GEWALT, GIER UND GNADE

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GEWALT, GIER UND GNADE
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Jakob Saß

GEWALT, GIER UND GNADE

Der KZ-Kommandant Adolf Haas und sein Weg nach Wewelsburg und Bergen-Belsen

Mit Vorworten von

Kirsten John-Stucke, Leiterin des Kreismuseums Wewelsburg, und Thomas Rahe, wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen


„Es gibt die Ungeheuer, aber sie sind zu wenig, als dass sie wirklich gefährlich werden könnten.

Wer gefährlicher ist, das sind die normalen Menschen.“

Primo Levi (Überlebender des KZ Auschwitz)

„Gerechtigkeit ist nicht allein die Verhängung von Strafe, sondern auch die Verbreitung von Wahrheit.“

Efraim Zuroff (Historiker, Direktor des Simon Wiesenthal Centers in Jerusalem)

Den Opfern von Adolf Haas gewidmet.

In Gedenken an Heinrich Schönker, verstorben im Januar 2019.

Für Victoria und meine Eltern.

Titelbild: Adolf Haas im Rang eines SS-Obersturmführers, ca. 1940-1941;

Kreismuseum Wewelsburg (Fotoarchiv)

IMPRESSUM

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-86408-246-7 (Print) / 978-3-86408-251-1 (E-Book)

Korrektorat: Achim Klede

Copyright: Vergangenheitsverlag, Berlin / 2019

www.vergangenheitsverlag.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund, www.readbox.net

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Inhalt

Karte des Deutschen Reiches mit Lebensstationen von Adolf Haas

Vorwort von Kirsten John-Stucke, Leiterin des Kreismuseums Wewelsburg

Vorwort von Thomas Rahe, wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen

Prolog: Der Vergessene – Warum noch ein „Nazi-Buch“?

