Wahlanalyse 2017

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57% – Wie Deutschland nach rechts rückte, seine Bürger aber nicht. Ein kritischer Rückblick. Und fantastischer Ausblick.

Jana Faus / Rainer Faus

57% der Deutschen sehen sich laut der Bertelsmann-Studie ‚A Source of Stability‘ vom Juli 2017 politisch als Teil des Mitte-links Spektrums, lediglich 43% als Teil des Mitte-rechts Spektrums. Vor die Wahl gestellt, stimmen ebenfalls 57% nach einer unveröffentlichten pollytix-Studie vom September 2017 zu: „Deutschland sollte ein tolerantes und weltoffenes Land sein, in dem sich jeder frei entfalten kann, egal wo er herkommt, an was er glaubt oder wie er lebt.“ Nur 39% stimmen eher zu: „Deutschland sollte sich wieder auf seine traditionellen Werte zurückbesinnen und aufpassen, dass unsere christlich-abendländische Kultur nicht verloren geht.“ 1

Gibt es etwa in der Bevölkerung gar keinen Rechtsruck?

Letztere Werte sind im Übrigen erstaunlich stabil: Schon im Oktober 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, stimmten 56% für Weltoffenheit, 37% für Tradition. Auf dieser Dimension hat sich also nichts bewegt. Und diese Dimension ist für die Wähler eine ganz entscheidende Dimension. Sie bestimmt, in welchem Land wir leben wollen. Sie wirft die große Frage, wie wir unsere Gesellschaft in Zukunft wünschen. Aber dazu später mehr.

Interessant ist dabei aber vor allem, dass sich Wähler der SPD, Linken (je 73%) und Grünen (90%) mit deutlicher Mehrheit zu Weltoffenheit und Toleranz bekennen und Wähler der AfD als Gegenpol fast uniform zu Tradition und abendländischer Kultur (88%). Spannend sind die Wähler der CDU/CSU sowie der FDP: Wähler dieser Parteien sind ungefähr mittig zwischen Weltoffenheit und Tradition gespalten. Es sind also nicht nur die politischen Lager gespalten, sondern die Spaltung geht mitten durch die bürgerlichen Parteien.

Wir haben in Deutschland also eine Bevölkerung, die sich mehrheitlich als mitte-links oder links davon bezeichnet und die mehrheitlich für Toleranz und Weltoffenheit plädiert. Gleichzeitig haben wir ein Wahlergebnis, bei dem gut 56% auf mitte-rechts oder rechts entfallen (so man dazu CDU/CSU, FDP und AfD zählt, was wir für den Zweck dieser Übung einfach mal tun) und nur knapp 39% auf mitte-links oder links (so man dazu SPD, Grüne und Linke zählt, was wir für den Zweck dieser Übung wiederum einfach mal tun).

Außerdem müssen wir beobachten, dass sich der politische Diskurs nach rechts verschiebt und Dinge sagbar werden, die vor einiger Zeit noch undenkbar waren. Wie passt das zusammen?

Die Kanzlerin hat sich für einen Mitte-Kurs entschieden, der ihr bald den Job kosten wird.

Die Strategie der Kanzlerin ist seit langem klar: Gestützt vom CDU-Strategen und ZDF-Demoskopen Matthias Jung fährt Angela Merkel einen dezidierten Mitte-Kurs und befriedet dabei Themen, die potentiell ‚heiß‘ werden könnten. Solche Themen könnten der Kanzlerin gefährlich werden und das weiß sie. Seit Beginn ihrer Amtszeit ist sie gut damit gefahren, den politischen Diskurs, den offenen Streit zu unterbinden und Deutschland in einen politischen Dämmerschlaf zu legen. Das ist sie, die oft zitierte asymmetrische Demobilisierung. Asymmetrisch demobilisiert werden durch diese Strategie vor allem Wähler der SPD, da der Partei Mobilisierungsthemen fehlen.

