Watch Dogs: Legion – Tag Null

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6: ABENDESSEN BEI FAMILIE HAYES

Der Himmel hatte die Farbe reifer Pflaumen, als Danny schließlich Locksley Estate erreichte. Er dachte immer noch an Jenks und Faulkner und was Letzterer auch immer für ein Ding hatte abziehen wollen, als er vor der Wohnung seiner Mutter stand. Doch das alles war vergessen, als er den köstlichen Duft von Hühnchen auf der anderen Seite der Tür wahrnahm.

Einen Moment lang war er wieder fünfzehn und kam vom Training nach Hause. Damals hatte er Fußballspieler werden wollen, wie jeder Junge in seinem Alter. Er konnte nicht genau sagen, wann sich das geändert hatte. Er hielt inne und drehte sich gedankenverloren um.

Hier im Haus war immer noch alles so wie in seiner Erinnerung. Von dort, wo er stand, konnte er immer noch die Spitze von St. Mary Axe sehen. Der Wolkenkratzer leuchtete wie ein Weihnachtsbaum und an seinen Seiten prangte das geschwungene Logo einer Bank. Hier in der Sozialsiedlung war es hingegen dunkler, abgesehen von ein paar spärlichen Straßenlaternen oder dem Licht, das durch zugezogene Vorhänge drang.

Er konnte das Murmeln von Fernsehern und Radios hören. Stimmen aus den Stockwerken unter ihm. Mum lebte in der obersten Etage. Er streckte neugierig seinen Hals. Ein paar Jugendliche im Hinterhof. Wahrscheinlich dealten sie. Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als er ihn schnell wieder beiseiteschob und sich umdrehte.

Was auch immer sie taten, ging ihn nicht das Geringste an. Er war gerade nicht im Dienst. Es hatte keinen Sinn, vor der Haustür seiner Mutter Ärger zu machen. Das tat Ro schon oft genug, wenn stimmte, was er gehört hatte. Bei Ro war das schwer zu sagen. Man wusste nie genau, wie viel davon Blödsinn war und wie viel Wahrheit.

Dieser Gedanke beschäftigte ihn, als er schließlich klopfte. Er war mit seiner jüngeren Schwester nie gut ausgekommen. Sie hatten sich von Anfang an nur gestritten und um Aufmerksamkeit gekämpft. Er liebte sie, nahm er an, aber er hatte sie nie wirklich leiden können. Und wahrscheinlich ging es ihr genauso. Wenn sie heute hier war …

Die Tür wurde geöffnet. Ro starrte ihn finster an. Seine Schwester war kleiner als er, aber muskulös. Sie trug noch ihre Trainingsklamotten. Er sah sie selten in etwas anderem als Jogginghosen und Sportschuhen. Sie hatte sich an den Seiten die Haare abrasiert und in das, was übrig war, lila Strähnen gefärbt. »Wird auch Zeit«, sagte sie. »Du stehst schon seit ’ner Stunde da draußen.«

»Was ist mit deinen Haaren passiert?«

Sie runzelte die Stirn. »Schick, oder?«

»Hast du das selbst gemacht?«

»Vielleicht.«

»So sieht’s auch aus.« Er streckte einen Finger aus. »Ich dachte, Irokesen sollen hochstehen, so.«

»Nicht anfassen.« Ro ballte die Faust und Danny spannte sich an. Ro hatte einen gemeinen linken Haken – berüchtigt geradezu. Sie hatte mal eine Karriere in Mixed Martial Arts angestrebt, aber wie bei so vielen von Ros Ideen war nichts daraus geworden. Doch so wie sie aussah, hatte sie zumindest ihr Training nicht aufgegeben.

»Würde mir nicht im Traum einfallen.« Er sah sie erwartungsvoll an. »Darf ich reinkommen?«

»Ich denke noch darüber nach.«

»Denk schnell oder ich walz dich um.«

Ro sah sich stirnrunzelnd um. »Ach ja? Hast du Verstärkung dabei? Ein paar deiner Albion-Kumpel? Dann trete ich denen eben auch in den Arsch.«

Danny schüttelte den Kopf. »Für so ’nen Zwerg reißt du ganz schön das Maul auf.«

Ro fletschte die Zähne. »Das bedeutet nur, dass ich nah genug bin, um dir in die Eier zu boxen.«

Danny trat einen Schritt zurück. Es war keine leere Drohung. »Denk ja nicht, ich würde dich nicht plattmachen.«

Ro wollte etwas erwidern, wurde jedoch von einem Poltern von Töpfen und Pfannen unterbrochen. »Wer ist an der Tür, Süße?«, rief eine Frauenstimme. Ro trat seufzend beiseite.