Editorische Notiz

1. Der Bäcker und Soldat: Die ersten Lebensjahre ohne Parteibuch und SS-Uniform, 1893–1932

1.1 Der Geselle: Kindheit und Ausbildung, 1893–1913

1.2 Der Verteidiger: Der kurze Erste Weltkrieg in Tsingtau (China), 1913–1914

1.3 Der Gefangene: Hunger, Langeweile und deutsche Kultur in Osaka, Tokushima und Bandō (Japan), 1914–1920

1.4 Der Konjunkturritter: Hoffnungen und Krisen in den Weimarer Jahren, 1920–1932

2. Der Aufsteiger: Karriere in der nationalsozialistischen Bewegung und Allgemeinen SS, 1932–1940

2.1 Der Abgeordnete: Kurze politische Karriere in der Hachenburger NSDAP, 1932–1933

2.2 Der „Draufgänger“: Steile „Karriere“ in der Allgemeinen SS, 1933–1934

2.3 Der Erpresser: Habsucht und Haft,

2.4 Der hauptamtliche SS-Führer: Weg mit der Bäckerschürze, rein in die Uniform, 1934–1937

2.5 Der Überschätzte: Karrierestillstand und mangelhafte Leistungen in der „SS-Führerschule Dachau“,

2.6 Der Trommler: „Polizeiverstärkungen“ in der Sudetenkrise,

2.7 Der Zerstörer: Das Novemberpogrom im Westerwald,

3. Der Schutzhaftlagerführer: KZ-Dienst auf Probe in Sachsenhausen, 1940

3.1 Der Neuling: Durch die „Dachauer Schule“ zur Waffen-SS

3.2 Der Schützling: Korruption und Selbstbereicherung unter Hans Loritz

4. Der Mörder und Gönner: Gewalt, Tod und KZ-Kunst im KZ Niederhagen/Wewelsburg, 1940–1943

4.1 Der „Herrgott von Wewelsburg“: Ein neues KZ für Himmlers Privatprojekt, 1940–1941

4.2 Der Sklaventreiber: Zwangsarbeit und Prügel, 1941–1942

4.3 Der Massenmörder: Willkür und „Vernichtung durch Arbeit“, 1942–1943

4.4 Der Kunstliebhaber: Freizeit, Affären und KZ-Kunst

5. Der bequeme Kommandant: Willkür und Auftragsmalerei im Konzentrationslager Bergen-Belsen, 1943–1944

5.1 Der „Unqualifizierte“: Der Aufbau des „Aufenthaltslagers Bergen-Belsen“

5.2 Kein „Judenfresser“? Die Teillager des „Aufenthaltslagers“ und die Willkür des Kommandanten

5.3 Der „große Angeber“: Tanzvergnügen, Gaumenschmaus und Auftragsmalerei

5.4 Der Gemaßregelte: „Schmutzige Verleumdungen“ und der Bilderskandal

5.5 Der Gestresste: Als sich Bergen-Belsen in ein „typisches“ Konzentrationslager verwandelte

5.6 Der Abgeschobene: Kommandantenwechsel und Inferno

6. Der alte Soldat: Die letzten Kriegstage, 1944–1945

6.1 Der beurlaubte Panzergrenadier: Das SS-Panzer-Grenadier-Ersatz-Bataillon 18 als Sammelbecken der Lager-SS und Abschied in Hachenburg

6.2 Der Gerichtsbeisitzer: Schauprozess im KZ Neuengamme und das Ende des „Dritten Reiches“

7. Der Gesuchte: Die Nachkriegsjustiz und die erfolglose Fahndung nach dem verschwundenen KZ-Kommandanten, 1945–heute

Epilog: Der ganz „normale Nazi“ – Adolf Haas als Warnung

Danksagung

Abkürzungen

Anmerkungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Register

Dienstgrade in der SS und Laufbahn von Adolf Haas

Kurzer Lebenslauf von Adolf Haas

Bildnachweis

Karte des Deutschen Reiches mit Lebensstationen von Adolf Haas


1 Cuxhaven – Ausbildung zum Matrosenartilleristen in der „Stammabteilung der Marineartillerie-Abteilung Kiautschou“: ca. 10.1913–12.1.1914 (Kap. 1.1 und 1.2)

2 Hamburg-Langenhorn – Reservist beim SS-Panzergrenadier-Ersatz-Bataillon 18: ab ca. 16.3.1945 (Kap. 6.2)

3 Hamburg-Neuengamme – Gerichtsbeisitzer eines SS- und Polizeigerichtes im KZ Neuengamme: 14.4.1945 (Kap. 6.2)

4 Bergen-Belsen (bei Celle) – Kommandant von Bergen-Belsen: 7.5.1943–2.12.1944 (Kap. 5)

5 Oranienburg – Ausbildung zum Schutzhaftlagerführer im KZ Sachsenhausen: 1.3.1940–1.6.1940 (Kap. 3)

6 Berlin – Antrittskonferenz von Oswald Pohl mit 14 KZ-Kommandanten: 24.4.1942 (Kap. 4.3)

7 Niederhagen/Wewelsburg – Lagerführer und später Kommandant von Niederhagen/Wewelsburg: 17.6.1940–7.5.1943 (Kap. 4)

8 Wuppertal-Barmen – Arbeit als Konditor: ca. 1911–1913 (Kap. 1.1)

9 Siegen – Geburtsort: 14.11.1893 (Kap. 1.1)

10 Hachenburg – Kindheit und Schulzeit: ca. 1894–1908 (Kap. 1.1); Familiengründung, Tätigkeit als Bäcker und SS-Führer: 1920–1936, 1937–1940 (Kap. 1.4 und 2); Fronturlaub und Abschied von Familie: 15.3.1945 (Kap. 6.1)

11 Westerburg – Führer des III. Sturmbanns der 78. SS-Standarte: 1937 (Kap. 2.5)

12 Mogendorf – Beteiligung am Novemberpogrom: 10.11.1938 (Kap. 2.7)

 

13 Limburg (Lahn) – Führer des III. Sturmbanns der 78. SS-Standarte: 1935 (Kap. 2.4)

14 Wiesbaden – Ausbildung zum Konditor: ca. 1908–1911 (Kap. 1.1); SS-Führer des I. Sturmbannes der 78. SS-Standarte, auch kurzzeitiger Wohnsitz: 1936 (Kap. 2.4)

