Buch lesen: «Grenzgänge»

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Jan Eik

Grenzgänge

Der 25. Kappe-Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Über den Autor

Impressum

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

NACHBEMERKUNG

Jan Eik, geboren 1940 als Helmut Eikermann, lebt als freiberuflicher Autor und Publizist in Berlin. Er schrieb eine Vielzahl von Sachbüchern, Kriminalromanen und -erzählungen sowie Hör- und Fernsehspielen. Die Leser des Jaron Verlags erfreute er u. a. mit «Schaurige Geschichten aus Berlin»(Neuausgabe 2013) sowie «Berliner Jargon»(2009) und «DDR-Deutsch» (2010), zwei humorvollen Büchern zur heimatlichen Sprache. Vor allem aber verfasste er zahlreiche Bände für die Krimiserien des Jaron Verlags, so für «Es geschah in Berlin»(zuletzt: «Heißes Geld», 2014), «Es geschah in Preußen»(«Attentat Unter den Linden», mit Uwe Schimunek, 2012), die «Berliner Mauerkrimis»(«Am Tag, als Walter Ulbricht starb», mit Horst Bosetzky, 2010) und «Es geschah in Sachsen» («Katzmann und das schweigende Dorf», 2011).

Originalausgabe

1. Auflage 2015

© 2015 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und

aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,

Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung

in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN 978-3-95552-024-3

EINS

DAS VON BRANDSPUREN und dicken Schläuchen durchzogene Gras quietschte schlammig unter den Stiefelsohlen der Feuerwehrmänner. Sie hatten ganze Arbeit geleistet. Was nicht den Flammen zum Opfer gefallen war, hatte dem Wasserdruck der Löschrohre nachgegeben. Qualmende Balkenstümpfe, zu schwärzlich glänzendem Schutt zerfallene Gebäudereste, allerlei Hausrat und Überbleibsel verbrannten Mobiliars verunzierten den einstigen Garten. Noch immer rann Wasser über das sanft abfallende Gelände durch die Zaunreste und bildete auf dem unbefestigten Fußweg Pfützen.

Missmutig versuchte Kriminaloberkommissar Otto Kappe, der Nässe auszuweichen. Es war hoffnungslos. Auf einer Wellblechtafel – bis vor zwei Stunden vermutlich das Schleppdach einer angebauten Garage, von der nur noch die unverputzte Rückwand stand – fand er einen trockenen Standort. Unwillig stieß er mit der Schuhspitze gegen einen ausgeglühten Fahrradrahmen. So viel stand fest: Ein Auto hatte in der Garage nicht gestanden. Leider ließ sich daraus nicht mit Sicherheit ableiten, dass sich keiner der Bewohner im Haus aufgehalten hatte, als der Brand ausgebrochen war. Davon hing ab, ob Otto Kappe den Rest der Nacht in der gottverlassensten Ecke des Berliner Nordens verbringen musste oder nicht.

Er hatte allen Grund zum Missmut. Keineswegs bester Stimmung war er am frühen Sonntagnachmittag mit Frau und hörbar murrendem Sohn zur Geburtstagsfeier seines Schwiegervaters aufgebrochen. Zu einem Ereignis, dem Otto Kappe einigermaßen kritisch gegenüberstand – was ihn allerdings nicht daran gehindert hatte, den seltenen Besuch ungebührlich lange auszudehnen und ein, zwei Gläser mehr zu trinken, als es dem Bereitschaftsdienst der Mordkommission gestattet sein mochte. Das hatte er nun davon. Er war nicht einmal dazu gekommen sich umzuziehen. Der helle Trenchcoat über dem neuen Anzug und die taubengrauen Slipper an den Füßen erwiesen sich als denkbar ungeeignete Bekleidung für die Untersuchung einer Brandstätte, in deren Trümmern die Feuerwehr eine Leiche vermutete. Mit einigem Recht, wie Otto Kappe zugeben musste, wollte er seiner Nase trauen. Die rauchgeschwängerte Luft enthielt eine deutliche Geruchskomponente von verbranntem Fleisch.