»Nur Danny, Mum. Niemand Wichtiges.«

»Herzlichen Dank«, sagte er, während er sich an ihr vorbei in die Wohnung quetschte.

»Fick dich und geh sterben.«

»Rosemary, achte auf deine Ausdrucksweise.« Cece Hayes war klein und rund und schien niemals älter zu werden, ganz egal wie viel Zeit zwischen seinen Besuchen verging. Anders als ihre Kinder sprach sie mit starkem Trinidad-Akzent. Sie stürmte in den Flur und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. »Ach du meine Güte, Daniel! Der verlorene Sohn kehrt nach Hause zurück!«

»Hallo, Mum, wie wär’s mit einem Kuss?« Danny beugte sich herunter und seine Mutter drückte ihn fest. »Wie geht es dir?«

»Fix und fertig, Schatz«, sagte sie. »Bin den ganzen Tag rumgerannt.« Sie trat zurück. »Du siehst dünn aus. Isst du nicht?«

»Nicht so gut wie früher.«

»Das werden wir sofort ändern. Komm rein, komm rein.« Sie zog ihn mit sich. »Rosemary, mach die Tür zu, du lässt die Mücken rein.«

»Ja, Rosemary, mach die Tür zu.«

Ro zeigte ihm den Mittelfinger und ließ die Tür zuknallen. Danny grinste.

Die Küche war kleiner, als er sie in Erinnerung hatte. Es war kaum Platz, da der Ofen und der kleine Resopaltisch an einer Wand einen Großteil des Raums einnahmen. Es gab ein Fenster mit Aussicht auf den Hof auf der anderen Seite des Gebäudes und darunter hing ein ramponierter Heizkörper unter dem Gewicht trocknender Kleidung durch – Ros Kleidung, wie es aussah.

»Du hast deine Wäsche mitgebracht«, sagte er, während ihn seine Mutter zu seinem Platz führte.

»Mum hat es angeboten«, erwiderte Ro und schnappte sich selbst einen Stuhl. Es gab am kleinen Tisch insgesamt nur drei. Gerade genug, keiner zu viel, keiner zu wenig.

Cece drehte sich mit einem Löffel in der Hand vom Herd um, auf dem ein Topf vor sich hin köchelte. »Wenn nicht, würdest du diese ekelhaften Sachen hier drin tragen und deinen Schweißgeruch in meiner Küche verbreiten. Wie in deiner Wohnung, wenn ich das hinzufügen darf.«

»Du bist ausgezogen?«, fragte Danny ein wenig überrascht.

»Wurde ja auch mal Zeit.« Ro klopfte an die Wand über ihrem Kopf. »Ich brauchte meine eigene Bude.«

»Mehr Platz für dein Diebesgut, hm?«

Ros Augen verengten sich. Bevor sie etwas erwidern konnte, sagte Cece: »Davon will ich jetzt nichts hören. Deine Schwester hat einen guten Job. Sie gibt sich nicht mehr mit diesen Taugenichtsen ab.«

»Was ist das für ein Job?«

»Kurierdienst.«

Die Art, wie sie es sagte, ließ ihn aufhorchen. Er lehnte sich zu ihr vor und senkte seine Stimme. »Für wen?« Er kannte die Antwort bereits, aber er wollte es von ihr hören.

»Für wen?«, äffte sie ihn nach. »Geht dich einen Scheißdreck an.«

»Falsch«, entgegnete Danny. »Ich arbeite in der Strafverfolgung, weißt du noch?«

»Von wegen.« Ro beugte sich angriffslustig vor.

Danny lehnte sich zurück. »Manche Dinge ändern sich nie.«

Ro griff nach ihm, doch er schlug ihre Hände beiseite. Sie ließ nicht locker und sein Stuhl kippte nach hinten. Sie war stärker, als er es in Erinnerung hatte, aber das war er auch. Das Problem war, dass Ro unfair kämpfte.