Manches SPD-Herzensthema wird in der öffentlichen Wahrnehmung gar als Erfolg der Kanzlerin zugeschrieben. Selbst der Mindestlohn wird von bestimmten Wählersegmenten fälschlicherweise der Kanzlerin zugeschrieben. Damit, aber auch dank ihrer wahrgenommenen starken Haltung in der Flüchtlingspolitik, genießt die Kanzlerin hohes Ansehen bis weit ins linke Spektrum rein und bindet hier Wähler, die zwar Merkel gut finden, unter ‚normalen‘ Umständen aber nicht unbedingt CDU wählen würden. Eine Wählerin sagte uns im Tiefeninterview: „Ich mache beinahe unter körperlichen Schmerzen mein Kreuz bei der CDU. Dabei wähle ich eigentlich nur Frau Merkel.“

So wie diese Wählerin innerlich gespalten ist, ist es auch die CDU. Nur wird diese interne Spaltung oftmals übersehen. Einerseits weil sie von der noch viel größeren Differenz mit der bayrischen Schwester CSU überschattet ist, andererseits, weil Merkel eben auch diese interne Spaltung geschickt wegschweigt. Und die CDU professionell genug ist, interne Differenzen in Wahlkampfzeiten nicht öffentlich auszutragen.

Aber ab und an wird er aber eben doch sichtbar, dieser tiefe Riss, der sowohl durch die Partei als auch ihre Wählerschaft geht: Grundsätzlich ist die CDU natürlich – entgegen ihrer momentanen Selbstdarstellung – keine moderne Partei der Mitte, sondern eine konservative Partei: Eine Partei der Beibehaltung des Status Quo und der konservativen Werte. Und die braucht es in einem Land, in dem sich 43% dem mitte-rechts-Spektrum zuordnen. Merkel hat mit ihrem Mittekurs den konservativen Teil der Partei aber schon lange nicht mehr hinter sich. Dies zeigte sich z.B. beim Beschluss des Parteitags im Dezember 2016, den Kompromiss mit der SPD zur doppelten Staatsbürgerschaft aufzukündigen. Einen Tag nach Merkels Wiederwahl zur Parteivorsitzenden war das eine schallende Ohrfeige für die Kanzlerin.

Die konservative Wertehaltung der CDU lässt sich besonders schön bei gesellschaftspolitischen Themen besichtigen, zuletzt bei der von der CDU/CSU mit deutlicher Mehrheit abgelehnten Ehe für alle. Hier ist die Bevölkerung aber deutlich progressiver als die CDU: In der Bevölkerung traf die Ehe für alle auf breite Zustimmung, je nach Umfrage wird sie von zwei Drittel bis drei Viertel der Deutschen befürwortet.

Diese Widersprüche der CDU für Wähler salient zu machen ist dem mitte-links-Lager nicht geglückt. Und die eher kanzlerinnenverliebten Medien haben dabei auch nicht unbedingt geholfen.

Für den Wahlsieg war man in der CDU (und zum Teil auch in der CSU) bereit, Merkels Mittekurs zu unterstützen. Die massiven Verluste der CDU/CSU und das starke Abschneiden der AfD sorgen aber nach der Wahl erwartungsgemäß für Unmut und laute Forderungen, die „rechte Flanke“ zu schließen. Anders als manchmal behauptet, speist sich die AfD eben nicht hauptsächlich aus apolitischen abgehängten Protestwählern (die es fraglos auch gibt), sondern aus wirtschaftlich eher abgesicherten Konservativen, die ihre politische Heimat in der CDU verloren haben. Diese ist ihnen schlicht zu mittig geworden. Das ahnen Merkels konservative Kontrahenten in der Partei, zahlreiche Studien sowie anekdotisches Wissen von CDU-Haustürwahlkämpfern bestätigen den Eindruck.