Sein jüngerer Kollege Hans-Gert Galgenberg schlängelte sich steifbeinig quer durchs Gelände. Sorgen bezüglich der Kleiderordnung kannte der nicht einmal sonntags nachts. Er war jederzeit zweckmäßig gekleidet und auf alles vorbereitet, heute trug er eine graugrüne Jacke und zu den modischen Nietenhosen eine Art halbhohe Cowboystiefel. Seit einiger Zeit versuchte er vergeblich, seinem freundlichen Mondgesicht mit einer randlosen Brille den Anschein strenger Intelligenz zu verleihen, den er gerne dargeboten hätte. Im Moment glich seine Miene eher der eines bekümmerten Laubenpiepers, der seinen abgebrannten Besitz in Augenschein nahm. «Kjökkenmödinger!», rief er Kappe zu und wies mit ausholender Armbewegung über die Trümmerstätte.

«Kjökken-was?», erkundigte sich Kappe, kaum befremdet. Galgenbergs gelegentlich etwas bizarre Einfälle überraschten ihn längst nicht mehr.

« … mödinger», ergänzte Galgenberg im Näherkommen. «So bezeichnet man neolithische Abfallhaufen. Darin macht man mitunter verblüffende Entdeckungen.»

Otto Kappe war selbst mit der Jungsteinzeit nicht zu schrecken. Er wusste, dass der junge Galgenberg unter diversen Studienfächern auch die Archäologie erwogen hatte. Schließlich war er aber doch im Arbeitsfeld seines legendären Großvaters gelandet.

«Na, dann mödinger mal, mein Junge!», ermunterte Kappe den Jüngeren spöttisch. Er selbst kam sich bis jetzt überflüssig vor. Beinahe jedenfalls. Um die Brandursache musste sich die Spurensicherung der Feuerwehr kümmern, und ob der verdächtige Geruch durch einen Leichenfund bestätigt würde, musste sich erst erweisen. Immerhin lag bei einem mit einigem Aufwand modernisierten Haus aus den zwanziger Jahren der Verdacht eines Versicherungsbetrugs nahe: Oft genug erschien der «warme Abriss» einem finanziell überforderten Bauherrn als die günstigste Variante, alle Schulden und den inzwischen mehrfach verfluchten Bau gleichzeitig loszuwerden. Sollte das Ehepaar, dem das Haus nach Auskunft herumstehender Nachbarn gehörte, sich rechtzeitig und weit genug in Sicherheit gebracht haben, konnte das ein Indiz sein. Allerdings eines, das die Mordkommission nicht betraf.

Das ursprünglich spitzgieblige Haus lag abseits der schmalen, von den Löschzügen und Begleitfahrzeugen hoffnungslos verstopften Straße an einem Hang. In einiger Entfernung verlief dort oben der Zaun aus gestanzten Metallgliedern, der die Grenze zur Ostzone markierte. Das hatte Galgenberg als Erstes herausgefunden. Das Grundstück rechts daneben war ebenso wie die gegenüberliegenden Flurstücke unbebaut. Wer zog schon in den letzten Zipfel von West-Berlin, wo Tag und Nacht die Vopos am Zaun entlangschlichen! Kein Wunder, dass niemand in dieser einsamen Gegend und in einer kühlen Maiennacht das Feuer rechtzeitig bemerkt hatte.

Obwohl die Brandstätte noch immer Hitze ausstrahlte, fröstelte Otto Kappe. Ihm war nach einem Schnaps zumute, und sei es nur, um gegen den Geruch und das Kratzen im Hals anzukämpfen. «Vielleicht lässt sich herausfinden, wohin die Besitzer des Hauses gefahren sind», äußerte er übellaunig und tat einen unvorsichtigen Schritt. Sofort spürte er Nässe unter der Fußsohle. Angewidert hob er das Bein. Die chicen Schuhe konnte er vergessen!

«Die olle Dame, die den Schuppen da links bewohnt, weiß von nischt was», erwiderte Galgenberg, der drei Meter von ihm entfernt unbekümmert im Brandschutt wühlte.

«Gar nichts?», fragte Kappe stirnrunzelnd. «Schuppen»war etwas unhöflich ausgedrückt, aber als besonderer Prachtbau fiel das Nachbarhaus mit dem blätternden Putz wahrlich nicht auf.

«Ick glaube, sie ist stocktaub. Und mit ihren Augen scheint et auch nicht weit her zu sein.»

Es war immer dasselbe mit potentiellen Zeugen: Entweder gab es ein Dutzend, die sich beim Denunzieren der Nachbarschaft gegenseitig übertrafen und dabei sämtlich lebhaft widersprachen, oder keiner hatte etwas gesehen oder gehört.