»Jetzt reicht es aber!« Mum stürmte dazu und schwenkte drohend ihren Kochlöffel. »Danny, du lässt jetzt sofort deine Schwester in Ruhe, sonst gibt’s was auf die Ohren!« Danny zuckte zurück. Der Löffel war noch heiß. Ro duckte sich weg und grinste ihn höhnisch an, bis sich ihre Mutter an sie wandte. »Und du«, sagte sie mit leiser Stimme. »Du wajang …«

»Mum!«, protestierte Ro. »Er hat mich provoziert. Das macht er immer.«

»Du hast ihn seit drei Jahren nicht mehr gesehen, Mädchen.« Sie schnaubte verächtlich. »Was redest du da von immer? Benimm dich, Kind.« Sie sah Danny an und hob kapitulierend ihre Hände. »Das gilt für euch beide. Und jetzt setzt euch. Essenszeit.«

»Sehr gern«, sagte Danny und nahm vorsichtig wieder Platz. Nachdem die Ordnung wiederhergestellt war, verteilte Cece Chicken Pelau. Danny lief das Wasser im Mund zusammen. In braunem Zucker karamellisiertes Hühnchen, gekocht mit Chilies, frischen Kräutern und Kokosmilch. Er haute kräftig rein.

Während er aß, musterte er seine Schwester über seinen Teller hinweg. Sie starrte zurück und streckte ihm die Zunge raus. Er unterdrückte den Drang, es ihr mit gleicher Münze heimzuzahlen. Fünf Minuten zusammen und sie benahmen sich wieder wie Kinder. Es hätte tröstlich sein können, wenn es nicht so nervig gewesen wäre.

Sie aßen schweigend, denn ihre Mutter redete genug für alle drei. Schließlich stieß sie ihn an. »Was war denn das heute eigentlich?«

Er sah von seinem Essen auf. »Was?«

»Die Schießerei natürlich!« Sie schlug mit den Händen auf den Tisch, sodass er erzitterte. »Ich hab dich in den Nachrichten gesehen, wie du von der Polizei angebrüllt wurdest.«

»Das haben die gefilmt?«, fragte Danny entsetzt. Natürlich hatten sie das. Heutzutage wurde alles gefilmt. »Es war gar nichts, Mum. Es gab ein Missverständnis, was die Zuständigkeit angeht. Mehr nicht.«

Ro schnaubte verächtlich und Danny warf ihr einen bösen Blick zu.

»Da hat jemand bestimmt versucht, diese Lincoln zu ermorden«, sprach Cece unbeirrt weiter. »Überrascht mich gar nicht. Diese Frau ist sehr leichtsinnig. Vikey vike, genau wie euer Vater. Kümmert sich um niemanden außer sich selbst.«

»Hast du sie nicht gewählt, Mum?«, fragte Ro unschuldig.

Cece drehte sich zu ihr um und ihre Augen verengten sich. »Eine Frau wird ja wohl noch ihre Meinung ändern dürfen, oder?«

»Die waren nicht hinter ihr her«, sagte Danny und stocherte in seinem Essen herum. Seine Mutter und Schwester sahen ihn gespannt an und sofort bereute er, etwas gesagt zu haben. Ro runzelte die Stirn und stach mit ihrer Gabel nach ihm. Er wehrte sie ab. »Was?«

 

»Hinter wem sonst?«

»Irgend so ein Typ. Einer von hier.«

»Wer hat ihn erschossen?«

»Warum willst du das wissen?«

Ro senkte den Blick auf ihren Teller. »Reine Neugier.«

Danny musterte sie. Er hatte Ro immer gut lesen können, oder vielleicht war sie bisher nur sehr schlecht darin gewesen, etwas zu verbergen. Doch in den letzten drei Jahren hatte sie es offenbar gelernt. Ihr Gesichtsausdruck verriet ihm nichts und das beunruhigte ihn.

Die Unterhaltung wandte sich von der Schießerei hin zu anderen Themen. Hauptsächlich Klatsch und Tratsch. Cece Hayes war eine aufrechte Christin, aber auch sie hatte ihre Fehler. Es bereitete ihr unverhältnismäßig viel Vergnügen, die Probleme ihrer Freunde und Nachbarn weiterzuerzählen. Das war schon immer so gewesen. Danny fragte sich, warum sich Unternehmen wie Blume die Mühe machten, Daten sammelnde Software zu erschaffen, wenn sie doch einfach nur Spitzel in die Küchen und Barber Shops von East London einzuschleusen brauchten. Sie hätten nach zwei Wochen mehr Informationen, als sie verarbeiten könnten.

»Mum, hast du schon mal den Begriff Schadenfreude gehört?«, unterbrach er schließlich eine Geschichte über die unverheiratete Mutter eine Etage tiefer und ihre Männerbekanntschaften. Er stand auf und streckte sich.

