisierte) gottesdienstlicheGottesdienst LesepraxisLese-praxis bzw. für public readingpublic reading events anzuführen. Insgesamt ist der Befund im Corpus PaulinumCorpus Paulinum (s. auch Paulusbriefsammlung) mager. Bis auf die Tatsache, dass die Briefe eine Kenntnis alttestamentlicher Texte bei ihren RezipientenRezipient voraussetzen, ist in Bezug auf Rekonstruktion konkreter Rezeptionssituationen große Vorsicht angezeigt. Paulus thematisiert an keiner Stelle ein gemeinschaftliches Verlesen alttestamentlicher Schriften bei gemeinschaftlichen Versammlungen in den GemeindenGemeinde. Gerade an der Stelle, an der er sich explizit zu einer solchen gemeinschaftlichen Versammlung äußert (1Kor 11–141Kor 11–14), die in der Forschung für gewöhnlich als gottesdienstliche Versammlung bezeichnet wird, thematisiert er eine Verlesung von Texten gerade nicht. Angesichts der vielfältigen Lesepraktiken in der Antike und im frühe JudentumJudentum insgesamt und angesichts des Fehlens einer Konkretisierung im Corpus Paulinum im Speziellen, dürfte diesem argumentum e silentio hier doch eine gewisse Beweiskraft dafür zugebilligt werden, dass alttestamentlicheAT/HB/LXX Texte nicht primär in der abendlichen GemeindeversammlungGemeinde-versammlung,50 sondern in den Gemeinden in anderen Kontexten, z.B. analog in eigenständigen Versammlungen zu Studierzwecken (etwa in der SynagogeSynagoge) oder in privatem Kontext individuell-direkt, rezipiert worden sind.

 

Dies ist zuletzt noch an einer weiteren Stelle aus der neutestamentlichen Briefliteratur zu plausibilisieren. Im Kontext der komplementären Gegenüberstellung von „Täter und HörerHörer des Wortes“ (Jak 1,22Jak 1,22) formuliert der VerfasserAutor/Verfasser des Jakobusbriefes51 in Jak 1,25Jak 1,25:


a Wer sich aber hineinbeugt in das vollkommene Gesetz der Freiheit (ὁ δὲ παρακύψας εἰς νόμον τέλειον τὸν τῆς ἐλευθερίας)
b
c der wird selig sein in seinem Tun.

Der Metaphorik dieses Verses liegt die Erfahrung von zwei unterschiedlichen Rezeptionsmodi der ToraTora zugrunde. Das „vollkommene Gesetz der Freiheit“ (Jak 1,25a) meint hier zwar keinen materialiterMaterialität vorhandenen Text, in den man sich hinunterbücken könnte.53 Die Formulierung ὁ δὲ παρακύψας εἰς νόμον (Jak 1,25a) verweist entsprechend der unter 3.7 besprochenen Konzepte54 aber auf die individuell-direkteLektüreindividuell-direkt LektürehaltungHaltung eines LesersLeser der Tora,55 der sich in den Text hineinbeugt56 und dabei intensivAufmerksamkeitvertieft mit dem Text beschäftigt.57 D. h. der Bildspendebereich der MetapherMetapher in Jak 1,25 referenziert auf das Konzept individuell-direkter Lektüre. Im Unterschied zum bloßen HörerHörer eines vorgelesenen Textes (Jak 1,25Jak 1,25b), kann der individuell-direkte Leser daher zu tieferen Einsichten in den Text kommen (vgl. die visuellevisuell Bildlichkeit in Jak 1,23 fJak 1,23 f). Die Formulierung ἀκροατὴς ἐπιλησμονῆς bringt die auch anderswo in der Antike bezeugte Erfahrung der kognitivenkognitiv Verarbeitungsdefizite des bloßen Hörens zum Ausdruck.58 Dies bedeutet dann im übertragenen Sinne, dass man sich, um als Täter des Werkes in seinem Tun selig zu werden (Jak 1,25Jak 1,25b/c), in das „vollkommenen Gesetz der Freiheit“ so vertiefen (und dabeibleiben [παραμένω]) soll wie jemand, der sich (in inniger Vertiefung und nicht nur mit schneller Neugier)59Lese-geschwindigkeit in die ToraTora hineinbeugt.