Der Mann von der Feuerwehr, der das Kommando führte, kam hinter den Resten des Autostandplatzes hervor. «Mit großer Wahrscheinlichkeit ist das Feuer im Heizungskeller ausgebrochen!», rief er herüber.

«Das ist naheliegend», knurrte Kappe und tappte los, vergebens bemüht, dem Wasser und dem schlimmsten Dreck auszuweichen.

Der sogenannte Keller verdankte seine Bezeichnung der Hanglage. Zur Vorderfront hin erstreckte sich auf gleichem Niveau das einstige Parterre des Hauses mit einer vorgebauten Veranda, von der nur verkohlte Reste zeugten. In der Mauer zwischen beiden Gebäudeteilen hing eine stählerne Tür mit zwei Schließhebeln schief in ihrem Rahmen. Eine Luftschutztür, wie sie Kappe noch hinreichend bekannt war. Welche Gewalt mochte das schwere Ding samt Stahlrahmen aus dem Mauerwerk gerissen haben?

«Es hat offensichtlich eine Explosion stattgefunden», erläuterte der Mann von der Feuerwehr. Kappe hatte weder dessen Namen noch seinen Dienstrang verstanden. Unter dem Helm lief dem Mann der Schweiß in breiten Bahnen über die geschwärzten Gesichtszüge. «Der Öltank ist in die Luft geflogen. Deshalb diese verheerenden Schäden.»

Dass man neuerdings mit Öl heizte, wusste Kappe. Sehr verbreitet war das noch nicht. So eine Anlage kostete ein Heidengeld.

Ein eigenes Haus war überhaupt ein teurer Spaß. Vor dem Krieg hatten Gertrud und er sich gelegentlich dem Traum vom Häuschen im Grünen hingegeben. Jetzt war kaum daran zu denken. Zumindest nicht, solange der Junge noch zur Schule ging und anschließend wahrscheinlich studierte.

Kappe merkte, dass er nicht so recht bei der Sache war. Dabei verriet ihm seine Nase immer noch, dass man ihn vermutlich nicht umsonst herbeordert hatte. Auch der junge Galgenberg rümpfte seinen nicht zu übersehenden Gesichtserker und zog witternd die Luft ein. Es stank gottserbärmlich. Da brauchte man nicht mal zu schnüffeln wie ein Jagdhund.

«Vielleicht haben die Leute einen Hund gehabt», sagte Galgenberg wie auf Bestellung.

«Im Heizungskeller?», zweifelte Kappe.

Im Licht des Handscheinwerfers tappten sie dem Feuerwehrhäuptling hinterher durch die verrußte Öffnung, die einmal vom Garten aus in den Keller geführt hatte. Die blechbeschlagene Bohlentür lag ein paar Meter entfernt im Gesträuch.

Die stickige Hitze nahm Kappe den Atem. Er hielt sich ein Taschentuch vor Nase und Mund, aber das half wenig.

Der Lichtkegel glitt über die rußgeschwärzten Wände und traf auf Rohre und zerrissenes Metall. «Hier stand der Öltank», erläuterte der Feuerwehrmann. Er wies auf einen noch halbwegs erkennbaren Block. «Das ist die Brennkammer. Mir ist schleierhaft, wie so eine Anlage in Brand geraten kann.»

«Vielleicht ist dem Heizer schlecht geworden», schlug Galgenberg hustend vor. «Und das Öl ist ausgelaufen.»

Das Gefühl hatte Otto Kappe ebenfalls. Den Boden bedeckte eine schmierige und zähe Masse aus Ruß, Wasser und Ölresten, die an den Schuhsohlen kleben blieb. Taubengraue Slipper!, dachte er im Stillen, doch als der Lichtschein auf einen dunklen Haufen vor der Brennkammer fiel, verging der Gedanke. Kappe, in mehr als zwanzig Jahren Polizeidienst und den Berliner Bombennächtenabgehärtet, erschauerte unwillkürlich. Der erste Anblick verriet kaum, ob es sich bei dem Verbrennungsrückstand um die Überbleibsel eines Menschen oder eines größeren Tieres handelte. Dann sah Kappe den Schuh. Vielmehr das, was davon übrig geblieben war. «Nichts berühren!», sagte er und hob warnend die Hände. «Erst mal müssen Photos von allen Seiten gemacht werden, außerdem brauchen wir korrekte Maßangaben zur Auffindungssituation und alles Übrige, was dazu gehört. Wir müssen auf die Kriminaltechnik warten.»