»Jetzt werd mal nicht frech, Daniel Benjamin Hayes«, erwiderte sie und erhob sich ebenfalls. »Und was hast du jetzt bitte vor?«

»Nach Hause gehen. Schlafen. Muss morgen früh raus.« Dann verzog er sein Gesicht. Faulkner wollte direkt morgens in der Polizeistation von Bethnal Green aufkreuzen und eine kleine Machtdemonstration hinlegen, um einen Blick auf die Beweise zu kommen. Danny hatte bisher den Eindruck gehabt, dass sie sich zurückhalten sollten – vielleicht waren neue Befehle gekommen. So oder so freute er sich nicht gerade darauf – genauso wenig wie auf die Möglichkeit, erneut PC Moira Jenks über den Weg zu laufen.

Ro erhob sich ebenfalls. »Ich auch. Muss morgen den ganzen Tag Sachen ausliefern.«

»Oh, seht euch nur an. Wie hart ihr arbeitet. Ihr macht mich stolz.« Cece küsste sie beide und folgte ihnen munter plappernd zur Tür.

Als Danny und seine Schwester schließlich allein draußen standen, sagte er: »Ich hab gehört, du arbeitest jetzt für die Kelleys.«

Ro drehte sich um und ging davon.

Danny eilte ihr nach. »Es stimmt also?«, fragte er.

»Was schert dich das?«

»Ich bin dein Bruder.«

Sie blieb stehen. Drehte sich um. »Du warst drei Jahre weg. Du rufst ab und zu an, schickst Mum vielleicht mal ’ne E-Mail. Kein besonders toller Bruder.«

»Ich hab angeboten, dir bei der Jobsuche zu helfen … Albion sucht …«

Sie lachte. »Und wo ist da der Unterschied zu den Kelleys?« Sie bohrte ihm den Zeigefinger in die Brust. »Aus meiner Sicht sind die beide das Gleiche. Nur sind deine Leute schwerer bewaffnet.«

Danny antwortete nicht. Ro schüttelte den Kopf, drehte sich um und winkte noch mal verächtlich ab, während er ihr nachsah.

»Wir sehen uns dann in drei Jahren wieder, Bruderherz. Oder lass uns doch lieber direkt fünf sagen.«

Ro Hayes ging über die Straße, ohne sich um den Verkehr zu scheren. Sie war immer noch wütend. Sie war immer wütend, aber das hier war anders. Danny hatte sich verändert. Drei Jahre ohne ein Wort und er dachte, er könnte wiederkommen und da weitermachen, wo sie aufgehört hatten, einfach so. In den Taschen ihres Hoodies ballte sie die Hände zu Fäusten.

Am liebsten hätte sie ihm eine reingehauen. Ihm einen kleinen Dämpfer verpasst. Doch das würde nichts nützen. Seit sie klein war, versuchte er, ihr Leben zu kontrollieren. Er war der Meinung, sein kleiner Abstecher ins Militär mache ihn zum Oberchecker, aber sie wusste, dass er nur ein weiterer Wichser in schicker Uniform war. Jetzt, wo er für Albion arbeitete, erst recht.

Fast hätte sie aufgelacht, als Mum ihr von seinem Angebot erzählt hatte. Als ob sie in einem Callcenter hocken oder für einen Drecksladen wie Albion Akten ordnen wollte. Denn das war es, was er mit Job meinte – etwas Sicheres und Langweiliges.

Sie hatte es versucht und nicht gemocht. Sie brauchte etwas anderes. Sie war immer schon eine Kämpferin gewesen und das gefiel ihr. Sie hatte es mit Wrestling versucht, aber nur so zu tun hatte es nicht gebracht. Sie suchte einen echten Kampf.

Mixed Martials Arts hatten genau das versprochen, aber sie hatte gleich zu Anfang ein paar schlechte Entscheidungen getroffen – den falschen Leuten vertraut – und ihre Karriere war vorbei gewesen, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Damals hätte sie ihren Bruder gebraucht. Aber er war nicht da gewesen. Er war zu beschäftigt damit gewesen, Soldat zu spielen.

Glücklicherweise hatte sie Freunde gehabt. Und diese Freunde hatten sie anderen Freunden und Bekannten vorgestellt und sie hatte ein paar Gefälligkeiten gegen schnelles Geld erledigt und dann …

Sie blieb an einer Ampel stehen. Nur ein paar Gefälligkeiten. Und bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte sie für die Kelleys gearbeitet. Nichts Schlimmes. Hauptsächlich kümmerte sie sich um Leute, die eine Abreibung verdient hatten. Manchmal drohte sie ihnen nur Prügel an. So oder so wurde sie dafür bezahlt, und das war das einzig Wichtige.

Sie dachte nicht darüber nach, eine Kriminelle zu sein. Sie bezweifelte, dass Danny darüber nachdachte, Soldat zu sein. Er war es einfach. Und sie war das hier. Sie zog die Hände aus den Taschen und studierte die feinen Narben an ihren Händen. Sie ballte sie wieder zu Fäusten und steckte sie in die Taschen zurück.