8.2.2 Lesen der Hebräischen Bibel/des Alten Testaments in den Erzähltexten des Neuen Testaments

SchonAT/HB/LXX P. Müller weist darauf hin, dass die meisten „Lese-Stellen“ in den synoptischenSynoptisches Problem EvangelienEvangelium (d. h. Stellen, an denen das Verb ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω verwendet wird), Einleitungswendungen darstellen, die alttestamentlicheAT/HB/LXX ZitateZitat einführen. Seine hilfreiche tabellarische Übersicht zeigt deutlich, dass es sich um syntaktisch relativ einheitlich gestaltete und geprägte Einleitungswendungen handelt (Negationspartikel u. ἀναγιγνώσκω in der 2. Pers. Pl. Ind. Aor. Akt.; vgl. die Parallelen zu Mk 2,25Mk 2,25; 12,10Mk 12,10.26Mk 12,26 in Mt 12,3Mt 12,3; 21,42Mt 21,42; 22,31Mt 22,31; Lk 6,3Lk 6,3; mit Ausnahme von Lk 20,17Lk 20,17.37Lk 20,37, als auch Mt 12,5Mt 12,5; 19,4 fMt 19,4 f; 21,16Mt 21,16).1 Während die Wendungen durchaus mit polemischem Charakter2 auf der Ebene der erzählten Welt u. a. die Funktion haben, die Unkenntnis der Dialogpartner JesuJesus aufzudecken oder zumindest zu unterstellen,3 fungieren sie in leserpragmatischerPragmatik Hinsicht als ZitationsformelnZitat-einleitung/-markierung. An jeder der Stellen folgt nämlich entweder ein Zitat oder eine Paraphrase eines alttestamentlichen Textes. An allen Stellen richtet sich Jesus – anders als bei den Zitationsformeln mit dem PartizipPartizip γέγραπται oder unter Verwendung von verba dicendiverba dicendi4 – ausschließlich an mutmaßlich literarisch gebildete AdressatenAdressat (Pharisäer, Sadduzäer, Hohepriester und SchriftgelehrteSchrift-gelehrte). Angesichts der sonst üblichen Zitationsformel im Griechischen unter Verwendung von ἀκούωἀκούω sind die Stellen auffällig, aber nicht analogielos.5 In jedem Fall kann ἀναγιγνώσκω hier nicht mit „vorlesen“ übersetzt werden. Aus den Stellen selbst lässt sich wegen des formelhaften Charakters jedoch nicht ableiten, in welcher Form diese Gruppen aus der Perspektive der EvangelienverfasserEvangeliumAutor/Verfasser die Texte gelesen haben. In jedem Fall weisen die Stellen keinen Beleg für einen synagogalen GottesdienstGottesdienst mit Schriflesung auf und auch sonst ist es nicht zwingend, dass Lesen in der SynagogeSynagoge vorauszusetzen wäre.6 Die Formulierung verweist eher auf die Aneignung durch individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre,7 was bei den genannten Gruppen (insb. den SchriftgelehrtenSchrift-gelehrte) auch plausibel ist.

Eine Ausnahme von den besprochenen Einleitungswendungen bildet die zweifache Gegenfrage ἐν τῷ νόμῳ τί γέγραπται; πῶς ἀναγινώσκεις; (Lk 10,26Lk 10,26 f), die JesusJesus einem SchriftgelehrtenSchrift-gelehrte einleitend vor dem Gleichnis des barmherzigen Samariters stellt und die in pragmatischerPragmatik Hinsicht ein Kombinationszitat aus Dtn 6,5Dtn 6,5 und Lev 19,18Lev 19,18 in der Figurenrede des Schriftgelehrten einleitet. Nicht überzeugend ist die Interpretation, Jesus meine „Wie rezitierst Du?“ und lenke seinen Diskussionspartner damit auf die tägliche RezitationRezitation des Sch’ma JisraelSch’ma Jisrael.8 Zum einen fehlt bei den Vertretern dieser Position eine Begründung, inwiefern ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω hier das Rezitieren eines auswendiggelernten Textes aus dem Kopf bezeichnen könnte. Zum anderen zitiert der SchriftgelehrteSchrift-gelehrte im Folgenden ja gerade nicht nur Dtn 6,5Dtn 6,5, sondern ergänzt diesen Vers durch das Gebot zur Nächstenliebe aus Lev 19,18Lev 19,18. Für die LeserLeser ist dies auf der Ebene der erzählten Welt so zu verstehen, dass der Schriftgelehrte die Kombination selbständig vornimmt.