15 Mainz – Untersuchungshaft: 18–27.7.1934 (Kap. 2.3)

16 Bad Kreuznach – Arbeit als Konditor: ca. 1911–1913 (Kap. 1.1)

17 Mannheim – Arbeit als Konditor: ca. 1911–1913 (Kap. 1.1)

18 München-Dachau – Lehrgang in der SS-Führerschule Dachau: 10.10.–10.11.1937 (Kap. 2.5)

Vorwort von Kirsten John-Stucke, Leiterin des Kreismuseums Wewelsburg

Mit der vorliegenden Biografie über Adolf Haas, den Lagerkommandanten des KZ Niederhagen/Wewelsburg und des KZ Bergen-Belsen, stellt Jakob Saß einen wichtigen Beitrag für die Forschungen zu nationalsozialistischen Konzentrationslagern und ihrer Führungsriege vor. Zu Adolf Haas, der in Sachsenhausen ausgebildet wurde, um dann zunächst in Wewelsburg und später in Bergen-Belsen KZ-Kommandant zu werden, gab es bisher keine eigenständige Studie, in der seine widersprüchliche Persönlichkeit untersucht worden ist, zu dünn und unübersichtlich erschien lange Zeit die Aktenlage. Es ist daher das Verdienst von Jakob Saß, die wenigen erhaltenen Dokumente zusammenzutragen, akribisch auszuwerten und zusammen mit den in den Gedenkstätten gesammelten Erinnerungsberichten der Überlebenden aus Wewelsburg und Bergen-Belsen sowie weiteren Zeitzeugenberichten zusammen zu bringen. Es gelingt ihm auf diese Weise, die Biografie von Adolf Haas aus unterschiedlichen Perspektiven heraus intensiv zu durchleuchten und zu bewerten.

Täterbiografien bilden mittlerweile in den meisten Gedenkstätten für NS-Opfer in Deutschland einen wichtigen Bestandteil der pädagogischen Vermittlungsarbeit. Biografische Zugänge, Werdegänge von SS-Männern, ihre Sozialisierungsprozesse und Ambitionen, helfen, das Selbstverständnis und den Aufbau dieser verbrecherischen Organisation zu verstehen und Einblicke in die ideologische Weltanschauung der Schutzstaffel (SS) zu geben, die sich selbst als Elite der „nordisch-arischen Rasse“ verstand. Eine rassistische und menschenverachtende Ideologie, deren radikale Umsetzung und Konsequenz zur Ausgrenzung, Verfolgung und schließlich zur Ermordung von Millionen Menschen in Deutschland und Europa führte. Durch die biografischen Zugänge werden die Akteure und Akteurinnen greifbar und dadurch gesellschaftliche Ausgrenzungsmechanismen und Strukturen im NS-Verfolgungsapparat leichter verständlich.

Jakob Saß lässt die biografische Studie nicht mit dem ungelösten Verschwinden des ehemaligen Lagerkommandanten im April 1945 enden, sondern beschreibt sehr ausführlich auch die Bemühungen der Nachkriegsjustiz, Adolf Haas aufgrund seiner verbrecherischen Taten während seines Kommandos in den Konzentrationslagern – mehr als 3000 Häftlinge starben in dieser Zeit – anzuklagen. Gerade die Darstellung des gesellschaftlichen und juristischen Umgangs mit den Verbrechen des NS-Täters und die Recherchen im familiären Umfeld zeigen die aktuelle Relevanz des Themas bis heute. Die meisten der SS-Täter konnten sich nach dem Krieg einer strafrechtlichen Verfolgung entziehen. Doch stellt sich die Frage, wie denn die Gesellschaft und die Familien der SS-Täter mit den Verbrechen der SS-Täter umgegangen sind.

Jakob Saß‘ Studie über Adolf Haas‘ Leben und die juristische und familiäre Aufarbeitung bietet viele aktuelle Ansatzpunkte zum Nachdenken und zum Diskutieren. Ich wünsche dem Buch daher viele aufmerksame Leserinnen und Leser.

Kirsten John-Stucke

Kreismuseum Wewelsburg, Januar 2019

Vorwort von Thomas Rahe, wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen

Adolf Haas, der erste Kommandant des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, ist bisher kaum Gegenstand der Historiografie geworden. Weder die Forschungsliteratur zur Geschichte der Konzentrationslager Niederhagen/ Wewelsburg und Bergen-Belsen noch die einschlägigen Studien zu SS-Tätern gehen ausführlich auf seine Lebensgeschichte und insbesondere seine Bedeutung als KZ-Kommandant ein. Das mag auch darin begründet sein, dass seine SS-Karriere im Schatten seines Nachfolgers Josef Kramer steht, der seit 1933 im KZ-Dienst tätig war, 1944 als Kommandant von Auschwitz-Birkenau im Zentrum des Holocaust agiert hatte und 1945 im ersten KZ-Prozess auf deutschem Boden als prominentester Angeklagter in einem aufsehenerregenden Verfahren wegen seiner Massenverbrechen in Auschwitz und Bergen-Belsen zum Tode verurteilt und gehängt wurde.