Die Ampel sprang um, die Autos wurden langsamer und Ro überquerte die Straße. Sie wollte zu dem Pub auf der anderen Seite des Kreisels. Es war ein kleines, altmodisches Gebäude, das sich sicher in die Schatten seiner moderneren Nachbarn duckte.

Der Pub – und seine Besitzer – widerstanden der Gentrifizierung mit beachtlicher Standhaftigkeit. Er war schon vor dem Zweiten Weltkrieg eine miese Spelunke gewesen und würde es auch weiter bleiben, auch wenn er inzwischen von teuren Konditoreien und Boutiquen umringt war. Die einstmals weiße Fassade war verdreckt, die roten Fensterrahmen verblasst und abgeblättert. Die goldene Schrift auf dem Schild war verschlissen, aber gerade noch so zu lesen – The Wolfe Tone.

Licht und Musik drangen aus der offenen Tür. Zwei harte Kerle standen auf den Eingangsstufen, in der einen Hand ein Bier, in der anderen brennende Zigaretten, deren Asche auf die Straße fiel. Ro sah zu ihnen hoch. »Reggie. Saul.«

»Ro«, grüßte Saul. Oder vielleicht auch Reggie. Es war schwer, sie zu unterscheiden. Reggie und Saul Godfrey waren beide breite, schwere Bauarbeitertypen mit brutalen Gesichtszügen und dicken Hälsen. Was passend war, denn schließlich arbeiteten sie gelegentlich auf dem Bau. Wenn sie nicht gerade für die Buchmacher der Kelleys Geld eintrieben. Ro tat das ebenfalls manchmal.

»Hätte nicht gedacht, dass wir dich heute zu Gesicht bekommen«, fuhr Saul – oder Reggie – fort. »Warst du nicht zum Abendessen bei deiner alten Mum?« Sein Bruder lachte auf, als ob er etwas Versautes gesagt hätte.

»Das war kein Euphemismus, Saul«, sagte Ro.

»Ich bin Reggie.«

»Sorry.« Ro wollte reingehen, doch Reggie streckte einen Arm aus. Ro starrte erst den Arm, dann ihn an. »Hast du mir was zu sagen, Saul?«

»Reggie. Ich hab gehört, dein Bruder hat ’nen schicken Job bei diesen Albion-Wichsern ergattert. Stimmt das? Arbeitet er jetzt für die Bullen?«

»Und wenn?« Ro sah angespannt zwischen den beiden Brüdern hin und her. Normalerweise hatte sie kein Problem mit den Godfreys. Jedenfalls inzwischen nicht mehr. Nicht nachdem sie Reggie das eine Mal fast im Klo ersäuft hatte. »Ich bin nicht seine Aufpasserin.«

»Wir haben was anderes gehört.«

»Was habt ihr denn gehört, Reggie?«, fragte Ro und lehnte sich nah an ihn heran. Er zuckte zurück, wahrscheinlich weil er sich daran erinnerte, wie ihre Hand seinen Hinterkopf in die Kloschüssel gedrückt hatte. »Und woher habt ihr das überhaupt?«

»So was spricht sich eben rum«, murmelte Saul. Sie machte einen Schritt auf ihn zu und er wich ebenfalls zurück, bis er den Türrahmen im Kreuz hatte. Saul hatte auf dem Boden gelegen und sich die Seele aus dem Leib gekotzt, während sie seinen Bruder ordentlich durchgespült hatte. »Sieht nicht gut aus, die Sache mit deinem Bruder …«

Ro runzelte die Stirn. »Albion ist doch nichts weiter als eine andere Gang.«

»Ja, aber nach allem, was man so hört, wird das nicht mehr lange so bleiben.«

»Oh, na ja, dann ist das natürlich etwas anderes«, schnaubte Ro. »Ich werde deine Bedenken in Erwägung ziehen. Und jetzt will ich ein Bier. Gehst du zur Seite oder muss ich dir Beine machen?«

Die Godfreys traten beide einen Schritt zurück und Ro quetschte sich an ihnen vorbei in den Pub. Er war ziemlich voll, aber das war nichts Neues. Heutzutage gab es nicht viel anderes zu tun, als zu saufen.

The Wolf Tone gehörte den Kelleys. Und da war der Pub nicht der einzige. Sie kauften seit Jahren Pubs, Werkstätten und Ähnliches auf. »Ihre Investitionen streuen«, nannten sie das. Ein Geschäft zu besitzen machte es leichter, sein Geld dort zu waschen. Außerdem konnte man so leichter Drogen verticken. Und wenn die Bullen herumzuschnüffeln begannen … Tja, Pubs brannten ständig ab. Wirklich eine Schande, aber die Versicherung kam für den Schaden auf.