Umstritten ist in der Forschung, ob das Fragepronomen πῶς hier mit „Was?“ oder „Wie?“ wiederzugeben ist.9 Dies liegt vor allem daran, dass die Frage πῶς ἀναγινώσκεις; elliptisch formuliert ist. Die Vertreter, die für die Übersetzung „Was?“ plädieren, ergänzen in Gedanken wörtlich aus der vorhergehenden Frage „was liest Du in der ToraTora?“ Möglich wäre aber auch zu ergänzen: „Wie liest Du die Tora?“10 Damit würde die Frage nach dem „Wie?“ nicht die Art und Weise des Lesens meinen, sondern vielmehr nach dem VerstehenVerstehen der Tora im Hinblick auf die vom SchriftgelehrtenSchrift-gelehrte selbst gestellten Frage nach dem Tun zum Erreichen des ewigen Lebens (Lk 10,25Lk 10,25 f).11 Eine konkrete LesesituationLese-situation liegt hier also nicht vor. In welcher Form Schriftgehrte die Tora rezipierten, lässt sich aus der Stelle nicht erschließen. Der Dialog zwischen den Schriftgelehrten und JesusJesus imitiert jedoch eine Art Gelehrtengespräch über die Tora, bei der aber nicht zwingend selbst aus dieser gelesen werden muss und in dem sich die Diskussionsteilnehmer auf ihre durchaus auch individuell-direkteLektüreindividuell-direkt LeseerfahrungLese-erfahrung, die ja z.B. für die TherapeutenTherapeuten bezeugt ist (s. o. 7.2.3), beziehen.

Ähnliches wird man für Joh 5,39Joh 5,39 voraussetzen können. Dort konstatiert JesusJesus, dass seine Gesprächspartner die Schriften erforschen (ἐραυνᾶτε τὰς γραφάςγραφή), weil sie meinten, darin das ewige Leben zu haben. Auch hier lässt sich nicht sicher erschließen, welche Form der Rezeption vom Text vorausgesetzt ist.12 Die Verwendung des Verbes ἐραυνάω (entspricht dem klass. ἐρευνάω) legt entsprechend der unter 3.6 dargelegten Untersuchungsergebnisse aber eher individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektürepraxis nahe. In der Rezeptionsgeschichte hat OrigenesOrigenes Joh 5,39Joh 5,39 als Aufruf zu einer intensivenAufmerksamkeitvertieft individuell-direkte Lektüre (ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις) verstanden, bei der nach dem Gebot Jesu in den Schriften zu „suchen“ (ζητέωζητέω) ist und die auf ein tiefes Verständnis zielt (vgl. Orig. Cels. 6,7).

Die einzigen Belege im NT, die eine kollektiv-direkteLektürekollektiv-direkt Rezeption der ToraTora, noch dazu in der SynagogeSynagoge, eindeutig thematisieren, finden sich im lukanischen Doppelwerk. Während in der Apostelgeschichte nur summarisch auf eine Lesung von Mose (Act 15,21Act 15,21) sowie von Mose und den ProphetenProphet (Act 13,15Act 13,15) verweist, bietet Lk 4,16–21Lk 4,16–21 eine ausführliche Schilderung einer LeseszeneLese-szene.


16 a Und er kam nach Nazareth,
b wo er aufgezogen (τρέφω) worden war,
c
d
a
b
c fand er die Stelle,
d
a „Der Geist des Herrn ist auf mir,
b weil er mich gesalbt hat.
c
d hat er mich gesandt,
zu verkündigen den Gefangenen Freiheit
[…].“
a
b
a Er aber begann, zu ihnen zu sprechen:
b

Die Schilderung des Wirkens JesuJesus in Galiläa beginnt im LkEv, anders als in den anderen EvangelienEvangelium, mit einer Lese- und Lehrszene in der SynagogeSynagoge in seiner Heimatstadt Nazareth, die am Ende in Zorn und Ablehnung sowie in dem Versuch mündet, Jesus aus der Stadt zu vertreiben, um ihn zu töten (Lk 4,28–30Lk 4,28–30), und Jesus schließlich nach Kapernaum führt (Lk 4,31Lk 4,31). Die Mehrheit der Forschung geht davon aus, dass es sich bei der Perikope Lk 4,14–30Lk 4,14–30 um eine eigenständige lukanische KompositionKomposition handelt, die auf Mk 6,1–6aMk 6,1–6 basiert.14 Es können hier nicht alle mit dieser Szene, die vielfach vor dem Hintergrund eines synagogalen WortgottesdienstesGottesdienstWort- interpretiert und als Beleg für diesen herangezogen wird, verbundenen exegetischenExegese Fragen besprochen werden. Im Folgenden ist die Szene im Hinblick auf ihren Aussagewert bezüglich der Frage nach dem Lesen im frühen JudentumJudentum und frühen ChristentumChristentum hin zu untersuchen.

