Heimkehr

Text
Autor:
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Seufzend machte sich Kappe daran, den vor ihm liegenden Papierwust zu ordnen und den fälligen Abschlussbericht in Angriff zu nehmen. Eine Tätigkeit, die ihm auch nach 36 Dienstjahren nicht besonders lag. Immerhin hatte der vorige Chef der Mordkommission Kappes Ausführungen zweimal als besonders exakt und eindeutig gelobt. Unangenehmerweise war der Mann bald darauf als ehemaliger SS-Oberscharführer entlarvt und durch einen Nachfolger ersetzt worden, dessen Eignung zum Kriminalinspektor jemand irgendwo in den Weiten Russlands oder in Karlshorst festgelegt hatte. In Karlshorst, dem «Berliner Kreml», residierte die sowjetische Militäradministration.

Anscheinend genügte es, an den momentanen Chef namens Schneidereit auch nur zu denken, um ihn herbeizurufen. Forschen Schrittes stürmte er in den mangelhaft beleuchteten Büroraum, einen jungen Burschen im Schlepptau, den er munter als den vielversprechenden Kriminalanwärter Holtefret präsentierte. Der sei Kappe und Schieck mit sofortiger Wirkung zugeordnet.

So hatte sich Kappe die seit langem geforderte Verstärkung der Mannschaft nicht vorgestellt. Er wurde ohnehin den Eindruck nicht los, dass man ihm vorwiegend die hoffnungslosen Fälle zu

teilte und ihn allenfalls zu Rate zog, wenn es um Kriminelle der alten Garde und ihr Umfeld ging.

Schneidereit, ein Hektiker vor dem Herrn, wollte umgehend wieder verschwinden, allein schon um der Frage nach einem zusätzlichen Schreibmöbel und einer Sitzgelegenheit für den Neuen zu entgehen. Er wurde jedoch im Abgehen von einem Mitarbeiter aufgehalten, der kurz und knapp den Fund einer weiblichen Leiche in Buch meldete.

«Na bitte, meine Herren!», sagte Schneidereit zuversichtlich.

Kappe und Schieck erhoben sich. Das Platzierungsproblem für Holtefret hatte sich vorläufig erledigt.

«Komm Se!», forderte Kappe den strohblonden Jüngling auf, der ein wenig verwirrt schien. «Könn Se gleich mal erfahren, was bei uns so los ist.»

Befriedigt schaute Schneidereit seinen abrückenden Mannen hinterdrein.

DREI

SO ÜBELRIECHEND hatte Eddie Holtefret sich die Polizeiarbeit nicht vorgestellt. Die Frau – oder das, was von ihr übrig war – musste schon etliche Tage, wenn nicht Wochen in dieser Grube im Berliner Stadtforst gelegen haben, die einem eilig gegrabenen Schützenloch verteufelt ähnlich sah. Dafür hatte Eddie Holtefret einen Blick, seit er bei der Ausbildung zum Infanteristen selber mehrere Tonnen märkischen Sandes geschippt hatte, um seinen Körper anschließend in die mit einer Zeltbahn überdeckte Kuhle zu werfen und schussbereit den Feind zu erwarten. Als der dann wirklich kam, ließ er Eddie allerdings nicht die Zeit, ein Loch in den steinigen und zusätzlich gefrorenen Untergrund der Eifel zu buddeln, sondern fuhr mit einem Jeep so scharf auf ihn zu, dass nur ein armstarker Baum Eddie daran hinderte, sein junges Leben auf wenig heldenhafte Weise zu beschließen.

So war er als Zwanzigjähriger in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten, in der ihm seine spärlichen Englischkenntnisse ein einigermaßen erträgliches Los verschafften. Nur sein Vorname Adolf bot den Kameraden wie den Wachmannschaften hin und wieder Anlass zu Späßen und Schikanen, weshalb er sich bald nur noch Addi nannte, woraus die Amerikaner schnell Eddie machten. Eddies Lagerleben gipfelte schließlich in einem Schreibstubenjob, der es ihm im August 1945 gestattete, sich selbst unter Missbrauch von zwei mangelhaft gesicherten Dienstsiegeln aus dem Lager zu entlassen und den Weg ins heimatliche Berlin anzutreten.