Anders als Kramer hat Adolf Haas nie vor Gericht gestanden, sodass zu ihm und seinem Handeln in den Konzentrationslagern keine Prozessakten vorliegen. Auch hat er keine Diensttagebücher, Memoiren oder Reden hinterlassen. Wie in vielen ähnlichen Fällen waren und sind die Angehörigen nicht bereit, der Forschung Einblicke in die familiäre Überlieferung zu geben, wie Dokumente, Briefe und andere persönliche Aufzeichnungen, oder für Interviews zur Verfügung zu stehen.

Die Häftlingstagebücher aus den Konzentrationslagern wie auch die Erinnerungsberichte und Interviews der Überlebenden zeichnen ein widerspruchsvolles Bild von Adolf Haas, das nicht recht in die gängigen Schemata der NS-Täter passt. Haas war weder ein sadistischer Exzess-Täter noch ein kalter Schreibtischtäter. Er war ein SS-Karrierist aus der Provinz, aber er stand nicht am untersten Ende der Verbrechenshierarchie, sondern zählte als einer von insgesamt etwa 50 KZ-Kommandanten1 durchaus zum inneren Zirkel der Macht. Seine in manchen Berichten beschriebene Behäbigkeit und Bequemlichkeit konnte schnell in brutale Unberechenbarkeit umschlagen. Wenn in einigen Erinnerungsberichten ehemaliger Häftlinge des KZ Bergen-Belsen konstatiert wird, Haas sei „kein Judenfresser“ gewesen, so sagt dies vielleicht mehr über die Erwartungen jüdischer Häftlinge gegenüber dem Kommandanten eines NS-Konzentrationslagers aus als über seine tatsächliche politisch-ideologische Prägung. Auch Haas war zutiefst überzeugt von der Notwendigkeit und Berechtigung der rassistischen Verfolgungspraxis des Nationalsozialismus. Allein die enorme Todesrate unter den Häftlingen des KZ Niederhagen/Wewelsburg unter dem Kommando von Haas offenbart seine Fähigkeit und Bereitschaft, sich an dieser Verfolgungspraxis bis zum tödlichen Ende zu beteiligen. Seine gelegentlich auch im KZ Bergen-Belsen zur Schau getragene Jovialität unterschied ihn durchaus von manch anderen SS-Führern, aber sie sollte nicht als Ausdruck von Empathie missverstanden werden. In ihr offenbarte sich vielmehr eine selbstherrliche Willkür als Ausdruck absoluter Macht.

Es gehört zu den Vorzügen der biografischen Studie von Jakob Saß, dass er die Vielgestaltigkeit und auch Widersprüchlichkeit der Person und des Handelns von Adolf Haas nicht interpretatorisch einebnet. Er hat für die Darstellung des Agierens von Adolf Haas in den Konzentrationslagern vor allem die Erinnerungsberichte von Überlebenden in beeindruckender Weise ausgewertet. Jakob Saß bezieht durchaus auch andere Quellen wie etwa die SS-interne Überlieferung in seine biografische Untersuchung mit ein, um einen multiperspektivischen Blick auf das Leben von Adolf Haas werfen zu können. Seine dominierende Perspektive ist aber, soweit es um die Rolle von Haas in den Konzentrationslagern geht, die der Häftlinge bzw. Überlebenden und so macht er gewissermaßen aus einer Quellennot eine historiografische Tugend. Nicht zuletzt diese Betonung der Perspektive der Verfolgten auch im Kontext der Täterforschung macht seine Studie auch für die Bildungsarbeit in den Gedenkstätten ausgesprochen hilfreich.

Dr. Thomas Rahe

Gedenkstätte Bergen-Belsen, Dezember 2018

Prolog: Der Vergessene – Warum noch ein „Nazi-Buch“?