Der Feuerwehroberste beruhigte ihn. «Eine entsprechende Ausrüstung haben wir selbst dabei», sagte er. «Wir sind nicht von gestern!»

Draußen schrie eine Stimme: «Großfeuer auf der Pfaueninsel!»

«Auch das noch!», klagte der Feuerwehrmann. «Da kommen wir doch höchstens mit dem Löschboot ran!»

Es war nicht die letzte Hiobsbotschaft in dieser Nacht. Geblendet von dem Scheinwerfer der Feuerwehr, übersah Galgenberg eine Vertiefung im Boden und fiel seiner ganzen Länge nach hin. Als Kappe sich nach ihm umwandte, hockte er stöhnend im nassen Gras. «Scheiße, ick hab mir den Knöchel verrenkt», ächzte er.

ZWEI

CHARLOTTE WEIDNER wurde das ungute Gefühl in der Magengegend nicht los. Seit Tagen, ja eigentlich seit drei Wochen hoffte sie vergebens auf eine Nachricht von ihrer Tochter. Schließlich hatte sogar Max ihre Unruhe bemerkt, und das wollte etwas heißen. Dem gingen im Augenblick ganz andere Dinge im Kopf herum. Aber darüber sprach er nicht. Um sie zu schonen, wie sie wusste. Die Zeiten waren ernst. Wie immer. Hatten sie jemals fröhliche Zeiten erlebt? «Der Klassenfeind gibt niemals Ruhe, auch nicht in der Kultur», war alles, was Max äußerte. Kein Wort davon, dass im Politbüro eine parteifeindliche Fraktion entlarvt und liquidiert worden war. Wie es das Unglück wollte, gehörte der am heftigsten Angegriffene zu Max’ engsten Kampfgenossen aus alten Zeiten. Insgeheim und nicht ohne Hoffnung war sein Name als der eines längst notwendigen Nachfolgers für das höchste Amt genannt worden. Etwa auch durch Max?

Charlotte wusste, was das bedeutete. Ein schrecklicher Gedanke, der sich nicht verdrängen ließ, obwohl sie sich damit zu beruhigen versuchte, dass sich die Dinge seit dem letzten Parteitag in Moskau verändert hatten. Ein wenig jedenfalls. Der Alpdruck, der alle ihre Erinnerungen überschattete, war geblieben. Gerade jetzt, wo sie etwas Verbotenes zu unternehmen gedachte, spürte sie ihn deutlich.

Dabei hörte sich ganz harmlos an, was sie vorhatte: Sie wollte ihre Tochter besuchen. Elke wohnte wie sie in Berlin, kaum eine Stunde entfernt, mit öffentlichen Verkehrsmitteln bequem zu erreichen. Nur verlangte diese Fahrt eine Entscheidung von Charlotte, die gerade in der gegenwärtigen Situation existenzielle Auswirkungen für Max und sie haben konnte. Elke wohnte in West-Berlin. Für sie selbst, die treue Genossin und brave Ehefrau eines höheren Staatsfunktionärs, war es selbstverständlich, die Berliner Westsektoren nicht ohne besondere Genehmigung zu betreten. Genossen ihres Standes durften nicht einmal zu Agitationseinsätzen in die feindliche Frontstadt.

Dabei hatten Max, Elke und sie bis zum Jahre 1952 zusammen in Charlottenburg gewohnt. Als sie Anfang 1946 aus Moskau in Berlin eintrafen und Max sofort eine wichtige Funktion im Rundfunk übernahm, schien es angebracht, sie in der Nähe des Funkhauses an der Masurenallee unterzubringen. Aber dann wurde Max aus heiterem Himmel in eine unglückliche politische Affäre verwickelt, gemaßregelt und in die Provinz versetzt, wo er sich als Chef eines Museums wiederfand. Bis sich der zu jener Zeit noch führende Genosse im Politbüro, dessen Namen zu nennen man seit zwei Monaten besser vermied, auf ihn besann. Er holte Max zurück nach Berlin, wo ihn im Kulturministerium eine verantwortungsvolle Aufgabe erwartete.