Einen Beruf hatte Eddie Holtefret, Jahrgang 1924, wie so viele seiner Generation nicht erlernt. Dafür hatte die Zeit zwischen mittlerer Notreife, Einsatz als Flakhelfer und anschließender Einberufung einfach nicht gereicht. Dabei hatte Eddie, damals noch Adolf, einmal weitreichende berufliche Pläne verfolgt, war doch sein Onkel Ewald als Chemigraf und Klischeeätzer bei einer Tageszeitung tätig gewesen – ein gesuchter Fachmann, wie es hieß, und der Einzige in der Familie, der Adolfs Zeichentalent erkannte und förderte. Richtig Feuer gefangen aber hatte Adolf erst, als er aus heimlich belauschten Gesprächen der Erwachsenen erfuhr, dass hinter besagtem Ewald eine kurze Karriere als Banknotenfälscher lag, die dem begabten Onkel zwei Jahre Zuchthaus eingebracht hatte. Viel später, als Onkel Ewald ihn in die ersten Geheimnisse der schwarzen Kunst einzuweihen begann, hatte der ihm nebenbei eine wichtige Erkenntnis mitgeteilt: «Bestraft wird man nicht, weil man etwas Verbotenes getan hat, sondern weil man so dämlich ist, sich erwischen zu lassen.»

Nach der Gefangenschaft auf Um- und Schleichwegen endlich in Berlin gelandet, hatte sich der fehlende Beruf bei der Suche nach Arbeit als ein gewisser Mangel erwiesen. Eddie war nicht auf den Kopf gefallen und nach all den Jahren in der HJ, hinter dem bellenden MG in den Bergen des italienischen Apennin, nach dem verlustreichen Rückzug aus Frankreich und der Gefangenschaft wahrlich kein heuriger Hase mehr. Nordöstlich vom Alex in der Gegend des Georgenkirchplatzes aufgewachsen – ein Kiez, der kaum zu den bevorzugten Wohnadressen ehrbarer Bürger gehörte –, kannte und beherrschte er so manche, nicht immer gesetzeskonforme Überlebensstrategie kleiner Leute. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, in das zwischen den Ruinen seines einstigen Wohnviertels erblühende Geschäftsleben einzusteigen, zumal ihm alte Bekannte wohlwollend dazu rieten.

Eddie war ein vielseitiger und lernfähiger junger Mensch, der sich nicht mehr als nötig vor körperlicher Arbeit drückte. Zu einem aber taugte er nicht: zum Händler. Im Kaufmannsladen seiner älteren Schwester hatte er lieber den eiligen Kunden als den Verkäufer gespielt, und an den Schachergeschäften im Lager hatte er nur als Zuschauer teilgenommen. An die gängige Zigarettenwährung war er allerdings gewöhnt.

Die Wohnung seiner Eltern lag in Schutt und Asche, bei einer Tante in Tempelhof fand er eine notdürftige Unterkunft. Deren Schwippschwager Jochen wiederum betrieb ein erfolgreiches und vorerst zukunftssicheres Unternehmen, das sich vornehmlich unter Wasser abspielte. Jochen, hinter dem eine undurchsichtige Vergangenheit bei der Marine lag, betätigte sich nämlich als Taucher und suchte dringend Mitarbeiter. Er stellte Eddie sofort als Anlernling ein, was dessen Abenteuerlust entgegenkam und ihm anfangs ganz gut gefiel. Der bezog die Schwerarbeiterkarte und eine zusätzliche Milchration, mit der er bei der Tante die Miete beglich. Allmählich begann er, sich in der Spree und den flachen Berliner Kanälen heimisch zu fühlen, als ein Ereignis eintrat, das ihn zur jähen Aufgabe des Tauchgewerbes nötigte. Die zunehmende Kälte in den winterlichen Gewässern war zwar unangenehm, doch nicht der eigentliche Anstoß. Vor dem Kraftwerk Klingenberg strömte ohnehin das warme Wasser der Turbinenkühlung in den Fluss. Zusammen mit einem weiteren Taucher, der über ebenso viel Praxis verfügte wie Eddie, waren er und Jochen mit Räumarbeiten im schlammigen Untergrund beschäftigt, wo sich von der Bettstelle über abgesoffene Kähne bis hin zu größeren Stahlkonstruktionen beinahe alles fand, was Krieg und Großstadt hergaben. Gerade war Eddie aus den trüben Fluten aufgetaucht, um sich seiner Last auf dem Stahlponton zu entledigen, wo Jochen hockte und die Sauerstoffzufuhr kontrollierte, als eine dumpfe Explosion seinen Helm erschütterte und ihn selbst gegen die sich neigende Fahrzeugkante schleuderte. Ein heftiger Schlag in den Rücken nahm ihm die Luft. Die bleiernen Stiefel zogen ihn nach unten, kaum fand er die Kraft sich festzuklammern.