 

Aufschlussreich für das Verständnis der Stelle in Bezug auf diese Frage erscheinen mir zunächst strukturanalytische Erwägungen und semantische Überlegungen im Hinblick auf einige der verwendeten Verben, die später noch zusätzlich durch narratologischeNarratologie Beobachtungen zu ergänzen sind. Es ist bekannt, dass die eigentliche LeseszeneLese-szene (Lk 16d–20aLk 16–20) ringkompositorisch um das Mischzitat aus Jes 61,1 fJes 61,1 f und 58,6dJes 58,6 gestaltet ist: a: ἀνέστη (16d) – b: ἐπεδόθη (17a) – c: ἀναπτύξας (17b) – Z: ἦν γεγραμμένονγράφω (17d) + ZitatZitat (18–19) – c|: πτύξας (20aα) – b|: ἀποδοὺς (20aβ) – a|; ἐκάθισεν (20aγ).15 Weitet man den Blick, fällt auf, dass die Ringkomposition von Hinweisen auf das Thema „LehreLehre“ gerahmt ist: Dem summarischen Hinweis auf die Lehre in den SynagogenSynagoge in Galiläa und deren allumfassend positive Aufnahme (Lk 4,15Lk 4,15) steht das Lehrgespräch in der Synagoge in Nazareth, die zu Zorn und Ablehnung führt (Lk 4,21–29Lk 4,21–29), gegenüber.16 Dem Hinweis darauf, dass JesusJesus in Nazareth aufgezogen worden war (τεθραμμένος [16b]), steht die Einleitung ἤρξατο λέγειν gegenüber, womit der Lehrvortrag eröffnet wird. Ferner steht dem dynamischen Hineingehen in die Synagoge (εἰσῆλθεν [16c]) die statisch ausgerichtete Reaktion der ZuhörerHörer in der Synagoge gegenüber (ἦσαν ἀτενίζοντες [20Lk 4,20b]). In diesem Kontext ist das Verb τρέφω in Lk 4,16Lk 4,16b nicht zufällig gewählt worden und bezeichnet v. a. nicht einfach nur das Aufwachsen Jesus.17 Vielmehr verweist das Verb vor dem Hintergrund der verbreiteten Metaphorik ESSEN/TRINKEN IST ANNAHME VON LEHRE18 spezifischer darauf, dass Jesus jetzt an den Ort seiner eigenen Ausbildung (passivisches τεθραμμένος in 16b: Nazareth ⇒ Jesus) zurückkehrt und sich das Verhältnis jetzt umgekehrt hat und er dort jetzt selbst lehrt (aktivisches ἤρξατο λέγειν: Jesus ⇒ Nazareth).

Die Schilderung der LeseszeneLese-szene selbst zeichnet sich durch Folgende aus: Die Verben ἀνίστημι (Lk 4,16Lk 4,16d) und καθίζω (Lk 4,20Lk 4,20a) implizieren, dass die Zuhörerschaft sitzt und derjenige, der vorliest, zum Lesen aufsteht. Das Lehrgespräch selbst (Lk 4,21ff) muss man sich anscheinend als im SitzenHaltungsitzen abgehaltenes vorstellen. JesusJesus wird ein SchriftmediumLese-medium gegeben, das den Text des Jesajabuches enthält und als βιβλίον bezeichnet wird. Jesus öffnet das Schriftmedium und findet eine ganz spezifische Stelle.