Heißt im Klartext, was vorher schon abzusehen war: Die CDU wird sich von Merkels Mittekurs verabschieden und sich deutlich nach rechts bewegen müssen. Die CSU ohnehin. Wie lange Merkel sich hier an der Spitze halten kann, hängt hauptsächlich davon ab, wie schnell sich der wiedererstarkte konservative Flügel in der Partei organisieren kann. Für die oben zitierte mitte-links Merkel-Wählerin ist das insofern frustrierend, weil ihr jetzt dämmern wird, dass sie ihr Kreuz nicht für die Kanzlerin, sondern für den Konservativismus, für die ‚alte‘ CDU gesetzt hat.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass die eigentlich sehr smarte Mitte-Strategie der Kanzlerin drei Wahlsiege (2009-2017) beschert hat, sie Merkel dieses Mal aber wohl zum Verhängnis werden wird.

Genug der CDU-Strategie-Kritik, denn man darf auf keinen Fall vergessen: Alle Parteien haben sich von der AfD treiben lassen, und zwar ohne Not.

Paradoxerweise sogar weniger die CDU/CSU, als die Parteien, die z.T. nur wenig an die AfD zu verlieren haben. Kommen wir noch einmal auf die obigen Zahlen zu Weltoffenheit und Toleranz vs. Tradition und abendländische Kultur zurück. Wenn wir der Annahme folgen, dass diese Richtungsfrage für viele Wähler sehr wichtig ist, dann ist es offensichtlich, dass für Mitte-Links-Parteien bei der AfD wenig bis nichts zu holen ist. Und mindestens ebenso wichtig: An die sie auch nicht viel zu verlieren haben.

Die Parteien hatten allerdings allesamt keine Antworten auf die Frage, wie wir als Gesellschaft in Zukunft zusammenleben wollen. Noch viel schlimmer, sie haben diese Frage nicht mal im Ansatz diskutiert. Stattdessen haben sie den scheinbar einfacheren, mutloseren Weg gewählt und haben sich, in bester Manier, niemanden verprellen zu wollen, angefangen rechts anzubiedern. Ohne Not.

Werfen wir einen Blick auf die erste Jahreshälfte: Als der Fokus ab Ende Januar nicht mehr auf der AfD, sondern auf den Volksparteien lag, wurde der AfD ihr Sauerstoff ‚Aufmerksamkeit‘ entzogen. Anfang Juli war die AfD im Schnitt der Umfragen zwischenzeitlich hinter den Grünen auf Rang sechs, mit gerade mal 7,6%, ein Verlust von 6%-Punkten seit Jahresbeginn und mit Tendenz nach unten. Bei der 5%-Punkte-Aufholjagd auf 12,6% am Wahltag haben der AfD andere geholfen: Parteien und Medien, die die Themen Flüchtlinge und Sicherheit übermäßig auf die Agenda gedrückt haben. Parteien, die unablässig vor der AfD-Wahl warnen, ohne zu erklären, warum sie selbst gewählt werden wollen. Medien, die über jedes Skandälchen berichtet haben, statt es zu ignorieren.

Dazu muss man wissen: Die überwältigende Mehrheit der Deutschen fühlt sich sicher. Kaum jemand hat selbst schlechte Erfahrungen mit Flüchtlingen gemacht. Beides gilt insbesondere für Wähler aus dem Mitte-Links-Spektrum.

Statt Sicherheitsdebatten wünscht sich der Mitte-Links-Wähler Debatten über die Zukunft des Landes: Wie geht es weiter mit Deutschland? Wie gestalten wir Deutschland gerecht? Was sind Chancen der Digitalisierung, die genutzt werden müssen? Wie sorgen wir dafür, dass Europa nicht auseinanderfällt und Krisen an den Grenzen Europas gelöst werden. Wie werden wir dem demografischen Wandel begegnen? Wie wollen wir Deutschland als Einwanderungsland ausgestalten? Es sind die Facetten der oben gestellten Frage: Wie wollen wir in Zukunft leben?