Der schreckensbleiche Jochen half ihm nach oben, und als Eddie sich umwandte, bot sich ein schauerliches Bild. Keine zehn Meter entfernt, ungefähr da, wo sich der Kollege in drei oder vier Meter Tiefe aufhalten musste, brodelte das Wasser bräunlich und brachte allerlei Unrat an die Oberfläche. Erst als Jochen mit fliegenden Fingern die Helmverschraubung gelöst hatte und Eddie zwei tiefe Atemzüge tat, erkannte er, dass der Unrat zu einem Gutteil aus einem zerfetzten Taucheranzug bestand und die Färbung des immer noch unruhigen Wassers deutlich in ein blutiges Rot spielte. Mitten in der Brühe schaukelte der blanke Helm.

Wortlos übergab sich Eddie.

«Munition», flüsterte Jochen hilflos. «Wie oft habe ich euch gesagt, ihr müsst vorsichtig sein!»

Eddie gab keine Antwort und stieg aus dem Taucheranzug. «Das war’s», sagte er schließlich und griff nach seinen Zivilklamotten. Vom Ufer her klangen Rufe herüber.

«Was heißt hier ‹Das war’s›?», protestierte Jochen. «Du kannst nicht einfach abhauen …»

«Ich kann!», widersprach Eddie. «Oder meinst du wirklich, ich habe den Scheißkrieg überlebt, um hier als Fischfutter zu enden?»

Keine halbe Stunde nach dem abrupten Ende seiner Taucherkarriere unterbreitete man ihm eine Offerte für eine angeblich weit weniger gefahrvolle Tätigkeit. Die beiden Polizisten, die seine Aussage bezüglich des Unfalls aufnahmen, musterten ihn wohlwollend und schlugen vor: «Warum kommste nicht zu uns? Da kriegste auch Karte I und brauchst nich ins kalte Wasser.»

«Oder warste bei der SS?», ergänzte der andere mit Blick auf Eddies Größe und seine blonde Tolle.

Ein bisschen mehr wollte man bei der Personalleitung schon wissen, doch zwei Tage nach Ausfüllen des Fragebogens fand sich Eddie als Angehöriger der Bereitschaftsinspektion Berlin-Mitte, Kleine Alexanderstraße 21–24, in der vertrauten Gegend seiner Kindheit wieder. War es ein Wunder, dass ihm schon nach wenigen Tagen eine junge Dame auf der Straße begegnete, zu der er als Knabe ebenso bewundernd wie vergeblich aufgeschaut hatte: Roswitha Blonowski, einst im selben Hinterhaus ansässig wie Eddies Familie und der Stern aller schlaflosen Jungenträume. Das Hinterhaus stand nicht mehr, doch Roswitha hatte nichts von ihrem Reiz eingebüßt. Rötlich getöntes Haar, gut angemalt und schick wie eh und je.

 

«Roswitha!», rief er, und sie blieb stehen, nachdem sie dem Uniformierten zuvor in einem scheuen Bogen auszuweichen versucht hatte.

Sie staunte. «Mensch, biste nich der kleene Adolf?»

Schwang da so etwas wie Bewunderung mit in ihrer rauchigen Stimme?

Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. «Mein lieber Scholli, du hast dir aber rausjemacht!»

Eddie griente zufrieden und wagte es, seinen Arm um ihre Taille zu legen. «Da freue ich mich aber, dich zu treffen.»

«Na, und ick erst … Aber musstest de denn ausjerechnet bei de Polente jehn?»

Das klang schon weniger begeistert. Als Eddie ihr in einer Stampe in der Münzstraße bei einem Glas Dünnbier den Grund für seine augenblickliche Berufswahl erläuterte, zeigte sie sich einsichtig. «Man weeß ja heutzutare jar nich, wozu so wat jut sein könnte … Und unter Wasser», sie schüttelte sich, «det is nu wahrlich keen schöner Dot.»

Der nette Abend endete im Bett. Roswithas Kemenate lag in der nahen Wadzeckstraße, von der es nur ein Katzensprung zur Kaserne war – ein Sprung, den Eddie von da an des Öfteren tat, obwohl ihm bald bewusst wurde, weshalb ihn Roswitha nicht jederzeit empfangen konnte.