Seitdem wohnten sie in Niederschönhausen. Im Städtchen, wie das abgeschlossene Viertel am Pankower Schlosspark allgemein genannt wurde. Im Schloss hatte der greise Staatspräsident seinen Amtssitz, und in den Villen ringsum wohnten er und die Repräsentanten von Partei und Regierung. Das erleichterte es den Verantwortlichen, für deren Sicherheit zu sorgen. Im Westen galt Pankow deswegen als Synonym für das «Zonenregime», eine Formulierung, die Max maßlos aufregte, während Charlotte eher das Wort «Repräsentanten»missfiel.

Sie vermied es sich umzublicken, als sie die stille Straße mit den gepflegten Gärten und Häusern entlangschritt. Seltsam, sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wer früher hier gelebt hatte. Sicherlich alte Nazis. Die sowjetischen Freunde hatten gewiss die Richtigen enteignet.

Auf der Ossietzkystraße hatte sie ständig den Eindruck, jeder Passant mustere sie besonders aufmerksam und sogar der Posten am Zugang zum Städtchen schaue ihr aufmerksam hinterher. Ärgerlich verzog sie das Gesicht. Sie war schließlich kein heuriger Hase. Als junge Frau hatte sie lange genug im illegalen Apparat der Partei gearbeitet und seither nicht verlernt, wie man einen Verfolger erkannte und sich ihm entzog. Vor der Buchhandlung blieb sie stehen und tat so, als betrachte sie die Auslage. Im Spiegelbild fiel ihr nichts Verdächtiges auf. Weshalb auch? Niemand konnte ahnen, was sie vorhatte.

Sie überquerte die Straße und den alten Dorfanger mit der Kirche und wandte sich nach rechts, als wollte sie in Richtung Rathaus gehen. Der Straßenbahn, die gerade in die Haltestelle einfuhr, schenkte sie scheinbar keine Aufmerksamkeit. Erst als alle Wartenden eingestiegen waren und die Schaffnerin im Anhänger abklingelte, lief sie hastig auf die anfahrende Bahn zu und kletterte auf die Plattform.

«Hätten Se sich och früher überlejen könn’, junge Frau!», murrte die mollige Schaffnerin.

Charlotte lächelte gewinnend. «’tschuldigung. Ich war ganz in Gedanken.»

Dabei war sie hellwach. Sie bezahlte die zwei Groschen und blieb an der hinteren Scheibe stehen. Aufmerksam beobachtete sie die Fahrzeuge neben der Bahn, bevor sie sich umwandte und unauffällig die Insassen im Innern des Wagens in Augenschein nahm. Jetzt, um die Mittagszeit, waren es nur wenige, und sie entdeckte kein bekanntes Gesicht darunter. Die meisten stiegen am S-Bahnhof Pankow aus. Unschlüssig, ob sie mit Straßen- und U-Bahn ins Stadtinnere fahren sollte oder besser die S-Bahn nahm, folgte sie in einem plötzlichen Entschluss dem letzten Aussteigenden.

Ganz entgegen ihrer üblichen Vorsicht besaß sie nicht einmal einen genauen Plan für ihr Vorhaben. Nur nicht lange zögern!, dachte sie, doch ihre Hand zitterte, als sie am Schalter mit leiser Stimme eine Rückfahrkarte verlangte. Niemand stand hinter ihr, und dem alten Mann hinter der Glasscheibe schienen die Fahrgäste höchst gleichgültig. Er fragte nicht nach der Preisstufe, schob ihr das gelbe Pappkärtchen und sechzig Pfennig Wechselgeld hin, ohne den Blick zu heben.

Der Mann in der Abfertigungswanne knipste die Fahrkarte mit gleicher Unaufmerksamkeit. Selbst zwei auf dem Bahnsteig patrouillierende Bahnpolizisten interessierten sich nicht für sie, zumal sie sich vorsichtshalber nach links wandte, zum Gleis nach Bernau. Als der Zug in der Gegenrichtung einfuhr, überquerte sie den Bahnsteig und stieg erst beim Kommando «Türen schließen!» ein. Wie albern sie sich plötzlich vorkam! Sie, eine geborene Berlinerin, war seit Jahren nicht mehr mit der S-Bahn gefahren. Im Grunde war sie überhaupt nicht mehr mit den alltäglichen Gegebenheiten der geteilten Stadt vertraut.