 

Statt diese Vision aufzuzeigen, oder zumindest die Frage zu diskutieren, vergeudeten Parteien aus dem Mitte-Links-Spektrum Aufmerksamkeit, indem sie sie der AfD schenken. Sahra Wagenknecht gab ein Doppelinterview mit Frauke Petry und normalisiert damit die AfD. Damit steht sie nicht allein da: Dieter Janecek von den Grünen hat gar für ein TV-Format einen Tag lang Wahlkampf für die AfD gemacht und festgestellt, dass die Grünen und die AfD politisch nicht einer Meinung seien, ihm aber „der Meinungsstreit in der Demokratie wichtig“ sei. Teile der Grünen werden nicht müde, mehr Abschiebungen zu fordern und verwischen damit die Grenzen zur CSU. Und die SPD warnt so heftig vor der AfD, dass sie vergisst aufzuzeigen, was sie selbst mit dem Land vorhat und warum man sie eigentlich wählen sollte (was immerhin besser ist, als die Kanzlerin abwechselnd von rechts und von links anzugreifen, wie das 2016 noch passiert ist).

Damit erreicht man die oben beschriebenen 57% nicht und lässt auch sie politisch heimatlos zurück. Die Mitte-Links-Parteien haben ihre eigene Anhängerschaft demobilisiert. Das erklärt in Teilen auch das vor der Wahl omnipräsente „Ich war noch nie so unsicher, was ich wählen soll.“ Und auch die (zwar gestiegene), aber doch niedriger als erwartete Wahlbeteiligung. Und einigen der 57% dürfte es am 24.9.2017 ebenso ergangen sein wie der oben zitierten Wählerin. Sie haben ihr Kreuz nicht aus politischer Überzeugung gemacht, sondern unter physischen Schmerzen.

Der fantastische Ausblick

Tja, der fällt leider aus, war eher als Teaser gedacht. Was bleibt ist die Hoffnung, dass aus Fehlern gelernt wird. Parteien sollten versuchen erkennbar zu bleiben, basierend auf dem Wertegerüst, das sie ausmacht. CDU und CSU sind konservative Parteien. Und konservative Parteien werden gebraucht.

Es braucht aber eben auch progressive, moderne Parteien, die, bei allen Problemen, die auf uns zukommen werden, Lust auf Zukunft machen, offen diskutieren, wie wir in Zukunft zusammenleben wollen und mit Mut und Zuversicht, eine Vision von Deutschland zeichnen.

Parteien, die dem Wähler unterschiedliche Ideen anbieten, wie Zukunft gestaltet werden kann. Die uns leidenschaftlich von ihren Ideen überzeugen wollen. Parteien, die Haltung zeigen und Mut beweisen, auch wenn sie damit die eine oder andere Wählerstimme verlieren. Und die nicht uniform nach rechts rücken, nur weil dort gerade am lautesten gebrüllt wird.

Wenn Parteien weiterhin versuchen, es allen recht zu machen, verlieren alle. Und noch viel schlimmer: Es verliert die Demokratie. Denn das ist es doch, was unsere Demokratie ausmacht: Der lustvolle politische Diskurs, das Ringen um die besten Ideen und die leidenschaftliche Überzeugungsarbeit von Politikern mit Ideen für die Zukunft unseres Landes.

1 Fehlende Werte: Weiß nicht.

Nach 27 Jahren deutscher Einheit: vereint und doch gespalten

Prof. Dr. Eckhard Jesse

Bei den Bundestagswahlen sorgte die Alternative für Deutschland (AfD) für einen Paukenschlag, zumal mit ihren fulminanten Ergebnissen im Osten (vgl. Tabelle). Die beiden Volksparteien wurden geradezu „abgestraft“. Dadurch ist die Regierungsbildung erschwert, ein schwarz-gelbes Bündnis unmöglich. Eine „Jamaika“-Koalition stieße in den neuen Bundesländern nicht auf sonderliche Zustimmung.