«Sieh mal, mein Süßa, von irjendwat muss der Mensch schließlich leben. Du von dein Stuhlbeen und die Uniform – ick von meine Kunden. Deswejen lieb ick dir doch nich wenijer …»

Das Stuhlbein war der hölzerne Polizeiknüppel, mit dem Roswitha gerne mal herumfuchtelte. Sie ging auf den Strich, wie sie es schon getan hatte, als ihr der dreizehnjährige Eddie verliebt hinterhergeguckt hatte. Am Georgenkirchplatz war sie nicht die Einzige gewesen. Und jetzt war sie es noch weniger. Aber keine reichte an sie heran, fand Eddie.

Der Dienst und die Kaserne samt Gemeinschaftsverpflegung dagegen stanken ihm bald. Alle naselang karrte man die Bereitschaft zu Razzien gegen die Schwarzhändler, die ja nichts anderes taten, als sich mühselig am Leben zu halten. Ein paarmal begegneten Eddie unter den Festgenommenen Bekannte, und ihm blieb nichts anderes übrig, als den dämlichen Papp-Tschako tiefer ins Gesicht zu ziehen, um mit seinem Blondschopf nicht sofort erkannt zu werden. Auf die Dauer war das nichts für einen intelligenten Menschen wie ihn.

Das Ende kam schneller und nicht weniger heftig als draußen in Klingenberg. In den antiken Bauten der Kleinen Alexanderstraße befanden sich auch die Diensträume des Kommandeurs der Schutzpolizei. Nachdem die Russen den ersten Kommandeur, einen Sozialdemokraten namens Karl Heinrich, hatten verschwinden lassen, nahm jetzt ein gewisser Wagner die Stellung ein. Und der fand eines schönen Märztages, es sei an der Zeit, der auf dem Kasernenhof herrschenden Schlamperei ein Ende zu bereiten. Man nutzte Teile des Geländes der Einfachheit halber als Lagerplatz für die Fundmunition aus der Umgebung, während auf dem restlichen Freiraum der Dienstsport absolviert wurde. An diesem Tag also galt es, die Munition für den Abtransport zusammenzuräumen.

Unter den Polizeiangehörigen befand sich kaum einer, der nicht über ausreichende Kenntnisse im Umgang mit Granaten, Panzerfäusten und ähnlich soldatischem Mordwerkzeug verfügte. Aber wie immer und überall gab es einen altklugen Schlauberger, der mit seinen Kenntnissen und seinem vorgeblichen Können prahlen und die Funktionsweise einer Eierhandgranate vorführen wollte. Das gelang ihm gründlich. Nachdem er das Ding – versehentlich oder nicht – entsichert hatte, warf er es in Panik in die ringsum gelagerte Munition, was eine wesentlich heftigere Explosion hervorrief, als Eddie sie in der Spree miterlebt hatte. Aus allen Richtungen flogen ihnen die Brocken um die Ohren. Das zweihundert Jahre alte Kasernengebäude, das mehr als einen Krieg überstanden hatte, stürzte ein und erschlug einen Fußgänger.

Den Umzug der Bereitschaft in das Marstallgebäude am Schloßplatz machte Eddie, von einem Splitter am Unterarm leicht verwundet, nicht mit. Standhaft weigerte er sich, fortan in der hässlichen Uniform Dienst zu tun, die ihm ein derart lebensgefährliches Erlebnis beschert hatte. Wenn überhaupt, dann kam für ihn nur die Kriminalpolizei in Frage, bei der es zwar nicht weniger bedrohlich zuging, mit der aber wenigstens der Hauch des Abenteuers verbunden war.

Als Halbwüchsiger hatte Eddie mit roten Ohren die Hefte von Frank Allan und John Kling gelesen. Außerdem steckte natürlich Roswitha hinter seinem mit dem Explosionsschock begründeten Entschluss. «Wenn schon bei der Plempe, dann Kripo», fand sie. Einen bei der Firma konnte man immer gebrauchen, und die Nachbarn würden endlich aufhören, sich über den dauernden Polizeibesuch im Hause das Maul zu zerreißen. Dass Eddie zu ihr in die fensterlose Kemenate zog, schloss sie kategorisch aus. Eddies Tante in Tempelhof reagierte auf die bloße Andeutung der Existenz einer weiblichen Person in seinem Leben mit der prompten Androhung der sofortigen Exmittierung. Eddie zog es vor, Roswitha nicht mehr zu erwähnen. Die nächsten zwei Monate verbrachte er sowieso auf einem Lehrgang für berufsunkundige Kriminalanwärter an der Polizeischule in Oberschöneweide, wo man ihm die Grundlagen kriminalpolizeilicher Arbeit beizubringen versuchte.