Wollte sie mal ins Zentrum, nahm Max sie morgens mit oder schickte ihr im Verlauf des Vormittags den Dienstwagen. Ihr war das unangenehm, doch Max bestand darauf. Dass sie gelegentlich alleine mit der Straßenbahn bis zur Schönhauser Allee und von dort sogar mit der U-Bahn zum HO-Kaufhaus am Alex fuhr, verschwieg sie ihm ebenso wie die regelmäßigen Verabredungen mit Elke. Kehrte Max spätabends und oft genug erst nachts nach Hause zurück, fragte er sowieso nicht danach, was sie den ganzen Tag getrieben hatte. Nur ihrem Wunsch, sich wieder eine Arbeit zu suchen, widersprach er heftig. «Sei zufrieden, dass du deine Ruhe hast!», lautete sein Kommentar. Erwähnte er in den seltenen gemeinsamen Stunden etwas von den täglichen Widrigkeiten, vom Misstrauen, den Intrigen und Verdächtigungen, welche die Arbeit in den oberen Etagen so schwer erträglich machten, musste sie ihm recht geben. Das war wirklich nichts mehr für sie und ihre angegriffene Gesundheit.

Der Zug hielt. Eine gurgelnde Lautsprecherstimme verkündete unüberhörbar: «Letzter Bahnhof im demokratischen Sektor!» So direkt auf ihr Vergehen hingewiesen, durchfuhr Charlotte ein leichter Schock, der sich angesichts zweier graugekleideter Zöllner noch verstärkte, die suchend durch den Wagen schritten. Charlotte streifte nur ein gleichgültiger Blick. Den Mann am Fenster, der seinen Rucksack vergeblich hinter den Beinen versteckte, wurde zum Aussteigen aufgefordert. Murrend folgte er den Uniformierten.

Endlich fuhr die S-Bahn weiter. Charlotte warf einen Blick auf den Linienplan neben der Tür. Die nächste Station hieß Gesundbrunnen. Am nahen Wedding hatte sie sich einst gut ausgekannt. Mehr als fünfzehn Jahre lag das zurück. Und was für Jahre! Jetzt erinnerte der Name der Station sie nur an Frau Raabe, ihre Haushaltshilfe. Fehlte etwas in der Wirtschaft und war nicht einmal für die bevorzugten Bewohner des Städtchens aufzutreiben, riet die mit ihrer Berliner Kodderschnauze: «Vasuchn Set mal bei de HO Jesundbrunn’! Da jibt et allet.»

Charlotte erschrak. Weshalb war sie so kopflos und unüberlegt losgestürzt?

Der Zug, in dem sie sich befand, erreichte in fünf Minuten wieder den demokratischen Sektor. Am Bahnhof Friedrichstraße musste sie umsteigen, wo eine weitere Grenzpassage bevorstand. Hastig stand sie auf. Stieg sie hier am Gesundbrunnen in den Nordring um, konnte sie über Westkreuz nach Charlottenburg fahren. Das war etwas umständlicher, aber die Wahrscheinlichkeit, einem bekannten Genossen zu begegnen, war umso geringer. Es sei denn, sie traf die gute Frau Raabe auf dem Weg zu einem Einkauf. Die war zu Max’ Ärger nicht einmal Genossin und sprach ganz offen über ihre Westeinkäufe. Oft genug hatte sie Charlotte angeboten, ihr das eine oder andere mitzubringen, ein gutes Stück Seife oder Tosca, ein Parfum, für das sogar Max eine Schwäche hatte.

Charlotte passte scharf auf, entdeckte in dem Gewusel der Umsteigenden aber weder Frau Raabe noch sonst ein vertrautes Gesicht. Von der Raabe wusste sie, dass sich andere Ehefrauen aus dem Städtchen keineswegs so abstinent verhielten wie sie, wenn es um Besuche in West-Berlin ging. Vor allem unter den sogenannten Kulturschaffenden gab es genügend unsichere Kantonisten, von denen viele noch aus den Jahren ihres Westexils über Kontakte nach «drüben»verfügten und sich keineswegs schämten, die reichlich vorhandene Ostwährung zum Schwindelkurs einzutauschen. Sogar über den Kulturminister selbst wurde derlei und manches andere behauptet.

Charlotte fand einen Fensterplatz. Neugierig starrte sie nach draußen. Alles erschien ihr fremd, bis der Zug am Wedding hielt. Der Bahnhof hatte sich kaum verändert. Am liebsten wäre sie ausgestiegen und ein wenig in der vertrauten Gegend herumgeschlendert. Was hinderte sie eigentlich daran, es zu tun? Ein Verbot zu übertreten hatte sie in ihren jungen Jahren keine Sekunde Nachdenken gekostet.