Das beliebte Online-Spiel ist makaber, die Regeln aber denkbar einfach: Jemand lädt ein Foto hoch und wer die Identität der Person darauf errät, darf das nächste Bilderrätsel stellen. Ein endloses Spiel, bei dem die Spieler aus aller Welt seit mehr als zehn Jahren nicht die Lust verlieren. Bei ihrem Quiz geht es ausschließlich um Männer, meist in Schwarz-Weiß und in Uniform. Und noch etwas haben alle gemeinsam. Jeder von ihnen war Teil derselben Organisation – der wohl verbrecherischsten der Geschichte.

Seit 1999 tauschen sich militärhistorisch Interessierte in der internationalen Online-Community „Axis History Forum“ über die Geschichte der Achsenmächte (Axis Powers) im Zweiten Weltkrieg aus. Über Schlachten, Waffen, Einheiten, neue Archivfunde, vermisste Großväter, „Frauen im Dritten Reich“ und Hunderte andere Themen. Wer mitdiskutieren will, muss sich an die Forumsregeln halten: Hakenkreuze sind als Profilbild nicht erlaubt, dafür aber Symbole wie der SS-Totenkopf. Der ist in Deutschland verboten, im „Axis History Forum“ aber äußerst populär. Man toleriere außerdem keine Beleidigungen, keinen Rassismus und keine Posts, die den Holocaust leugnen oder den Nationalsozialismus, Faschismus oder eine andere totalitäre Diktatur glorifizieren. Eigentlich.

„Ich bin natürlich ein großer Experte für SS-Personal und für Foto-Identifikation“, schrieb der Hobbyhistoriker Max Williams auf Englisch und ohne Bescheidenheit am 3. Juni 2007 in das Forum.2 Er schlug ein makabres Spiel vor, bei dem die Männer der „Schutzstaffel“ im Mittelpunkt standen, Adolf Hitlers größtem Machtinstrument für Terror und Mord im „Dritten Reich“. Er nannte es „SS ID Quiz“. Der „Rätselspaß“ ist den Usern bis heute nicht vergangen, vor allem Max Williams nicht, der sein Quiz konkurrenzlos dominiert. Die Fotos auf den mittlerweile über 450 Forumsseiten zeigen meist hochrangige Offiziere aus der Waffen-SS, insbesondere von den Kampfverbänden – manchmal aber auch von den Wachmannschaften der Konzentrationslager. Schwierig wurde es, wenn die Männer keine SS-Uniform trugen.

Mit dem Bild eines jungen Mannes, Anfang 20, in einer Matrosenuniform taten sich die User im Juni 2017 besonders schwer (siehe Bild auf Seite 26). Nach zwei Tagen gab „J. Duncan“ zwei Hinweise: „Er backte, was Hitler liebend gern aß“ und „Ignoriert von Tom Segev”. Da stieg sogar der selbst ernannte SS-Experte Max Williams nicht gleich dahinter: „Kuchen? Ein Lagerkommandant? Verdammt, selbst die Hinweise sind Rätsel! Komm schon, sei gnädig“3 Gesucht war also ein Konditor, der in der SS bis zum Kommandanten eines Konzentrationslagers aufgestiegen war.

Der zweite Hinweis war etwas schwieriger zu entschlüsseln, musste man dafür das Buch des israelischen Historikers und Journalisten Tom Segev „Soldiers of Evil“ (1987, dt. 1988: „Die Soldaten des Bösen“) sehr aufmerksam gelesen haben – oder zumindest das Namensregister. Segev erzählt die Geschichte der Konzentrationslager mit den Geschichten der Männer, ohne die weder die Terrorherrschaft noch die Massenmorde möglich gewesen wären. Lange bevor sich in Deutschland eine eigene ernst zu nehmende Täterforschung etablierte, rekonstruierte Segev als junger Promotionsstudent mit bemerkenswerter Akribie, Geduld und Hartnäckigkeit in den 1970er-Jahren die Biografien von 36 KZ-Kommandanten mit Unterlagen des Berlin Document Centers (BDC), heute Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde. „Die Personalakten liefern allerdings keine wohlfeile Antwort auf die Kardinalfrage der Geschichtsschreibung: ‚Wie konnte das alles passieren?‘“1, schreibt Segev im Vorwort. „Viele dieser Akten sagen uns jedoch, wie gewisse Leute, Nazis, SS-Männer, sich einverstanden erklärten, den Terror zu ihrem Beruf zu machen und wie es ihnen möglich war, den Mord an Millionen von Menschen als Teil ihrer täglichen Routine zu erledigen“.4 Er, der Sohn eines Juden, der 1933 mit seiner Frau aus Deutschland fliehen musste, befragte nicht nur Tausende von Akten nach den Motiven der Täter, sondern auch drei noch lebende Kommandanten und Angehörige der bereits verstorbenen. Zehn von insgesamt etwa 50 Lagerkommandanten5 kommen allerdings in Segevs Buch tatsächlich nicht vor, darunter der 2017 im „SS ID Quiz“ gesuchte Konditor und frühere Matrose. Dabei hatte sich der junge Historiker damals auch dessen Personalakte angeschaut und sie in seiner Dissertation auf fünf Seiten zusammengefasst – die hatte „J. Duncan“ offenbar aber nicht gelesen, als er seine beiden Hinweise postete.6

