Buch lesen: «Reisen zur Entdeckung des Nils»
Über den Autor
James Bruce (1730 – 1794) kam als Sohn wohlhabender schottischer Adeliger in Kinnaird zur Welt. Er versuchte sich zunächst in den Rechtswissenschaften und im Weinhandel. Nach einjähriger Ehe wurde er Witwer, reiste daraufhin durch Europa und betrieb autodidaktische Studien. Nach seiner Rückkehr aus Afrika sah er sich aufgrund der nicht geleisteten Erstentdeckung der Nilquellen zahlreichen Anfeindungen ausgesetzt und zog sich bis zu seinem Lebensende auf seine Güter zurück.
Herbert Gussenbauer wurde 1940 geboren und ist promovierter Ethnologe und Afrikanist. Er lebt als freischaffender Autor in Wien und ist Mitarbeiter des Österreichischen Rundfunks. In der Edition Erdmann ist von ihm außerdem u.a. Georg Schweinfurths Im Herzen von Afrika erschienen.
Zum Buch
Die Frage nach dem Ursprung des Blauen Nils ist so alt wie die Geografi e selbst. Der Mann, der die endgültige Antwort liefern soll, ist der schottische Abenteurer James Bruce, der mit seiner kleinen Expedition vom Roten Meer bis ins umkämpfte Kaiserreich äthiopien zieht. Am 4. November 1770 erreichen sie die erste Quelle des Nils am Fuße des Berges Geesh. Aus einer mitgebrachten Schale einer Kokosnuss schöpft Bruce Wasser und trinkt mit seinen zwei Begleitern zu Ehren seiner Majestät auf diesen historischen Augenblick.
Bei den Römern war die Frage nach den Quellen des Nils – „caput Nili quaerere“ – sprichwörtlich ein unmöglich zu bewältigendes Unterfangen. Ein Mann, der von der tatsächlichen Lösung des Problems umgetrieben wurde, war der schottische Adelige, Exzentriker und Privatgelehrte James Bruce. Vom Roten Meer bis nach äthiopien, vorbei an den politischen Wirren und Kriegsgebieten Afrikas und den Herrschaftsbereichen raffgieriger Regenten, führte Bruce seine Expedition am 4. November 1770 erfolgreich zu den Quellen des Blauen Nils. Bis heute sorgt die Diskussion um die „wahre“ Erstentdeckung der Nilquellen in der Forschung für Uneinigkeit, denn bis ins 17. Jahrhundert hinein werden andere potenzielle Vorläufer angegeben. Dennoch war James Bruce der Erste, der bei seinem Erkundungsvorhaben systematisch mit den Mitteln der modernen Wissenschaft vorging und so die Epoche der europäischen Erforschung Afrikas wesentlich mitbegründete.
DIE 100 BEDEUTENDSTEN ENTDECKER
James Bruce
James Bruce
Reisen zur
Entdeckung des Nils
Durch das unbekannte Bergland
Abessiniens zur Quelle des Blauen Nils
1768-1773
Herausgegeben
von Herbert Gussenbauer
Mit 31 Abbildungen und Karten
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
Es ist nicht gestattet, Abbildungen und Texte dieses Buches zu scannen, in PCs oder auf CDs zu speichern oder mit Computern zu verändern oder einzeln oder zusammen mit anderen Bildvorlagen zu manipulieren, es sei denn mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012
Der Text wurde behutsam revidiert
nach der Ausgabe Edition Erdmann Stuttgart und Wien, 1987
Lektorat: Dietmar Urmes, Bottrop
Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH
nach der Gestaltung von Nele Schütz Design, München
Bildnachweis: akg-images GmbH, Berlin/Erich Lessing
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main
ISBN: 978-3-8438-0314-4
www.marixverlag.de/Edition_Erdmann
INHALT
Vorwort des Herausgebers
Die lange Reise eines exzentrischen Schotten James Bruce und die Suche nach den Quellen des Blauen Nils
Reisen zur Entdeckung des Nils
1. Kapitel
Aufenthalt in Jidda und abenteuerliche Schiffsreise im Roten Meer
2. Kapitel
Unerfreuliches und gefährliches Verweilen in Massaua
3. Kapitel
Aufbruch ins Landesinnere und beschwerliche Reise nach Adowa
4. Kapitel
Von Adowa nach Gondar, der Haupt- und Residenzstadt Abessiniens