Sie war in Friedrichsberg aufgewachsen, einer Vorstadt im Osten, die seit ihrem Geburtsjahr 1908 auf keinem Pharus-Plan mehr auftauchte und heute zu Friedrichshain gehörte. Zu dritt bewohnten sie in der Kreutzigerstraße Stube und Küche im Hinterhof. Das Gewehr, das der Vater in den heißen Januartagen 1919 mit nach Hause gebracht hatte, blieb so lange in ihrer Matratze versteckt, bis das Kinderbett, dem sie ohnehin um einige Zentimeter entwachsen war, eines Nachts unter ihr zusammenbrach und das Geheimnis preisgab. Das magische Wort Partei, das im Zusammenhang mit dieser Waffe fiel, gehörte zum vertrauten Wortschatz in der Familie. Von Beruf war ihr Vater Parteiarbeiter, wie er der Zwölfjährigen geduldig auseinandersetzte, wobei er sie eindringlich ermahnte, die Partei bei eventuellen Befragungen ungenannt zu lassen.

Als sie sechzehn wurde und die Inflation sich ebenso endgültig verflüchtigt hatte wie die Aussicht auf eine baldige revolutionäre Erhebung der Massen, gehörte sie selbst schon dazu, zum Apparat, in den sie wie selbstverständlich hineinwuchs. Als man den Vater fünf Jahre später zu den sogenannten Versöhnlern zählte und er nur nach harscher Selbstanklage mit einer gelinden Parteistrafe davonkam, verurteilte sie ihn scharf. Gewisser spezieller Aufgaben wegen hatte sie sich weitgehend von den Eltern abgenabelt. In Wahrheit stand sie gänzlich unter dem Einfluss des schwarzlockigen und absolut linientreuen jungen Genossen Jakob Menzel, dessen wahren Namen man ihr erst zehn Jahre später im Verlauf inquisitorischer Vernehmungen und in russischer Sprache vorhielt, so dass sie lange nicht begriff, von wem die Rede war. Ihre einzige Liebe, dieser furchtlose Kämpfer mit dem feurigen Blick aus den so verträumt schimmernden Augen, dem sie mehr vertraute als jedem anderen Genossen, hieß angeblich Isaak Mendel und war der Spionage für die verhassten Faschisten überführt. Diesem unbeirrbar geradlinigen Menschen, der sie nie belogen oder betrogen hatte, war sie blindlings nach Prag und schließlich – welch ein Glücksgefühl empfand sie! – direkt in die Hauptstadt der Welt gefolgt, wo inmitten all der Enge und täglichen Unruhe die gemeinsame Tochter das Licht der Welt erblickte. Mit welchem Stolz versuchte sie, die Urkunde in der noch fremden Schrift zu entziffern! Elka Jakubowna Menzel. Geburtsort: Moskau. Konnte es bessere Voraussetzungen für die Zukunft eines Kindes geben?

Elka, die eigentlich Elke heißen sollte, war vier, als man Jakob verhaftete und wenige Tage später auch Charlotte vorlud, sie bedrohte, beschimpfte, ihr ins Gesicht schlug und ankündigte, sie ins Lager und Elke in ein Heim zu stecken, würde sie nicht zugeben, von Jakobs verräterischem Treiben gewusst, ja ihn dabei unterstützt zu haben. Halb wahnsinnig vor Angst um die bei der Zimmernachbarin zurückgelassene Tochter, war sie beinahe bereit, alles zu unterschreiben, was man ihr vorlegte, als der hasserfüllte Eifer des Vernehmers unerwartet erlahmte. Drei weitere schreckliche Wochen vergingen, bis man sie plötzlich aus dem düsteren Kerker eher verjagte als entließ. Erst vor wenigen Wochen hatte sie einen möglichen Grund dafür erfahren. Das Schreiben über Jakobs Rehabilitation verzeichnete den Tag ihrer letzten Vernehmung als den seines Todes in der Lubjanka.