Tabelle: Wahlverhalten im Wahlgebiet Ost (mit Berlin-Ost) und im Wahlgebiet West (mit Berlin-West) bei der Bundestagswahl 2017 (in Klammern Unterschiede nach Prozentpunkten im Vergleich zu 2013)


Bundestagswahlen 2017 Gesamt Ost West
CDU/CSU 33,0 (-8,5) 27,6 (-10,9) 34,1 (-8,1)
SPD 20,5 (-5,2) 13,9 (-4,0) 21,9 (-5,5)
Alternative für Deutschland 12,6(+7.9) 21,9 (+16,0) 10,7 (+6,2)
FDP 10,7(+5,9) 7,5 (+4,8) 11,4 (+6,2)
Die Linke 9,2 (+0,6) 17,8 (-4,9) 7,4 (+1,8)
Bündnis 90/Die Grünen 8,9 (+0,5) 5,0 (-0,1) 9,8 (+0,6)
Sonstige 5,0 (-1,3) 6,4 (-0,9) 4,7 (-1,3)

Quelle: Der Bundeswahlleiter (Hrsg.), Wahl zum 19. Deutschen Bundestag am 24. September 2017, Heft 2: Vorläufige Ergebnisse nach Wahlkreisen, Wiesbaden 2017, S. 326.

Das vereinigte Deutschland ist zusammengewachsen – und doch gespalten. Zusammengewachsen insofern, als sezessionistische Aktivitäten wie in einigen anderen Staaten Europas gänzlich fehlen. Nicht einmal der schärfste Kritiker des Einigungsprozesses sehnt sich nach dem geteilten Land zurück. Gespalten insofern, als Unterschiede 27 Jahre nach der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 trotz hoher Mobilität (deutlich mehr Ostdeutsche sind in den Westen gegangen als umgekehrt, nicht zuletzt junge Frauen) weiterhin ins Auge springen, in ökonomischer, politischer und kultureller Hinsicht.

Dieser Befund gilt ebenso für das Wahlverhalten. Der Ausgang der Bundestagswahl 2017 stellt eine Zäsur dar: zum einen wegen des Niedergangs der Volksparteien (beide verloren über 20 Prozent), zum anderen wegen des Aufstiegs der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (12,6 Prozent), deren Stimmenanteil im Osten mehr als doppelt so hoch ausfiel wie im Westen. Fast jeder Vierte hat dort die AfD gewählt, im Westen mehr als jeder Zehnte. In gewisser Weise ist Deutschland dadurch „europäischer“ geworden. Wer Verschiedenheiten benennt, will keineswegs Ressentiments schüren. Italiener würden das hiesige Ausmaß der als milde erachteten Divergenzen gerne akzeptieren.

Wichtige Rolle des Ostens für die Regierungsbildung

Obwohl lediglich etwa jeder sechste Wähler aus den neuen Bundesländern stammt, hat der östliche Landesteil bisher dreimal die Bundestagswahl entschieden. 2002, 2005 und 2013 verhinderte er eine schwarz-gelbe Koalition. Bei einem Votum nur in den alten Bundesländern wäre eine solche Variante das Resultat gewesen. 1990 wählten die Bürger im Osten und Westen jeweils mehrheitlich für Schwarz-Grün. 1994, 1998 und 2009 dominierte der Westen den Osten, es folgte ein schwarz-gelbes Bündnis. Diesmal setzte sich der Westen wieder durch, auch wenn für die Union und die FDP wegen des guten Abschneidens der AfD eine Mehrheit ausblieb. Im Westen erreichte die AfD 10,7 Prozent, die Partei Die Linke 7,4 Prozent. Hingegen kam die AfD im östlichen Landesteil auf sage und schreibe 21,9 Prozent, Die Linke in ihrem „Stammland“ nur auf 17,8 Prozent. Die beiden Volksparteien erzielten im Osten zusammen bloß 41,5 Prozent, im Westen dagegen 56,0 Prozent. Eine ähnliche Bilanz gilt für die beiden „Wohlstandsparteien“: die Liberalen (Ost: 7,5; West: 11,4) und die Grünen (Ost: 5,0; West: 9,8). Der Mittelstand ist in den neuen Bundesländern mithin ebenso unterrepräsentiert wie der Postmaterialismus.

Bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt vom März 2016 ließ sich eine Regierung der beiden großen Konsensparteien nur mit Hilfe der Grünen bilden. Selbst eine solche Konstellation hätte im Ostteil diesmal nicht zu einer regierungsfähigen Mehrheit gereicht. Die Volksparteien sind im Osten nicht gut gelitten, wie nun wieder erkennbar, diesmal dramatisch. In keinem ostdeutschen Bundesland erzielten Union und SPD eine absolute Stimmenmehrheit, hingegen in jedem westdeutschen. Bereits im Wahlkampf waren vor allem in den neuen Bundesländern schrille Töne sogar gegen die aus dem Osten stammende (alte und wohl neue) Bundeskanzlerin Angela Merkel zu erleben. Der Hauptvorwurf lautete, sie habe mit ihrer Politik der Willkommenskultur Fremden Tür und Tor geöffnet. Wutbürger sehen sich als Mutbürger. Der Erfolg der AfD zeichnete sich zwar ab, aber nicht in dieser drastischen Form. Manch einer bekundete sein Votum zu dieser in der Öffentlichkeit wenig angesehenen Partei nicht, mehr im Westen als im Osten beobachtbar. Ist ein solches Meinungsklima für eine offene Gesellschaft zuträglich und ein Zeichen der Liberalität? Bürger in den neuen Bundesländern legen, u. a. dank der von ihnen errungenen friedlichen Revolution, größere Unbefangenheit an den Tag. Paradox genug: Obwohl die AfD im Osten prinzipiell radikaler auftritt, ist ihr „Schmuddelimage“ hier nicht so ausgeprägt wie im Westen.

Ursachen für das unterschiedliche Wahlverhalten

Die Gründe für das überraschende Wahlverhalten sind teils struktureller, teils situativer Natur. Im ersten Fall gehen sie auf die Zeit vor der Vereinigung zurück, im zweiten auf die Zeit danach. Ostdeutsche sind aufgrund geringerer Kontakte mit Fremden in der Vergangenheit tendenziell weniger weltoffen. Sie fühlen sich zuweilen als Bürger zweiter Klasse, und das nicht nur aufgrund anhaltender ökonomischer Nachteile. Ihre Lebensleistung des letzten Vierteljahrhunderts (Wechsel des Berufs, Integration in ein gänzlich neues System) erfahre unzureichende Würdigung, so das verbreitete Credo. Dass viele Westdeutsche im Osten Leitungspositionen bekleiden, provoziert mitunter Groll, sogar Bitternis.

Die sozioökonomische und die soziokulturelle Konfliktlinie prägen gleichermaßen das Wahlverhalten. Dabei machen Die Linke wie die AfD als Vertreter des linken und rechten Populismus in Deutschland erstaunlicherweise nicht die Extrempunkte aus: Bei der sozioökonomischen Konfliktlinie besetzt Die Linke zwar den einen Pol (mehr Staat), die AfD aber nicht den anderen (mehr Markt). Vielmehr tritt diese – zumal im Osten – sozialpopulistisch auf. Bei der soziokulturellen Konfliktlinie repräsentiert die AfD, wiederum vor allem im Osten, zwar den autoritären Pol, die Partei Die Linke jedoch laviert zwischen autoritären und libertären Werten. Das reicht im Osten, wo sie keineswegs an das Ideengut der 68er anknüpft, bis hin zu recht autoritär-rigiden Maximen. Das mag nicht zuletzt an der staatsliebenden Einstellung der Ostdeutschen liegen. Kein Zufall: Der einzige grüne Ministerpräsident ist in einem Westland beheimatet (Winfried Kretschmann, Baden-Württemberg), der einzige aus den Reihen der Partei Die Linke in einem Ostland (Bodo Ramelow, Thüringen). Die Grünen reüssieren im Osten daher nicht. Sie verloren hier bei einem ohnehin schon schwachen Ergebnis knapp (im Westen + 0,6 Punkte). Und die Wählerschaft der SPD schrumpft, vor allem in den neuen Bundesländern. Arbeiter hadern mit der teils kosmopolitischen Denkweise der Parteispitze, das ist auch in anderen Ländern wie Frankreich zu beobachten.