5. Kapitel
Aufnahme und Verrichtungen in Gondar
6. Kapitel
Sitten und Gebräuche in Abessinien
7. Kapitel
Der Verfasser wird Statthalter und versucht, die Quellen des Nils zu erreichen – Politische Verwirrung im Land
8. Kapitel
Die zweite Reise zu den Quellen des Nils
9. Kapitel
Endlich am Ziel
10. Kapitel
Chaos in Gondar und die Rückkehr des Königs
11. Kapitel
Der Verfasser verlässt die Hauptstadt und beginnt seine Heimreise
Zeittafel
Editorische Notiz
Weiterführende Literatur
Empfehlungen für Leser, die mehr über James Bruce wissen wollen
VORWORT DES HERAUSGEBERS
Die lange Reise eines exzentrischen Schotten James Bruce und die Suche nach den Quellen des Blauen Nils
Alt wie die Geschichte der abendländischen Zivilisation ist auch die Suche nach den Quellen des Nils. Bereits Herodot, der Vater der Historiografie und Erdkunde, stellte die ersten Fragen, Aristoteles schrieb eine Abhandlung über das jahreszeitliche Steigen und Fallen des Flusses und sein Schüler Alexander der Große schickte »äthiopische Männer« aus, um die geheimnisvollen Quellen des Stromes zu suchen.
»… so gibt es doch nichts, was ich lieber kennenlernen möchte als die so viele Jahrhunderte lang verborgenen Anfänge des Stromes und seine unbekannten Quellen; man eröffne mir die sichere Aussicht, die Nilquellen zu sehen, und ich will vom Bürgerkrieg ablassen«, sagte Julius Cäsar, und ein Jahrhundert später schickte Kaiser Nero zwei Zenturionen auf eine Expedition zu ihrer Entdeckung aus – vergeblich. »Caput Nili quaerere« – das Suchen nach der Nilquelle – galt im Römischen Reich als Synonym für das Lösen einer unlösbar erscheinenden Aufgabe. Irgendwo tief im Inneren des afrikanischen Kontinents, bei den geheimnisumwitterten Mondbergen, lag der Ursprung des Stroms der Ströme, der Lebensader Ägyptens.
Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der Abay, der Blaue Nil, als der Hauptfluss angesehen und seine Quellen im äthiopischen Hochland nahe dem Tanasee als die »wahren« Quellen des Leben spendenden Stromes. Was lag auch näher, als in dem gebirgigen Land die seit dem Altertum legendären Mondberge zu erblicken. Die Kenntnis von den großen Seen und den mächtigen Bergriesen tief im Süden des Kontinents gelangte erst spät nach Europa. Wer hätte auch vermutet, dass die Quellen des Weißen Nils sogar noch südlich des Äquators zu suchen seien?
Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnten die letzten Rätsel der Nilquellen Schritt für Schritt gelöst werden, dafür stehen die Namen der Forscher Speke, Stanley, Grant, Baker und Burton. Und erst Mitte August 1898 gelangte der deutsche Arzt und Forschungsreisende Richard Kandt zum Ursprung des Rukurara in 2440 m Höhe, dessen Quelle heute als die am entferntesten von der Mündung des Nils gelegene gilt und von welcher das Wasser eine Strecke von 6671 km bis zur Küste des Mittelmeers zurücklegt: »… ein kleiner feuchter Kessel am Ende einer Klamm, aus deren Boden die Quelle nicht sprudelnd, sondern Tropfen für Tropfen dringt: Caput Nili … Quelle des Nils.«
Der schottische Landedelmann James Bruce wurde am 14. Dezember 1730 in Kinnaird, Grafschaft Sterlingshire, geboren. Wie zu dieser Zeit in den gehobenen Gesellschaftskreisen üblich, wurde er in vornehmen englischen Schulen, darunter in Harrow, erzogen. Seinen ursprünglichen Plan, Geistlicher zu werden, gab er bald zugunsten eines Jurastudiums in Edinburgh auf, verlor aber auch daran schnell das Interesse. Von seiner nächsten Idee, sich als Geschäftsmann in Indien zu versuchen, brachte ihn 1754 die rasche Ehe mit der Tochter eines vermögenden Londoner Weinhändlers ab. Die Frau starb schon im darauf folgenden Jahr in Paris.