Für das Verb, das das Öffnen des Schriftmediums bezeichnet, finden sich in der handschriftlichen Überlieferung zwei verschiedene Verben, wobei schon die Editionsgeschichte zeigt, dass eine Entscheidung nicht einfach ist. Bis zur 25. Auflage las der NA an dieser Stelle das Verb ἀνοίξας, das von einigen wichtigen MajuskelnMajuskel, einigen Minuskeln und bei einigen Zitaten bei Euseb bezeugt ist (A B L W Ξ 33. 579. 892. 1241 pc; Euspt). Aktuell lesen die kritischen Ausgaben die Lesart des Mehrheitstextes, ἀναπτύξας, die u. a. durch den CodexKodex SinaiticusKodexSinaiticus, durch den Codex BezaeKodexBezae, von der Handschriftengruppe f 1.13, durch die latenischen Zeugen sowie durch einen anderen Teil der ZitateZitat bei Euseb bezeugt ist. Zu der uneindeutigen Bezeugungslage kommt das Problem der Relation der Verben zur auf der Ebene der erzählten Welt vorzustellenden Form des Schriftmediums bzw. zu den vom VerfasserAutor/Verfasser und seinen AdressatenAdressat verwendeten SchriftmedienLese-medium für das ATAT/HB/LXX hinzu. Dies wird an der Forschungsdiskussion zu dieser Stelle deutlich: Ausführlich zu dem Problem geäußert hat sich R. S. Bagnall in einem 2000 erschienenen Artikel. Er zeigt ausführlich, dass ἀναπτύσσωἀναπτύσσω gerade nicht als spezifisch auf Schriftrollen bezogenes Lexem verstanden werden kann, sondern stattdessen normalerweise, wie auch oben zu sehenSehen war, das Auffalten v. a. zusammengefalteter Papyrusblätter bezeichnet.19 Bagnall favorisiert daher die Lesart ἀνοίξας und vermutet, dass ἀναπτύσσω sekundär ist und eine Rückprojektion der Verwendung von Kodizes in der alten KircheKircheAlte darstellt.20 Das Problem dieser Deutung ist allerdings, dass auch das Verb ἀνοίγωἀνοίγω, wie er selbst hervorhebt, nicht wirklich ein Fachterminus für das Öffnen von RollenRolle (scroll) darstellt (s. o. 3.5).21 Die Argumentation von P. van Minnen gegen Bagnalls Überlegungen wird der Komplexität des Problems nicht gerecht und ist schon deshalb defizitär, da sie ohne jeglichen Verweis auf Quellen oder bildliche Darstellungen auskommt, vor deren Hintergrund seine Gegenthese der Aufbewahrung von Schriftrollen in einem Zustand, bei dem die Rolle in Form von zwei Konvoluten gelagert wird, verifiziert werden müsste.22 Eine solcher Zustand in zwei Konvoluten ist ikonographischLese-ikonographie bezeugt, aber eigentlich nicht für die Aufbewahrung,23 sondern als Motiv der unterbrochenenLese-pausen/-unterbrechung Lektüre, bei welcher der LeserLeser die SchriftrolleRolle (scroll) zumeist in der Hand hält. Hier ist die Buchrolle geöffnet und ein Stück entrollt, das entrollte Stück ist in der Mitte gefaltet.24 Würde man einen solchen Rollenzustand voraussetzen, müsste der Leser imaginieren, dass das Prophetenbuch schon vorher eine Rolle bei der synagogalen Veranstaltung am SabbatSabbat gespielt hätte. Zu einem solchen Szenario würden die beiden Verben ἀναπτύσσω und πτύσσω25 passen. Angesichts der vielen Voraussetzungen, die für ein solches Szenario notwendig wären, ist eine solche Deutung jedoch sehr spekulativ. So ἀναπτύσσω ursprünglich ist und nicht eine spätere stilistische Angleichung an πτύσσω (Lk 4,20Lk 4,20a) darstellt,26 wäre auch folgende einfache Erklärung der Nicht-Passfähigkeit des Verbs ἀναπτύσσω zum vorauszusetzenden Lesemedium einer Rolle auf der Ebene der erzählten Welt möglich. Und zwar könnte es sich um eine (möglicherweise unbewusste) rein terminologische Rückprojektion einer für den Umgang mit einem Kodex bzw. einem gefalteten Schriftmedium geläufigen Verbs auf eine Rolle handeln – ein Phänomen, das bei Prozessen des Medienwandels (s. moderne Beschreibungssprache von Prozessen auf dem Computer) durchaus geläufig ist.27 Dann wäre in Lk 4,17Lk 4,17b zum Ausdruck gebracht, dass der erzählte JesusJesus die Buchrolle „aufschlägt“, was aber nichts anderes meint, als dass er sie bis zu entsprechenden Stelle entrollt.

Bei der Darstellung der LeseszeneLese-szene in Lk 4 bleiben zahlreiche LeerstellenLeerstelle: Was passiert in der SynagogeSynagoge, bevor der lukanische JesusJesus aufsteht? In welchem Zusammenhang ist sein Aufstehen zu verstehen: Wird er aufgefordert? Geschieht es aus eigenem Antrieb? Erwartet das PublikumPublikum (s. auch Lesepublikum), dass er aufsteht oder überrascht er es damit?28 In Bezug auf das BuchBuch stellt sich die Frage, ob Jesus explizit nach dem Buch Jesaja verlangt oder es aus konventionellen Gründen in der Veranstaltung eine Rolle spielt? Offen ist außerdem auch, ob der lukanische Jesus die Stelle, die er findet, explizit sucht oder zufällig findet.

Die LeerstellenLeerstelle in Lk 4 werden in der exegetischenExegese Fachliteratur zumeist mit dem Hinweis auf die Elemente des „synagogalen Gottesdienste“Synagoge-ngottesdienst gefüllt. Dazu exemplarisch I. H. Marshall, der im gleichen Zug darauf hinweise, dass Lk 4Lk 4 „the oldest known account of the synagogue service“ darstelle:29