 

Erst nach drei Tagen löste der Slowake Machal alias „goofy“ das knifflige Rätsel im „Axis History Forum“. „Ich glaube, das ist Adolf Haas“, schrieb er und bekam einen lachenden Smiley als Antwort.

Schon zehn Jahre zuvor hatten andere Forums-Mitglieder Material zum KZ-Kommandanten Adolf Haas zusammengetragen.7 An seiner Biografie schien zunächst nichts besonders: Adolf Haas wurde am 14. November 1893 in Siegen geboren und wuchs in Hachenburg im Westerwald auf. Er machte die Ausbildung zum Konditor, ging in seiner Wehrdienstzeit zur Marine und geriet im Ersten Weltkrieg in Gefangenschaft. Nach seiner Rückkehr gründete er eine Familie und machte sich als Bäcker selbstständig. 1931 trat Haas in die NSDAP ein und 1932 oder 1933 – ganz sicher waren sich die User nicht – in die SS. Vor allem die Stationen seiner schnellen „Karriere“ in Heinrich Himmlers „Schwarzen Orden“ diskutierten sie ausgiebig, einschließlich der exakten Daten seiner Beförderungen: Bald war Adolf Haas seine Tätigkeit als SS-Führer wichtiger als seine Bäckerei. 1940 bewährte er sich als Zweiter Schutzhaftlagerführer im KZ Sachsenhausen und bekam kurz darauf das Kommando über sein erstes eigenes Lager in Niederhagen, am Fuß der Wewelsburg bei Paderborn. 1943 baute er sein zweites Konzentrationslager auf: Bergen-Belsen.

Warum sich Adolf Haas der NS-Bewegung angeschlossen hatte, wieso er sich für die SS entschieden hatte, an welchen Verbrechen er sich beteiligte, wie viele Menschen in seinen Lagern starben, was für ein Mensch er selbst war – all diese Fragen, die Tom Segev in seinem Buch gestellt hatte, spielten in der Diskussionsgruppe keine Rolle. Dort interessierte nicht der Mensch, sondern nur der „politische Soldat“ Adolf Haas. Nur die harten „Fakten“ zählten, von denen einige nicht stimmten: „Am 20. Dezember 1944 übernahm er die Führung des SS-Panzergrenadierbataillons 18. Haas gilt seit dem 1. Mai 1945 als vermißt.“8 Tatsächlich übernahm er nicht die „Führung“ des Bataillons und wurde auch nicht seit dem 1. Mai vermisst, sondern offiziell bereits seit Mitte März 1945. In einem anderen Kommentar hieß es, Haas wäre nach dem Krieg „von den Russen zum Tode verurteilt und exekutiert“ worden. Einen Beleg gab es nicht.9

Die User im „Axis History Forum“ waren natürlich nicht die Ersten, die sich für Adolf Haas interessierten. Das Wesentlichste samt einigen fehlerhaften Informationen hatten sie damals wortwörtlich aus einem im Internet veröffentlichten Erneuerungskonzept des Kreismuseums Wewelsburg für die Ausstellung „Wewelsburg 1933-1945. Kult- und Terrorstätte der SS“ kopiert – allerdings ohne den spannenden Abschnitt über Haas‘ schlechte Beurteilungen, seine Schwächen, Arroganz, Affären und verhängnisvolle, laienhafte Kunstliebe.