So stand es also um Adolf Eddie Holtefret, der für immer noch 255 Reichsmark im Monat zur Kripo gewechselt war. Nun fand er sich plötzlich bei einem Einsatz der Mordkommission wieder, in der ein brummiger alter Herr namens Kappe den Ton angab. Ein unangenehm naseweiser junger Mensch suchte dem das Kommando streitig zu machen, bis Kappe ihn anfuhr: «Sie sind hier der Fotograf, Schieck! Tun Sie gefälligst Ihre Pflicht!»

Das tat Schieck sichtlich widerstrebend und dabei unaufhörlich über die schlechten Lichtverhältnisse zwischen den halbwüchsigen Kiefern räsonierend.

Dass man dem eine echte Leica anvertraut hatte, bewunderte Eddie. Er wusste, was die Kamera auf dem schwarzen Markt wert war. Dabei fiel ihm Roswithas beiläufige Frage nach einem zuverlässigen Fotografen ein. Wofür sie den brauchte, hatte sie nicht näher erläutert, nur etwas von alten Negativen angedeutet. Jedenfalls schien ihm der besserwisserische Kollege Schieck keine zweckmäßige Wahl, was immer Roswitha im Schilde führen mochte. Sie weihte ihn nur gelegentlich in ihre Pläne ein und sagte für gewöhnlich: «Bei deinem Beruf ist es besser, du weißt nicht zu viel!» Also fragte er nicht, vermied es aber im Gegenzug, Einzelheiten aus dem Betrugsdezernat zu erzählen, nach denen sie sich erkundigte.

Dass er nun bei der Mordkommission gelandet war und gleich am ersten Tag einer übelriechenden Frauenleiche begegnen würde, hatten weder er noch Roswitha am gestrigen Abend geahnt. Angesichts des atemberaubenden Gestanks bereute Eddie seine eifrige Zustimmung zu der morgendlichen Versetzung. Ihm fiel nichts anderes ein, als sich eine Zigarette anzuzünden und sich damit Kappes ersten scharfen Rüffel einzuhandeln: «Wir befinden uns hier an einem Tatort, Verehrtester, zumindest an einem Auffindungsort! Da kommt es auf die kleinste vorhandene Spur an. Ihre Kippe kann das ganze Tatortprofil verderben!»

Eddie drückte erschrocken den Glimmstängel aus und verbrannte sich die Finger.

Schieck sah ihn von unten her schief an und sagte hämisch: «Vielleicht will er ja als Frauenmörder entlarvt werden …»

Eddie bückte sich nach dem Streichholz. Kappe knurrte etwas Unverständliches und beugte sich noch einmal über die Leiche. So dicht, dass Eddie beim bloßen Anblick übel wurde. Die Frau glich eher einem grausigen Kleiderbündel als einem Menschen.

«Machen Sie noch ein paar Aufnahmen von der Halspartie!», forderte Kappe den Fotografen auf. «Sie gucken sich das auch mal an, Holtefret! Sieht ganz nach Würgemalen aus.»

Eddie hatte in seinem Leben etliche tote Soldaten gesehen. Zum Glück zumeist aus der Ferne. Auch im Gefangenenlager hatte es Tote gegeben. Der Dolmetsch Eddie gehörte nicht zum Begräbniskommando. Jetzt aber zwang ihn die Pflicht oder vielmehr dieser abgebrühte alte Knochen Kappe dazu, neben dem Schützenloch in die Hocke zu gehen und auf die schwärzlich verfärbten Hautpartien zu blicken, die einmal der Hals einer möglicherweise hübschen jungen Frau gewesen waren. Er versuchte, die Luft anzuhalten, säuerlich stieg es ihm in die Kehle. «So sieht das also aus …», krächzte er und schaffte es nicht mehr aufzustehen, bevor sich sein dürftiger Mageninhalt über die Tote ergoss.

VIER

ALMA UMBREIT hatte Kuchen gebacken. Vor zwei Tagen schon, aber das machte nichts. Der einzigen Art von Kuchen, die man in diesen Zeiten backen konnte, machten ein paar Tage Lagerung mehr oder weniger nichts aus. «Kaffeegrund altert nicht», meinte auch die Nachbarin, von der das Rezept für die Kaffeetorte stammte, die zum größten Teil aus Kaffee-Ersatz bestand. Hinzugefügt hatte Alma sehr wenig Mehl und Grieß, kaum Fett und ein bisschen von dem braunen Zeug, das es im Vormonat auf die Zuckermarken gegeben hatte.