Die nächsten Jahre verbrachte Bruce vorwiegend auf Reisen durch Europa und mit autodidaktischen Studien der mathematischen und astronomischen Wissenschaftszweige, die ihn immer schon interessiert hatten und auf seinen späteren Reisen und Erkundungsfahrten auch von immensem Vorteil waren, da sie ihn in den Stand setzten, präzise Ortsbestimmungen mithilfe seiner Instrumente vorzunehmen und damit auch die Kartografie der von ihm durchforschten Gebiete ein gutes Stück weiterzubringen.
Während eines Aufenthalts in Andalusien begann sich Bruce für die Geschichte der Araber in Spanien zu begeistern, und dies brachte ihn auf die Idee, darüber ein wissenschaftliches Werk zu verfassen. Er ließ den Plan aber wieder fallen, als ihm die Einsicht in die Dokumente und Handschriften des Escorial verweigert wurde.
1758 starb sein Vater, und James Bruce war der Alleinerbe der ausgedehnten Ländereien in Kinnaird. Die auf seinem Grund und Boden geförderte Kohle brachte ihm ein beträchtliches Vermögen und ein regelmäßiges Einkommen ein: »Ich war im Begriff, mich auf ein von meinen Vorfahren ererbtes Landgut zu begeben, um mein Leben mit Studieren und Nachdenken zu verbringen, weil es nicht in meiner Macht zu stehen schien, eine tätigere Lebensweise zu ergreifen …«, lesen wir in einer autobiografischen Notiz. James Bruce war reich, unabhängig und hatte genügend Zeit, sich ausschließlich seinen Neigungen und Liebhabereien zu widmen.
Was ihn plötzlich veranlasste, der britischen Regierung die Eroberung des spanischen Flottenstützpunktes Ferrol vorzuschlagen, dazu einen strategischen Plan auszuarbeiten und sich selbst als Kommandanten anzubieten, lässt sich heute kaum mehr klären. Jedenfalls kam er dadurch in Kontakt mit dem königlichen Minister Lord Halifax, der zwar die absurde kriegerische Unternehmung ablehnte, Bruce aber die vakant gewordene Stelle eines englischen Konsuls in Algier anbot, verbunden mit dem Auftrag, Zeichnungen und Dokumentationen der antiken Baulichkeiten in Nordafrika und im Vorderen Orient für die königlichen Sammlungen anzufertigen. In den Gesprächen mit Halifax wurde auch das Thema der unentdeckten Nilquellen und der Möglichkeit einer Reise dorthin angeschnitten, eine Idee, die James Bruce fortan nicht mehr aus ihrem Bann ließ und sein weiteres Leben nachhaltig bestimmte: »Wir kamen auch auf die Entdeckung der Quellen des Nils, der Minister äußerte aber eine Art von Misstrauen dabei, als wenn man solche von einem Reisenden, der bereits mehr Erfahrung hätte, erwarten müsse. Ob er mich dadurch nur desto mehr anzureizen suchte, kann ich nicht sagen.«
Bruce verließ im Sommer 1762 die Britische Insel und sah erst zwölf Jahre später seine Heimat wieder. Vor Antritt seines Dienstes in Nordafrika hielt er sich noch fast ein Jahr lang in Italien auf, studierte römische Ruinen und Altertümer, übte sich im Zeichnen – vorwiegend mithilfe einer Camera obscura – und schrieb Artikel über das antike Rom und Paestum. Hier war es auch, wo er Luigi Balugani in seinen Dienst nahm, einen hervorragenden jungen Zeichner und Architekten aus Bologna, der ihn künftig auf allen seinen Reisen begleitete, bis er 1771 in Gondar, der Hauptstadt Äthiopiens, am Fieber starb. Es ist anzunehmen, dass ein Großteil der Bruce’schen Zeichnungen aus der Feder und dem Zeichenstift dieses jungen Italieners stammt. Umso befremdender mutet es an, dass Bruce dieses Mannes in seinem Reisewerk kaum gedenkt, auch seinen Tod nur mit wenigen Worten und wie beiläufig erwähnt.
Im März 1763 trat Bruce schließlich seinen Dienst als Diplomat in Algier an; über zwei Jahre blieb er in dieser Funktion – mit wenig Geschick und Eifer, wie es scheint. Briefe berichten von endlosen Streitereien im diplomatischen Korps, sein Nachfolger auf dem Posten beklagte sich bitter über das von Bruce hinterlassene Chaos.