Mehrere Historikerinnen und Historiker haben sich seit den 1960er-Jahren immer wieder seiner Biografie gewidmet. Meist aber nur mit wenigen Seiten in ihren ansonsten sehr lesenswerten Büchern zur NS-Zeit im Westerwald, den Konzentrationslagern Wewelsburg und Bergen-Belsen oder allgemein zur Lager-SS.10 Darin kamen sie zum Teil zu sehr unterschiedlichen Urteilen über seinen Charakter, seine Motive und Lagerführung: Karl Hüser schreibt in der ersten Monografie zum KZ Niederhagen/Wewelsburg, „Adolf Haas und seine Helfer“ hätten „neben der großen Zahl“ gezielter „Mordaktionen“ auch „einen erheblichen Teil der Häftlinge durch Hunger, Krankheiten und Arbeitsschinderei umkommen“ lassen.11 Einige Häftlinge bevorzugte er aber offenbar: „Der Lagerkommandant Haas schätzte die handwerklichen und oftmals künstlerischen Fähigkeiten der Häftlinge und nutzte sie für seine eigenen Zwecke“, erläutert Kirsten John-Stucke, die heutige Leiterin des Kreismuseums Wewelsburg.12 Eberhard Kolb, der Nestor der Bergen-Belsen-Forschung, sieht in ihm einen „ebenso primitiven wie zur Leitung eines ‚Austauschlagers‘ völlig unqualifizierten SS-Führer“.13 Er war allerdings „weder ein ‚scharfer‘ Lagerkommandant noch ein ausgesprochener Judenhasser oder Sadist“, aber mitverantwortlich für das schreckliche „Inferno“ 1945, meint Alexandra-Eileen Wenck im neueren Standardwerk zum KZ Bergen-Belsen.14 Die Überlebenden hätten ihn vielmehr als einen „behäbigen an der eigenen Bequemlichkeit mehr als an seiner Aufgabe interessierten SS-Führer“ charakterisiert, schreibt Karin Orth in ihrer Studie zur Konzentrationslager-SS.15

Doch wie konnte ein vermeintlich „primitiver“, „unqualifizierter“ und „bequemer“ Mann in der SS so weit aufsteigen, die sich unter Reichsführer-SS Heinrich Himmler als „Elite“ zelebrierte ? Was half ihm dabei und wer?

Wenn Haas kein „Judenhasser“ und „Sadist“ gewesen sein sollte, was trieb ihn dann zur SS ? Mit welcher Überzeugung beteiligte er sich an Verbrechen?

Wie vereinbarte er es mit seinem Gewissen, dass in seinen Lagern nachweislich mindestens 3026 Menschen umkamen?16 Beschützte er dagegen tatsächlich Künstler und Handwerker, auch jüdische ?

Dieses Buch fügt die verschiedenen, teils unvereinbar wirkenden biografischen Puzzle-Teile erstmals zusammen. Es kann allerdings nicht das Rätsel lösen, das nach 1945 nicht nur die Bewohner seiner Heimatstadt noch viele Jahre beschäftigte: das Verschwinden von Adolf Haas kurz vor Kriegsende. Während seine Frau ihn für tot erklären ließ, kursierten in Hachenburg mehrere Gerüchte. Die einen sagten, er sei untergetaucht und habe immer wieder heimlich seine Familie besucht.17 Andere meinten, er lebe weit weg von zu Hause. „Es wurde gemunkelt, er sei in Spanien“, erinnerte sich der Hachenburger Gerhard Latsch, der als Kind mit Adolf Haas‘ Sohn befreundet gewesen war.18 Über Spanien seien ja viele Nazis „mit päpstlichen Pässen nach Argentinien gekommen. Eine ganze Menge Nazis sind so geflüchtet, nicht die ganz Großen, aber die Mittelgroßen.“

Dass sich der KZ-Kommandant Adolf Haas nach Lateinamerika abgesetzt haben könnte, war auch meine erste Spur: Sven Felix Kellerhoff, Leitender Redakteur für Geschichte bei der WELT, und ich folgten im Sommer 2013 einem Hinweis, dass sich Haas in Brasilien ein neues Leben aufgebaut haben sollte, sogar mit einer neuen Frau. Wie die Historikerinnen und Historiker zuvor arbeiteten auch wir uns zunächst durch die 150-seitige SS-Personalakte im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, entdeckten damals aber ebenfalls keine Anhaltspunkte zu seinem Verschwinden. Die Spur endete in einer Sackgasse – so wie für alle, die nach dem verschollenen KZ-Kommandanten suchten: erst die Alliierten, dann die österreichischen und deutschen Behörden und in den 1990er-Jahren sogar einer seiner Enkel. Bis heute konnte keiner herausfinden, was mit Adolf Haas 1945 geschah. Auch ich nicht, trotz jahrelanger Recherchen.