Wer den Vergleich zwischen den alten und den neuen Bundesländern heranzieht, will keine Ost-West-Spaltung kultivieren, sondern die Frage beantworten, ob das vereinigte Deutschland eine erweiterte Bundesrepublik ist oder im Kern eine neue. Das ist ein Politikum. Wer der ersten Position zuneigt, arbeitet eher Differenzen heraus, wer die zweite präferiert, stärker Gemeinsamkeiten. Trotz vieler Unterschiede mit Blick auf das Wahlverhalten springen ebenso Parallelen ins Auge: Es rumort in beiden Landesteilen, gleichwohl dominiert die Partei Angela Merkels seit 2009 hier wie da, wenngleich nun auf einem niedrigeren Niveau. Nicht einmal jeder Dritte hat sie noch gewählt.

 

Und was oft nicht zur Sprache kommt: Deutschland besitzt auch ein Nord-Süd-Gefälle. Im stärker prosperierenden Süden dominieren rechte Positionen, im ökonomisch schwächeren Norden eher linke. Ost ist also nicht gleich Ost. So entfielen im südlichsten Westland Bayern auf CSU, AfD und FDP 61,2 Prozent, im südlichsten Ostland Sachsen 62,1 Prozent auf CDU, AfD und FDP. Insgesamt rückt das Parteiensystem mit dem Aufkommen der AfD und der Revitalisierung der Liberalen in die rechte Mitte. Nur im kleinsten Bundesland Bremen lag die SPD knapp vor der CDU.

Wiewohl der Westen in puncto höhere Volatilität und Abkehr von den Volksparteien dem Osten nachzueifern scheint, so führt die Schlussfolgerung: „Vorreiter Ost“ und „Nachzügler West“ in die Irre, besteht doch kein kausaler Zusammenhang. Es sind gesamtgesellschaftliche, nicht mit der deutschen Einheit erklärbare Prozesse. Wenn die Zahl der Mitglieder der beiden Volksparteien seit 1990 drastisch schrumpft (bei der SPD um mehr als die Hälfte, bei der CDU fast um die Hälfte), ist dies keine Reaktion auf eine erhöhte Parteiverdrossenheit im Osten. Da die Wählerschaft der AfD zu immerhin zwei Dritteln aus Protest gegen die Etablierten gestimmt hat und lediglich zu einem Drittel aus Überzeugung, können ihre Gewinne wie Flugsand verschwinden. Insofern ist Gelassenheit angesagt, nicht alarmistische Aufgeregtheit. Die Linke, die mittlerweile als etabliert gilt und daher weniger als Alternative zur AfD in Frage kommt, hat im Osten 4,9 Punkte eingebüßt, im Westen hingegen 1,8 Punkte zugelegt.

Das Ende der Bundestagswahl bedeutet den Anfang der Regierungsbildung. Dabei kommen zwei Varianten in Frage: entweder Schwarz-Rot (die Große Koalition verfügt über 53,5 Prozent der Stimmen) oder Schwarz-Gelb-Grün (das „Jamaika“-Bündnis erreicht 52,6 Prozent). Diese Koalitionsvariante, die weitaus wahrscheinlichere, weil die SPD, staatspolitisch wenig verantwortungsvoll, entschlossen in die Opposition strebt, ohne Schnittmengen mit der Union auszuloten, würde im Osten bei einem Stimmenanteil von 40,1 Prozent wenig Zustimmung erfahren. Alle drei Parteien (mit der CSU: vier) plädieren für „weniger Staat“, wohingegen in den neuen Bundesländern gerade der Paternalismus grassiert, sei es wegen der aus der Vergangenheit stammenden Versorgungsmentalität, sei es wegen der als unzureichend empfundenen Angleichung an den Westen. Im Osten überlagert Gleichheitsdenken immer noch Freiheitsdenken.

Der Text ist die erweiterte Fassung eines Beitrages, der in der Neuen Zürcher Zeitung (3. Oktober 2017, S. 6) erschienen ist, und zwar unter dem folgenden Titel: Vereint und doch gespalten. Die Bundestagswahl hat gezeigt: Auch 27 Jahre nach der Wiedervereinigung geht durch Deutschland ein politischer Graben.

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