Es war so eine Sache mit der alliierten Versorgung, die vierteljährlich wechselte. Bei den Russen gab es Schwarzbrot und Kartoffeln, die Amerikaner lieferten duftendes Weißbrot, das nicht sättigte, und gelben Maisgrieß, dazu Trockenkartoffeln, die hart wie Bonbons waren oder nur einen mehligen Brei ergaben. Die eimerhohen französischen Kartoffelkonserven schmeckten abscheulich. Aber was es auch gab, satt wurde man nie. Schon gar nicht, wenn man wie Alma Umbreit die Karte V für Sonstige bezog. Zum Sterben eine Spur zu viel, zum Leben viel zu wenig.

Und doch hatte sie sich die Zutaten für die Kaffeetorte vom Munde abgespart, und in der Speisekammer wartete die Leberwurst im Napf darauf, endlich aufs klitschige Brot geschmiert zu werden. Natürlich keine echte Leberwurst, an deren Geschmack sich Alma Umbreit erinnerte. Nur ein Gemisch aus Mehl und Majoran mit allerhand anderen Zutaten, die ein Wurstaroma vortäuschten. Auch dies war ein Rezept der findigen Nachbarin, ohne deren Hilfe und gute Ratschläge sie vielleicht nicht mehr am Leben gewesen wäre. Alma war 63 Jahre alt und wohnte seit über zwanzig Jahren in Neukölln, Prinz-Handjery-Straße, Vorderhaus drei Treppen hoch, zwei Zimmer und Küche mit Bad, was schon beinahe als Luxus gelten musste.

Bis vor zwei Jahren war der Blick aus ihrem stets blitzblank geputzten Küchenfenster in den verwinkelten Hof des benachbarten Eckhauses gefallen. Als Alma sich an einem frühen Junimorgen nach dem gewohnten Bombenangriff aus dem Luftschutzkeller hinaufgequält hatte und ihre zentimeterdick mit Staub bedeckte Küche betrat, hielt sie den Lichtschein, der durch das zerborstene Fenster fiel, zunächst für den Widerschein der Brände ringsum. Doch dann erkannte sie, dass es sich um ein Ereignis handelte, das sie als Großstädterin kaum je in ihrem Leben beobachtet hatte. Das nahe Eckhaus war zu einem qualmenden Trümmerhaufen zusammengesunken. Almas Blick reichte daher plötzlich bis weit über den alten Friedhof und die Baumwipfel hinweg, hinter denen die Sonne aufging. Ihr blieb wenig Zeit, die neue Aussicht aus Küche und Schlafzimmer zu genießen. Dafür sorgten die Papptafeln, welche die Fensterscheiben bald ersetzten. Nur an schönen Tagen standen alle Fenster weit offen – so wie heute, obwohl es ein eher kühler Septembertag war. Alma fror ein wenig. Mit Schrecken dachte sie an den nahenden Winter und an die spärlichen Kohlevorräte in ihrem Keller, den sie nun auch noch mit diesen schrecklichen Leuten teilen musste, die man ihr in das schöne Vorderzimmer gesetzt hatte. Was sollte das werden?

Doch sofort brach sich ihr angeborener Optimismus Bahn: Alles würde sich wie von selbst lösen, wenn der Junge wieder da war. Heute musste er kommen, das spürte sie einfach. Immer wieder trat sie ans Küchenfenster und blickte über die Trümmer weg hinunter auf die Straße, soweit die sich überblicken ließ. Dabei konnte sie nicht einmal sicher sein, aus welcher Richtung er kommen würde. Aber wenn, dann gab es keinen Zweifel, dass sie ihn erkannte.

Drei lange Jahre hatte sie ihn nicht gesehen. Die Gewissheit, dass er überlebt hatte, war nie in ihr erloschen. Sie war ein gläubiger Mensch, und die Annahme, der Herr im Himmel könne eine ganze Familie zugrunde richten und nur sie, das letzte unfruchtbare Glied, übrig lassen, schien ihr unvorstellbar. Als daher vor einigen Tagen die Nachbarin, die es sich leistete, eine Tageszeitung zu abonnieren, ganz aufgeregt bei ihr geklingelt und ihr in dieser Zeitung den Namen Heinz Umbreit schwarz auf weiß gezeigt hatte, war eine Zentnerlast von ihrer Seele gefallen. Wirklich überrascht hatte es sie nicht, ihren Heinz unter den in den nächsten Tagen aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft Heimkehrenden zu finden. Angeblich hatten die Russen schon an die hunderttausend entlassen, und täglich kamen vier- bis fünftausend hinzu. Einmal war sie sogar voller Hoffnung zu einem Heimkehrerlager ganz in der Nähe von der Wohnung dieser Irmgard gefahren, hatte aber nichts erfahren oder ausrichten können. Nun also stand es sogar in der Zeitung!