Natürlich wurde es immer schwerer, Geld zu waschen. Kaum jemand benutzte noch Bargeld. Das Pfund war im freien Fall. Kryptowährungen füllten die Lücke. ETOs hauptsächlich – E-Tokens. ETO war anonym und nicht nachverfolgbar. Es war die neue Währung des Vereinigten Königreichs geworden, zumindest was den Schwarzmarkt anging.

Ro ging geradewegs zur Bar und bestellte ein Lager. Während sie wartete, sah sie sich um und entdeckte bekannte Gesichter. Dafür brauchte sie kein Optik, auch wenn sie eins hatte. Sie kannte jeden und jeder kannte sie. Einige lächelten, andere verzogen das Gesicht. Ein, zwei Leute ignorierten sie ganz. Sie war nicht gerade weit oben in der Hierarchie, was manchmal ein Segen war.

Die Dinge änderten sich. Irgendwas lag in der Luft. Jeder Gauner, Knacki und Abzocker in East London war in Alarmbereitschaft. Nicht nur die Aufstände und die paramilitärischen Wichser auf den Straßen, sondern etwas, das sie direkt betraf. Die Kelleys waren auf Beutezug. Sie schluckten alles, was nicht bei drei auf den Bäumen war, und es gab nichts, was man dagegen tun konnte. Dennoch würde es früher oder später zu Blutvergießen kommen.

Ro lief ein Schauer über den Rücken. Noch hatte sie nichts allzu Schlimmes tun sollen, doch bald würde es so weit sein. Irgendwann würde ein Idiot nicht unten bleiben oder sie würde an jemandem ein Exempel statuieren sollen. Und was dann? Sie sah erneut auf ihre Hände und fragte sich, ob sie das Zeug dazu hatte, zu tun, was getan werden musste.

»Versonnen«, sagte eine vertraute Stimme.

Ro drehte sich um. »Was?«

Der Mann, der neben ihr stand, war kleiner als sie, aber nicht viel. Er war bullig, hatte einen rasierten Schädel und drei Löwen auf einen seiner Unterarme tätowiert. Als er grinste, blitzte ein Goldzahn auf. »Meine Alte hat mir so ’ne App draufgeladen. Lerne jeden Tag ein neues Wort. Heute ist das ›versonnen‹. Bedeutet nachdenklich, klar?«

»Halt die Klappe, Colin.« Ro lächelte, als sie es sagte, und drehte sich wieder zur Bar um. Sie kannte Colin länger, als sie zugeben wollte. Er war nicht gerade ein Freund, aber er war freundlich. Ihr Bier kam an und der Schaum lief am Glas herunter. Sie trank einen Schluck. Colin hielt nicht die Klappe. Es machte ihr nichts aus, denn sie hatte ohnehin nicht erwartet, dass er es tun würde. Colin liebte den Klang seiner eigenen Stimme.

»Sieht aus, als wär heute jeder hier. Muss irgendwas im Busch sein.«

»Nicht dass ich wüsste«, sagte sie.

»Billy hat alle zusammengetrommelt.« Er redete über Billy Bricks, William Brickland für die Bullen. Billy war mal Boxer gewesen, bevor er damit begonnen hatte, Geld dafür zu nehmen, Kämpfe zu verlieren, anstatt sie zu gewinnen. Jetzt stand er in der Hackordnung der Kelleys ganz oben und sorgte dafür, dass alles nach Plan lief. Ro hatte eine Scheißangst vor ihm. Billy Bricks war gefährlich und scheute sich nicht, alles und jeden niederzumachen – mit Ausnahme von Mary Kelley. Doch die Matriarchin des Kelley-Clans packten selbst die Bullen nur mit Samthandschuhen an.

 

»Hat er gesagt, warum?«, fragte sie.

»Tut er das je?« Colin sah sie an. »Hab dich in letzter Zeit nicht oft gesehen, Ro.« Er winkte dem Barmann und bestellte ein Guinness. »Viel zu tun?«

»Genug. Und selbst?«

»Du kennst mich, Süße. Irgendwas ist immer.« Während Colin sprach, blickte er auf sein Optik und tippte auf dem Display herum. Er war wie ein Schläger gebaut, hatte sich aber in seinem ganzen Leben niemals nüchtern geprügelt. Er war Transportfahrer, auch wenn das eigentlich nur ein Nebenverdienst war. Das richtige Geld verdiente er als Fahrer für die Kelleys. Wenn jemand schnell irgendwo hingebracht werden musste, war Colin zur Stelle. Er grinste. »Ich fahr ein paar neue Routen, weißt du?«

Ro runzelte die Stirn. »Ach ja?« Colins Routen mussten abgesegnet werden. Da sein Van größtenteils den Kelleys gehörte, war das Ros Meinung nach nur fair.