Seine Zeit verbrachte er hauptsächlich mit dem Erlernen der arabischen und der griechischen Sprache, auch die Grundbegriffe des Amhara und des Tigre, zweier wichtiger äthiopischer Idiome, eignete er sich im Selbststudium an. Vor allem aber verschaffte er sich beim königlichen Wundarzt Ball, der ebenfalls im Konsulatsgebäude residierte, profunde medizinische Kenntnisse. In seinen eigenen Worten: »Auf diese Art unterrichtet, schmeichle ich mir, kein größeres Sterben unter den Mohammedanern und Heiden angerichtet zu haben, als man einigen meiner medizinischen Mitbrüder unter ihren Nebenchristen in England zuschreibt.«
Im August 1765 legte Bruce sein diplomatisches Amt nieder und widmete sich fortan seiner weiteren Aufgabe, der Aufnahme der Altertümer des südlichen Mittelmeerraumes. Ein abenteuerlicher und produktiver Zeitabschnitt im Leben des James Bruce sollte beginnen. Ausgedehnte Reisen führten ihn gemeinsam mit Balugani durch Tunesien, in die Berge des Aurès, nach Tripolitanien, in die Cyrenaika und nach Bengasi. Zeichnend und dokumentierend zog Bruce durch unwirtliche Wüsteneien; er wurde vom Fieber geschüttelt, und zweimal – bei einem Überfall räuberischer Beduinen und bei einem Schiffbruch an der libyschen Küste – konnte er nur mit knapper Not das nackte Leben retten. Seine Instrumente gingen dabei zum großen Teil verloren.
Der zweite Teil seines Auftrags führte Bruce nach Kleinasien. Über Kreta und Rhodos gelangte er nach Sidon und Aleppo, von hier zu den antiken Stätten von Byblos, Baalbek und Palmyra. Seine zeichnerischen Arbeiten über diese Ruinenstädte waren von bleibendem Wert für die Nachwelt, wenn auch heute nicht mehr festgestellt werden kann, wie groß der Anteil seines oben erwähnten Assistenten Balugani an diesen Werken war. Nach Bruce’ Rückkehr nach England wurden die Bilder jedenfalls mit Wohlwollen aufgenommen und ihm der Dank des Königshauses für seine dokumentarische Tätigkeit ausgesprochen.
Von besonderer Bedeutung in dieser Zeit war jedoch seine Freundschaft mit Dr. Russel, dem Arzt der englischen Faktorei in Aleppo, der Bruce nicht allein von seinen hartnäckigen Fieberanfällen kurierte, sondern ihm auch zusätzlich medizinische Fähigkeiten vermittelte. James Bruce konnte auf seiner künftigen Forschungsreise durchaus als Arzt auftreten, bei den unsicheren und anarchischen Zuständen in den innerafrikanischen Ländern ein nicht hoch genug zu schätzender Vorteil.
Der Regierungsauftrag war beendet. Man schrieb das Jahr 1768, und Bruce hatte seine Nilquellen nicht vergessen. In fieberhafter Eile begann er in der syrischen Hafenstadt Sidon mit den Vorbereitungen zu der großen Reise. Bruce hatte ausgezeichnete Beziehungen zu maßgeblichen Persönlichkeiten seiner Zeit. Spiegelteleskope kamen aus London, Präzisionsuhren aus Frankreich, und ein Quadrant wurde sogar durch die persönliche Vermittlung Ludwigs XV. aus der Militärakademie in Marseille nach Alexandrien abgeschickt.
Am 15. Juni segelte Bruce auf einem französischen Schiff von Sidon ab, und nach einem kurzen Halt auf Zypern ging er fünf Tage später in Alexandria von Bord, ein Hüne von Gestalt – fast zwei Meter groß eine auffallende, imposante Erscheinung in arabischer Kleidung und mit der Mentalität und den Sitten der einheimischen Bevölkerung vollkommen vertraut. »Yagoube der Arzt« war für das große Abenteuer bereit.
Mit James Bruce beginnt die Epoche der wissenschaftlichen Erkundung Afrikas, die Zeit der großen Entdeckungsreisen besessener Forscher in das Innere des Schwarzen Kontinents. Mit Fug und Recht können wir ihn als ersten neuzeitlichen Afrikareisenden mit rein wissenschaftlichen Interessen betrachten. Sein besonderes Verdienst ist die Erforschung weiter Teile Äthiopiens und die Eröffnung einer neuen Epoche der Äthiopienforschung.