Unter all den fremden Frauen in der stinkenden, überfüllten Zelle hatte sie gelernt, mit der Verzweiflung umzugehen. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, als sie ihr blasses und verstörtes Kind wieder in die Arme schloss. Und ein wenig blieb ihr dieses Glück treu. Hielt jemand die Hand schützend über sie, damit sie nicht die Arbeit in der Fabrik und das dürftige Kämmerchen in der drangvollen Gemeinschaftswohnung verlor, in dem sie hausten? Frauen und Angehörige der Volksfeinde verschwanden spurlos in den Lagern, die Kinder in Heimen. Viele wurden nach Deutschland ausgeliefert, sie und Elke jedoch erst nach Kriegsausbruch in eine primitive Siedlung nahe Taschkent deportiert. Dort wären sie gewiss zugrunde gegangen, hätte es nicht den einflussreichen Genossen Max Weidner gegeben, der sich ihrer aus Berlin erinnerte. Ihm gelang es, sie als wichtige Mitarbeiterin nach Ufa mitzunehmen und später sogar zurück nach Moskau kommandieren zu lassen.

Sie wusste, was sie Max zu verdanken hatte, der ihr in unbeholfenen Worten seine Liebe gestand und schwor, ihr ein treusorgender Ehemann und Elke ein guter Vater zu sein. Ein Wort, das er hielt, solange Elke mitspielte. Sie war dreizehn, als sie mit ihrer Mutter und Max nach Berlin kam und die Mädchen in ihrer Klasse sie als Russki hänselten, weil sie besser Russisch als Deutsch sprach.

Diese Erinnerungen gingen Charlotte durch den Kopf, während sie aufmerksam ihre Umgebung beobachtete. In einem Anfall von Leichtsinn beschloss sie, erst in Witzleben auszusteigen, der Station nahe dem Funkhaus. Dort hatte sie in der Frauenredaktion gearbeitet und zusammen mit Max die Stellung verloren. Dass sie ihm an seine neue Wirkungsstätte folgte, wie er die Verbannung in Stralsund beschönigend nannte, schien ihr so selbstverständlich, dass Elkes Weigerung, mit ihnen in die Provinz zu ziehen, sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf. Elkes achtzehnter Geburtstag stand bevor, mit dem sie in der DDR ihre Volljährigkeit erreichen würde. Sie jedoch beharrte darauf, mindestens bis nach dem Abitur in der Charlottenburger Wohnung zu bleiben. Später begann sie zu Max’ und Charlottes Entsetzen an der vom Osten verachteten Spalteruniversität zu studieren.

Erst da hatte Charlotte begriffen, wie weit ihr die Tochter inzwischen entglitten war, deren heftige Vorwürfe sie fassungslos über sich ergehen ließ. «Du hast mir nie gesagt, wo mein Vater geblieben ist und weshalb du selbst im Gefängnis warst! Weißt du überhaupt, wie ich mich damals in der schrecklichen Wohnung in Moskau gefürchtet habe?»

Nein, darüber war selbstverständlich nie gesprochen worden. Allenfalls in Andeutungen, von denen Max und Charlotte geglaubt hatten, Elke überhöre sie. Im Übrigen nahm die Partei Elkes Entschluss erstaunlich gelassen zur Kenntnis. Das war für Max das Wichtigste. Ihm fiel es ohnehin schwer genug, sich an seinem neuen Arbeitsplatz Respekt zu verschaffen. Die Museumsleute waren ein reaktionäres Völkchen besonderer Art, die dem Genossen aus Berlin und seinen revolutionären Vorstellungen von der Kunst mit Argwohn, ja mit eindeutiger Ablehnung begegneten. Bei der Untersuchung eines Brandes im Museum stellte sich heraus, wie ungenügend Max über viele Vorgänge informiert war. Vermutlich war der Brand gelegt worden, um einen Einbruchdiebstahl in das nicht ausreichend gesicherte Depot zu verdecken. Max’ Rückberufung nach Berlin kam gerade zur rechten Zeit und ersparte ihm weiteren Ärger.

Als Charlotte aus dem Bahnhof trat, galt ihr Blick zuerst der vertrauten Silhouette des Funkturms. Sie war niemals dort oben gewesen, nicht einmal im Restaurant. Anfangs hatte sie es sich immer wieder vorgenommen, aber Max riet ab. Später verboten die politischen Umstände solche Absichten. Nur von der anderen Straßenseite aus sah sie die Menschenmassen, darunter viel zu viele aus dem Osten, zur alljährlichen Industrieausstellung in die Messehallen strömen.

€5,49
Altersbeschränkung:
0+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
23 Dezember 2023
Umfang:
231 S. 2 Illustrationen
ISBN:
9783955520243
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