Colin verzog das Gesicht, als hätte er sich versehentlich verplappert. »Nur neue«, sagte er, als würde das irgendwas erklären. Sie hörte sein Zögern und richtete sich auf. Colin war nicht die hellste Kerze im Leuchter. Er hatte ein-, zweimal eine Abreibung bekommen, weil er nicht in seinem Revier geblieben war, sondern nebenher noch was ausgeliefert hatte.

Das erste Mal, wenn sie einen erwischten, bekam man eine Verwarnung, vielleicht auch eine Tracht Prügel, je nachdem, wie man die Verwarnung aufnahm. Manchmal, wenn das Geld stimmte und man anbot, Prozente zu zahlen, ließen sie einen auch weitermachen. Doch das zweite Mal …

»Colin«, begann sie. Er sah an ihr vorbei und stieß sich dann von der Bar ab.

»Sorry, Kleine, muss mal pissen. Bis später.« Auf dem Weg zu den Toiletten schaute er über seine Schulter. Ro wollte ihm gerade nachrufen, als sich eine schwere Hand auf ihre Schulter legte und sie erschreckte.

»Rosemary. Gerade noch rechtzeitig.« Sie kannte die Hand und die Stimme und drehte sich nicht um. Sie verfluchte Colin dafür, dass er sie nicht gewarnt hatte.

»Billy«, sagte sie.

»War das Colin, den ich da gerade hab wegflitzen sehen?«, fragte Billy Bricks, während er sich neben sie an die Bar lehnte. Er war ein alter Gangster, grau und wettergegerbt, aber immer noch muskulös und stark. Seine Nase war mindestens zweimal gebrochen und gerichtet worden. Seine Augen, die an polierte Steine erinnerten, musterten Ro. Sie sah weg. Billy mochte es nicht, wenn ihn andere ansahen.

»Ja. Er musste nur mal pissen.«

»Klar doch.« Er lächelte. »Ich dachte schon, du würdest heute Abend gar nicht mehr vorbeikommen.«

»Ich hatte Lust auf ein Bier.«

»Tja, dann muss ich dir wenigstens nicht hinterherlaufen.«

»Gibt’s was?«

»Warum fragst du?«

Um Zeit zu schinden, trank Ro einen Schluck Bier. Billy hatte irgendwas auf dem Herzen. Das machte sie nervös. »Kein bestimmter Grund. Es ist nur … normalerweise redest du nicht mit mir.«

Billy lächelte. Er hatte ein hässliches Lächeln. »Das muss ich normalerweise auch nicht, oder?« Er drehte sich zum Barkeeper um und klopfte auf die Theke. »Ein Glas Best, Harry.« Er sah wieder zu Ro. »Wir treffen uns später hinten. Darum sind alle hier.«

»Ich hatte keine Ahnung.«

»Aber du bist trotzdem hier. Du Glückliche.« Billy lehnte sich nah an sie heran und sie konnte sein Aftershave riechen. Genau wie er war es altmodisch.

»Worum geht’s bei dem Treffen?«, fragte sie.

Einen Moment lang war er still. Dann lachte er leise auf. »Es hat sich mal wieder jemand für clever gehalten. Hat sich ohne Erlaubnis nebenbei ein bisschen was dazuverdient. Einer unserer Vans wurde heute Morgen in der Nähe der Blackfriars Bridge gesehen. Nur dass wir da heute gar keine Lieferung hatten. Ganz schön dreist, was?«

»Vielleicht war es ja eine private Erledigung«, sagte sie, bereute es aber sofort.

»Während der Arbeitszeit? Gott behüte, Rosemary.« Er schüttelte seinen Kopf in gespielter Enttäuschung. »Darum ist es hier heute so voll. Ich hab verbreiten lassen, dass sich jeder, der was über irgendwelche Nebeneinkünfte weiß, sofort bei mir melden soll. Und wenn nicht … na ja.« Er kippte sein Bier hinunter und stellte das Glas geräuschvoll ab. »Schreib’s auf meinen Deckel, Harry. Guter Junge.«

Billy wandte sich zum Gehen, hielt dann aber inne. »Du weißt nicht zufällig irgendwas darüber, oder, Rosemary? Irgendwas, das du mir mitteilen willst?«

Ro dachte an Colin und schüttelte den Kopf. »Ich weiß gar nichts, Billy.«

Billy nickte. »Gut. Aber halt die Ohren offen, ja?« Er schlenderte davon und rief einen anderen unglücklichen Tropf zu sich. Ro sah ihm nach und entschied, schnell ihr Bier zu leeren. Sie musste mit Colin reden. Sie verließ die Bar und eilte nach hinten zu den Toiletten.