Allerdings muss festgehalten werden, dass Äthiopien zu dieser Zeit keine absolute Terra incognita mehr war. Seit dem vierten Jahrhundert christianisiert, war Äthiopien vierhundert Jahre später von dem sich rasch ausbreitenden Islam umgeben und von der Außenwelt fast hermetisch abgeschlossen. Jahrhundertelang geisterte die Legende vom Priesterkönig Johannes durch das mittelalterliche Europa, die Geschichte von einem unermesslich reichen christlichen Herrscher im tiefen Afrika.
Erst 1439 trat das Land aus seiner Isolation; Vertreter der äthiopischen Kirche nahmen am Konzil in Rom teil. 1482 erreichte der römische Reisende Battiste d’Imola das Land, und wenige Jahre später war es der portugiesische Gesandte Pedro da Covilhão, der an den äthiopischen Hof kam. Es entspann sich ein reger Briefwechsel zwischen Portugal und dem afrikanischen Kaiserreich, das dringend um Hilfe gegen die immer stärker werdenden Bedrohungen durch die islamischen Nachbarn an seinen Grenzen bat. Eine weitere Gesandtschaft Portugals weilte von 1520 bis 1526 am äthiopischen Hof, doch erst 1541 landeten Stefan und Christoforo da Gama, Söhne des großen Entdeckungsreisenden Vasco da Gama, mit vierhundert Soldaten zur Unterstützung des christlichen Reiches an der Küste des Roten Meeres. In der Schlacht gegen Mohammed Granj, den Sultan von Adel (heute Somalia), ließ Christoforo sein Leben. Doch letztlich war das Kriegsglück aufseiten der Äthiopier und ihrer portugiesischen Verbündeten. Die Gefahr einer mohammedanischen Eroberung konnte abgewehrt werden. Im Gefolge der Soldaten kamen die Jesuiten ins Land und begannen mit ihrer fast hundert Jahre dauernden und teilweise recht erfolgreichen Missionstätigkeit.
Unter Kaiser Susenyus wurde zu Beginn des 17. Jahrhunderts der Katholizismus schließlich zur Staatsreligion erhoben. Die Folge waren grausame Glaubenskriege und Gemetzel von unvorstellbaren Ausmaßen, die erst ihr Ende fanden, als sich Kronprinz Fasiladas gegen seinen Vater erhob und 1632 die Macht an sich riss, Gondar zur neuen Hauptstadt machte und alle katholischen Priester und Missionare entweder töten oder aus dem Land jagen ließ. Fasiladas kehrte zum orthodoxen äthiopischen Glauben zurück, und für die abendländische Welt sank das Reich wieder in Vergessenheit. Die Kontakte mit Europa rissen ab, und Äthiopien wurde erneut zu einer unbekannten christlichen Insel im Meer des Islam. Für kurze Zeit erlebte das Land eine neue wirtschaftliche und kulturelle Blüte, jedoch sanken die äthiopischen Regenten bald zu bloßen Schattenkaisern herab, und das Land wurde von den mächtigen Statthaltern der verschiedenen Provinzen regiert, die nur ihre eigenen Interessen verfolgten, sich gegenseitig bekriegten und das äthiopische Reich in Anarchie versinken ließen.
Dies war die Situation im Land, als James Bruce seine Reise in das geheimnisvolle Kaiserreich am Osthorn Afrikas antrat. (Bruce spricht allerdings vom »König«, wenn er den Herrscher Äthiopiens meint.)
Fast fünf Jahre lang war der Forscher unterwegs, ehe er im März 1773 in Marseille wieder europäischen Boden betrat. Keine Nachricht war während dieser Zeit aus den unwirtlichen Gegenden in seine Heimat gelangt. Ein einziger Brief – er enthielt einen Wechsel über einen Geldbetrag, den sich Bruce in Gondar von einem Griechen geliehen hatte – fand seinen Weg nach Kairo. Von seinen Freunden und Verwandten in England wurde er für tot gehalten und sein Besitz schließlich unter die Erben verteilt, was nach seiner Rückkehr eine Flut von Prozessen hervorrief, ehe James Bruce wieder über sein Vermögen verfügen konnte.