 

Heinz war ihr Patenkind, der einzige und wohlgeratene Sohn ihres Bruders Karl. Der war im Sommer 1944 zusammen mit seiner Frau Emmi unter den Trümmern eines Wohnblocks in der Annenstraße umgekommen. Und Heinz’ junge Frau Irmgard lebte vermutlich ebenfalls nicht mehr. Anstelle des Hauses am Lichtenberger Polizeipräsidium in der Alfredstraße, in dem diese Irmgard möbliert gewohnt hatte, erhob sich nur noch eine Brandruine. Niemand wusste, was aus den Bewohnern geworden war.

Alma hatte denn auch keine weitere Mühe aufgewandt, nach Irmgard zu suchen. Das war sowieso keine passende Frau für ihren Heinz gewesen, zu albern und leichtfertig und außerdem viel zu schnippisch einer alten Frau gegenüber, die wahrhaftig Besseres verdient hatte. Geschminkt und die Haare gefärbt, von solchen Frauen hielt Alma nun einmal nichts. Ihr Heinz würde leicht eine andere finden, so gut, wie er aussah, und so gebildet, wie er war. Außenhandelskaufmann hatte er gelernt, und nur der schreckliche Krieg hatte verhindert, dass ein tüchtiger Geschäftsmann aus ihm geworden war.

Jetzt würde er einen neuen Anfang finden und zeigen, was er konnte. In der Zeitung der Nachbarin stand alle Tage, dass es aufwärtsging, und wenn sie selbst auch nichts davon spürte – der Junge würde seine Chancen zu nutzen wissen! Wohnen konnte er bei ihr. Bis sie gemeinsam die fremden Eindringlinge aus ihrem einstigen Wohnzimmer vertrieben hatten, würde sie ihm ihre Stube überlassen und selber auf dem roten Plüschsofa in der Küche schlafen. Ein Grund mehr, die Fremden möglichst gar nicht mehr in die Küche zu lassen. War schon schlimm genug, dass man mit solchen Leuten die Toilette teilen musste. Fehlte bloß noch, dass die in ihrer Wanne baden wollten! In den nächsten Tagen würden die wohl ihre Laube, in der sie im Sommer hausten, verlassen und hier auftauchen.

Sobald Heinz da war, musste sie mit ihm das Sofa in die Küche tragen. Zusammen mit der stets hilfsbereiten Nachbarin hatte sie es nicht geschafft. Schon vor ihrem nächtlichen Unfall auf der Treppe hinunter in den Luftschutzkeller war sie nie besonders kräftig gewesen, hatte für die schweren Arbeiten oft Hilfe gebraucht. Seit dem schrecklichen Selbstmord der Eltern in den Inflationstagen war der Bruder Karl immer für sie da gewesen. Später war es dann der heranwachsende Heinz, ein lieber Junge, der ihr jeden Wunsch von den Augen ablas.

Sehnsuchtsvoll stand sie am offenen Fenster und starrte hinaus. Kein Heinz weit und breit. Nur ein alter Mann, der eine dieser zweirädrigen Karren schob, mit denen auch die Untermieter alles transportierten. Alma besaß nur einen einfachen Bollerwagen, aber der war kaputt. Heinz mit seinen geschickten Fingern würde ihn reparieren. Wenn der Junge nur erst da wäre …

Vielleicht ging er ja zuerst in die Alfredstraße und fand dort die Ruine vor. Dann blieb ihm gar nichts anderes übrig, als sich auf den Weg zu ihr zu machen. Wo seine Tante Alma wohnte, hatte er gewiss nicht vergessen. Die U-Bahn fuhr von Lichtenberg wieder bis zum Alex und von dort zur Leinestraße. Oder er nahm die S-Bahn …

Und dann setzte für einen Augenblick ihr Herzschlag aus. Es klingelte! Zwar lang und kräftig, nicht zweimal kurz, wie sie es von Heinz gewöhnt war – dennoch! Der Junge durfte ja so klingeln, wie er wollte!