Colin stand an der Hintertür gegenüber dem Herrenklo und starrte auf sein Optik. Sie wartete nicht darauf, dass er sie bemerkte. »Bist du lebensmüde?«, zischte sie, schnappte sich seinen Arm und verdrehte ihn hinter seinem Rücken. Colin schrie auf.

»Hey, lass los«, begann er, doch sie schubste ihn gegen die Wand, ihren Unterarm gegen seine Kehle gepresst. Nicht fest, aber fest genug, um ihm das Atmen schwierig zu machen. Er riss die Augen auf und zerrte an ihrem Arm.

»Hör auf, dich zu wehren«, sagte sie leise. »Beruhig dich und antworte auf die verdammte Frage. Bist du lebensmüde?«

»N… Nein«, krächzte er. »Warum?«

»Was treibst du dann?«

»Nichts.«

Sie presste ihr ganzes Gewicht gegen seine Kehle. Seine Augen traten hervor. »K… Krieg keine Luft«, keuchte er.

»Hör auf zu jammern. Wenn du nicht atmen könntest, könntest du auch nicht reden.« Ro lehnte sich nah heran und kniff die Augen zusammen. »Du hast vorhin gesagt, du hättest eine neue Route. Und dann bist du abgehauen, als Billy Bricks aufgetaucht ist … In was hast du dich reinziehen lassen, Colin?«

»In nichts. Ich schwöre. Nur ein paar Auslieferungen.« Er wand sich aus ihrem Griff. »Lass uns rausgehen. Da können wir quatschen.« Er sah sich schnell um und ging zur Hintertür. Nach anfänglichem Zögern folgte ihm Ro.

Die Tür führte in eine schmale Gasse, kaum breit genug für zwei Leute. Sie war voller Müll und Pfandflaschen und der Gestank nach verrottetem Gemüse und schalem Bier war so stark, dass sie durch den Mund atmen musste. Sie konnte in der Dunkelheit Ratten herumhuschen hören, doch zu ihrer Erleichterung sah sie die Biester nicht. Sie hasste Ratten. Immer schon. »Raus mit der Sprache«, sagte sie ungeduldig.

Colin zündete sich eine Kippe an. Keine E-Zigarette, sondern eine echte. Silk Cut. In dieser Hinsicht war er altmodisch. Er bot ihr keine an, aber das machte ihr nicht viel. »Ich fahre nur ein bisschen Zeug durch die Gegend, okay?«

»Zum Beispiel nach Blackfriars?«

Er zögerte, doch sie sah die Wahrheit in seinen Augen. »Du kompletter Vollspacken.«

Colin sah weg. »Es ist nur ein bisschen Arbeit nebenher. Deswegen musst du dich doch nicht so aufregen.«

»Es geht doch nicht um mich«, sagte sie. »Was ist, wenn Billy Bricks das rausfindet?«

»Und wie soll er das rausfinden? Wirst du mich verpfeifen?«

Ro dachte nach. Wenn sie es niemandem sagte und die Sache aufflog, würde sie die gleiche Strafe wie Colin bekommen, nur schlimmer. Die Kelleys schätzten Loyalität nur, wenn sie ihnen galt.

Colin runzelte die Stirn. »Ich dachte, wir wären Kumpel«, sagte er.

»Was war es?«, fragte sie nach einem Moment.

»Was war was?«

»Was hast du ausgeliefert, das diesen ganzen Ärger wert ist?« Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Sie wusste, dass sie wieder reingehen sollte, um Billy zu finden. Aber was dann? Sollte sie Colin ans Messer liefern? Billy würde ihn umbringen – oder so gut wie.

Colin zog ein letztes Mal an seiner Kippe und schnipste sie dann in die Dunkelheit. »Hab nicht gefragt. Ich … Warte kurz.« Sein Optik vibrierte und er griff danach. Einen Sekundenbruchteil später ertönte ein hallender Schuss. Colins Kopf wurde nach hinten gerissen und er sank lautlos in sich zusammen. Sein Optik landete kurz vor ihm auf dem Boden.

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