Doch dies war nicht der einzige Schicksalsschlag, der den ehrgeizigen Forscher traf.
Es gilt heute als erwiesen, dass James Bruce nicht der erste Europäer an den Quellen des Blauen Nils war. Schon 1613 stand der Jesuitenpater Pedro Páez – möglicherweise auch noch einige andere seiner Glaubensbrüder – an diesem Ort, und einige Jahre später wurden die Berichte darüber auch von Balthasar Tellez und Athanasius Kircher publiziert. Doch die Schriften der Jesuiten waren der europäischen Öffentlichkeit nicht allgemein bekannt, denn die meisten von ihnen waren in den Archiven des Ordens verborgen.
Aber auch auf der von allem unnötigen und fantastischen Zierrat befreiten Afrikakarte des französischen Geografen D’Anville aus dem Jahre 1761 ist die Quelle des Blauen Nils wie auch der genaue Verlauf des Flusses durchaus schon an der richtigen Stelle eingezeichnet, und auf welche Angaben hätte sich der Schöpfer dieser Karte stützen sollen, wenn nicht auf die Angaben der portugiesischen Jesuiten, die sich ja überdies Jahrzehnte in der damaligen Hauptstadt Gorgora unmittelbar am Nordufer des Tanasees aufhielten, sich also noch näher an der Quelle befanden als James Bruce, der aus der Stadt Gondar anreiste. Die Patres hatten überdies aufgrund der relativ stabilen politischen Lage Äthiopiens zu dieser Zeit auch keinerlei Schwierigkeiten bei einer Reise zu den der einheimischen Bevölkerung durchaus bekannten Quellen.
Ob Bruce schon vor Antritt seiner Reise von dem Besuch der Jesuiten an den Nilquellen Kenntnis hatte und dies bewusst verschweigt oder ob er tatsächlich der Meinung war, den Ruhm der Erstentdeckung für sich in Anspruch nehmen zu können, wissen wir nicht und wird auch wohl nie geklärt werden. Seine Zeitgenossen schlossen sich eher der ersten Meinung an.
Die Schriften über die Reise von Pater Páez wurden ihm jedenfalls bei seiner Rückkehr in Italien vorgelegt, und James Bruce unternahm verzweifelte Versuche – vor allem in seinem erst viel später erscheinenden Reisebericht diese Beschreibung als Irrtum darzustellen. Anhand der unrichtigen Orts- und Entfernungsangaben bemüht er sich, die Jesuiten als Lügner zu entlarven, übersieht dabei jedoch, dass es den portugiesischen Patres nicht um Entdeckungen oder wissenschaftliche Untersuchungen ging, sie auch dazu nicht über das notwendige technische Instrumentarium verfügten, sondern dass sie einzig und allein an der Bekehrung der Äthiopier zum katholischen Glauben interessiert waren. Dass ihnen dabei die Entdeckung der Quellen des Blauen Nils gleichsam in den Schoß fiel, war das Unglück des verzweifelten James Bruce. Die präzise geografische und astronomische Bestimmung des Ortes ist allerdings das bleibende Verdienst des schottischen Reisenden.
Über ein Jahr hielt sich Bruce in Italien und in Frankreich auf, ehe er nach England zurückkehrte. Die Gründe für diese Verzögerung sind nicht leicht zu erkennen. Nach Bruce selbst war es seine angegriffene Gesundheit, die ihn zwang, sich in wärmerem Klima von den Strapazen seiner langen Reise zu erholen. Vielleicht waren es aber auch doch tiefere Ursachen, etwa der Schock über die portugiesischen Schriften und die Angst vor einer Blamage in seiner Heimat, die ihn seine Rückkehr so lange aufschieben ließen.
In England erlebte er vorerst doch einen triumphalen Empfang, er wurde vom König zur Audienz geladen und zum Mitglied der Royal Geographical Society ernannt. Bald jedoch schlug die anfängliche Begeisterung in das Gegenteil um, die Kritiker des Forschers gewannen die Oberhand. Allzu fantastisch klangen die Erzählungen des James Bruce. An Kleinigkeiten, wie etwa der Erwähnung des Verzehrs von rohem Rindfleisch durch die Äthiopier, entzündete sich das Feuer des Spotts, das umso höher loderte, je länger Bruce mit der Herausgabe seiner Reiseberichte zögerte. An Kaffeehaustischen wurden die Erlebnisse des Forschers belächelt, und Bruce versäumte es, den Sticheleien durch die Publikation von wissenschaftlichen Artikeln entgegenzutreten.