«Ja!», schrie sie, so laut sie konnte, und hatte die Küchentür schon aufgerissen, hinkte in den Korridor und kriegte vor Aufregung kaum die Sperrkette aus der Halterung. «Ja, ja!», sagte sie noch einmal, und dann war die Tür endlich offen, und im schummrigen Licht des Treppenhauses stand ein Landser in seiner lumpigen Kluft vor ihr, die Schirmmütze beinahe demütig in der Hand.

«Fräulein Umbreit?», fragte er, und ihr Herz tat einen weiteren schmerzhaften Sprung, denn das war nicht ihr Heinz, der da vor ihr das spärliche Licht verdunkelte. Das war nicht die vertraute, die ersehnte Stimme. Es handelte sich um einen gänzlich Fremden, dessen Gesicht sie nicht einmal zu erkennen vermochte.

Und sie hatte ihm, gegen alle Gewohnheit, bereitwillig die Tür geöffnet und stand ihm nun hilflos gegenüber. Dass sie Umbreit hieß, war über der Klingel zu lesen, das gehörte zu den Tricks solcher Kerle! Hatte sie nicht gerade erst in der Zeitung etwas über die falschen Grußbesteller, eine Seuche der Nachkriegszeit, gelesen? Die zogen umher, bestellten Grüße vermisster Angehöriger, denen es in Lagern angeblich schlechtging, kassierten Geld oder Lebensmittel oder quartierten sich gar für einige Tage bei den Gutgläubigen ein, um sie dann auszuplündern. Stand so einer vor ihr?

Der Mann redete ruhig und besonnen auf sie ein. Die Stimme klang nicht unangenehm. Und er hatte sie als Fräulein Umbreit angesprochen. Er wusste also, mit wem er es zu tun hatte. Für einen Augenblick fühlte sie sich beruhigt, bevor neues Misstrauen in ihr aufflammte. Wo überall im Haus hatte der bereits geklingelt? Irgendeine gedankenlose oder bösartige Person mochte ihm gesagt haben: «Versuchen Sie es mal bei Fräulein Umbreit. Die wartet schon lange auf ihren Neffen …»

Und richtig, während sie ihn von unten her anstarrte und ihm gar nicht richtig zuhörte, weil ihr so viel gleichzeitig durch den Kopf schoss, fiel Heinz’ Namen. «Sie sind doch seine Tante. Hält er sich nicht bei Ihnen auf?»

«Wie kommen Sie denn darauf?» Es klang viel patziger als beabsichtigt, und es tat ihr im selben Augenblick leid.

Der Mann wich einen halben Schritt zurück. Jetzt sah sie ihn im Profil. Ein scharf geschnittenes Jungengesicht mit einer markanten Nase und tiefliegenden Augen unter einem dicken Kopfverband. Ein bisschen unheimlich, aber keine Verbrechervisage. Nur, was wollte das schon sagen, in solchen Zeiten?

«Er hat oft von Ihnen gesprochen», sagte der junge Mann beinahe entschuldigend. «Deshalb hat er mir die Adresse gegeben, falls ich ihn nicht in der Alfredstraße antreffe.»

Alma horchte auf. Von Heinz’ Frau in der Alfredstraße wussten nicht allzu viele Leute. Heinz hatte eigentlich nur während seiner letzten kurzen Urlaubsaufenthalte in Berlin bei der gewohnt. Anfangs, in Holland, war es ihm noch gutgegangen, und er durfte ein paarmal nach Berlin reisen. Eine wundervolle Strickjacke hatte er Alma mitgebracht, reine Schafwolle und Gold wert im Winter. Heinz hatte bei einem solchen Kurzurlaub dann diese Irmgard kennengelernt und beim nächsten gleich geheiratet, der dumme Junge. Gegen ihren Rat natürlich, aber mit Karls ausdrücklicher Zustimmung. Männer eben.

Männer waren Alma zeitlebens ein wenig unheimlich geblieben, von Karl und Heinz einmal abgesehen. Sie fühlte sich unter Frauen wohl – wie in dem Büro, in dem sie viele Jahre gearbeitet hatte. Dort hatte sie nur Bojar gefürchtet, den unerbittlichen Chef, dem sie ein Gutteil ihres Unglücks verdankte. Hatte der nicht alle gezwungen, in die Partei einzutreten? Gewiss, keine der Frauen setzte dem etwas entgegen. Alle bewunderten den Führer. Auch Alma. Ihr Beitrag für die Winterhilfe war immer der höchste gewesen. Dann kam der Krieg, und all das schreckliche Unglück begann, die Bomben, die Ruinen, die Toten, die Soldaten, die irgendwo in der Fremde fielen. Und ihr Heinz mitten unter ihnen!