Manche seiner Kritiker verstiegen sich sogar zu der Behauptung – gestützt auf die angebliche Aussage eines seiner ehemaligen Bediensteten –, dass James Bruce niemals in Äthiopien und bei den Quellen des Nils gewesen sei. Nun, diese Möglichkeit ist allerdings völlig auszuschließen. Denn abgesehen davon, dass einige der Angaben und Beschreibungen Bruce’ später korrigiert bzw. präzisiert werden mussten, kann sich die Nachwelt auf einige eingeborene Zeugen berufen, die mit dem britischen Forscher, mit »Yagoube dem Arzt«, wie sie ihn nannten, während dessen Äthiopienaufenthalts zusammengetroffen waren.
Erst nach dem Tod seiner zweiten Frau machte sich James Bruce an die Niederschriften seiner Reiseaufzeichnungen. Das Werk erschien endlich im Jahre 1790 in Edinburgh, erst siebzehn Jahre nach seiner Rückkehr aus Afrika. Sofortige Übersetzungen ins Deutsche und Französische folgten in Leipzig 1790 und 1791 sowie in Paris 1790 und 1792. Waren es tatsächlich die langjährige Krankheit seiner Frau und die Gerichtsstreitigkeiten um sein Vermögen, die ihn an einer früheren Abfassung hinderten, wie er selbst es behauptete?
Selten hat ein Reisebericht so viele Kontroversen ausgelöst wie das Werk des James Bruce. Obwohl die Bücher für die breite Masse geschrieben wurden und nicht für die Gelehrten seiner Zeit, hat der Autor jedes nur mögliche und ihm halbwegs zugängliche Material in seinem Werk verarbeitet. Zahllos sind die Themenkreise, die er anschneidet. Endlos verbreitet er sich über die Geschichte Äthiopiens – ein nicht hoch genug anzurechnendes Verdienst des Reisenden –, Seite um Seite ist mit Königslisten und Ereignissen während der jeweiligen Regierungszeit gefüllt. Anhand von Dokumenten, die ihm in Gondar zur Verfügung standen und von denen er eine erkleckliche Anzahl selbst mit nach Europa bringen konnte, Originale wie Kopien, erarbeitete er eine minutiöse und noch heute gültige Chronik des christlichen Reiches in Afrika.
Sprunghafte Themenwechsel und eine verwirrende Fülle von Namen und Personen machen das Lesen des Originals zu einer mühseligen Arbeit. Brillante, scharfsinnige Passagen mit starker wissenschaftlicher Aussagekraft wechseln mit oberflächlichen und fehlerhaften Beobachtungen.
Seitenlang setzt sich Bruce mit den Schriften der portugiesischen Jesuiten auseinander, oft unqualifizierte Seitenhiebe austeilend – ein verzweifelter Kampf um die Priorität der Entdeckung »seiner« Nilquellen.
Beim Lesen des höchst egozentrisch abgefassten Werkes entsteht durchaus der Eindruck, als sei Bruce allein durch Äthiopien gezogen. Tatsächlich jedoch reiste er mit zehn von ihm besoldeten Dienern, darunter zwei Irländern, die von einem englischen Regiment in Oran desertiert waren und von denen einer in Gondar ermordet wurde. Der Architekt Balugani starb, wie schon berichtet, am Fieber. Im Vorwort des Originals wird lediglich kurz erwähnt, dass Bruce diese Reisegefährten hatte, im Text kommen sie nicht mehr vor.
Es gelang James Bruce nicht, sich mit seinen Reiseerzählungen zu rehabilitieren und den diversen Anschuldigungen einen Riegel vorzuschieben. Eher das Gegenteil war der Fall, und eine neue Verleumdungskampagne wurde in England gegen den Forscher in Szene gesetzt.
Die Verdienste des James Bruce sind heute dennoch unbestritten, wenn es ihm auch nicht gelungen ist, als erster Europäer an der Quelle des Blauen Nils zu stehen. Die zahllosen Abenteuer und Gefahren, die der wagemutige Forscher auf seiner langen Reise zu bestehen hatte, waren ganz gewiss nicht umsonst.