Warum also noch ein Nazi-Buch? Diese Frage hörte ich oft. Literatur zum Nationalsozialismus ist seit 30 Jahren keine Mangelware mehr in den Buchläden. Die Bücher füllen ganze Bibliotheken. Warum braucht also der verschollene KZ-Kommandant Adolf Haas ein eigenes Buch? Zumal es nicht mit Enthüllungen zu einer spektakulären Flucht bei Kriegsende und einem geheimen Leben in Brasilien aufwarten kann.

Zum einen ist die erste Biografie von Adolf Haas ein Beitrag zur Täterforschung. Warum verüben Menschen Verbrechen, warum begehen sie Mord? Diese banale, aber höchst relevante und tagesaktuelle Frage beschäftigt nach wie vor ebenso Kriminologen wie Holocaust-Forscher. Die neuere Täterforschung innerhalb der Geschichtswissenschaft habe zwar, so der Historiker Frank Bajohr, „in den letzten zwanzig Jahren zu einer bis dahin unbekannten empirischen Rekonstruktion des Holocaust aus der Nahperspektive geführt und dabei frühere Grundannahmen“ korrigiert – am Ende ist sie aber noch lange nicht.19 Dass die „Vernichtungsmaschinerie“ stets „einen bemerkenswerten Querschnitt der deutschen Bevölkerung“ darstellte, bemerkte der Politikwissenschaftler Raul Hilberg bereits 1961 in seiner bahnbrechenden Grundlagenstudie „The Destruction of the European Jews“ („Die Vernichtung der europäischen Juden“).20 Im Oktober 2017 wurde auf einer prominent besetzten internationalen Konferenz anlässlich Hilbergs 10. Todestages in Berlin dazu aufgerufen, sich im Sinne des Begründers der Holocaust-Forschung wieder mehr mit den kleinen Rädchen in der „Vernichtungsmaschinerie“, den „normalen“ Tätern, zu beschäftigen.21 Nicht zuletzt hatten die beiden Historiker Daniel Goldhagen und Christopher Browning Anfang und Mitte der 1990er-Jahre mit ihren Studien eine hitzige öffentliche Diskussion angeregt, ob die NS-Täter ein besonders gewaltbereites, fanatisiertes Kollektiv oder eben doch „ganz gewöhnliche Deutsche“ bzw. „ganz normale Männer“ (ordinary men) waren – eine bis heute offene Frage.22

Der Bäcker Adolf Haas war ohne Zweifel ein ganz normaler Mann, aber auch einer der „normalen“ Täter – sowohl im Sinne seiner Sozialisation als auch seiner „Karriere“: Weder hatte er eine „kriminelle Neigung“ noch psychische Störungen. Weder war er besonders gebildet noch ein radikaler NS-Ideologe. Weder war er ein mächtiger noch ein berüchtigter SS-Funktionär. Er war schlichtweg Durchschnitt – so sahen es auch seine Vorgesetzten in den wenigen nicht beschönigten Beurteilungen.23 Die Biografien der Kommandanten kleinerer bzw. hierarchisch niedrigerer Lager, zu denen Niederhagen/Wewelsburg und anfangs auch Bergen-Belsen zählten, wurden bisher kaum abseits der Übersichtsliteratur erforscht. Dagegen standen vor allem die bekannteren Kommandanten der großen Lager Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald sowie der Vernichtungslager im Osten im Vordergrund, aber auch Männer wie Karl Otto Koch und Amon Göth, die durch ihren Sadismus bekannt geworden sind, Letzterer nicht zuletzt durch Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“.24 Dass es allgemein nur zu einem Fünftel aller knapp 50 Kommandanten eigenständige Biografien gibt, liegt allerdings wohl weniger am Interesse als vielmehr an der dürftigen Quellenlage.

Die meisten Lagerkommandanten „hinterließen keine oder kaum subjektive Quellen, aus denen man auf ihre Handlungskonzepte oder auf ihre Motivation schließen könnte“, schreibt die Historikerin Karin Orth.25 Viele waren „weder intellektuell in der Lage, noch sahen sie überhaupt jemals die Notwendigkeit, über ihre Beweggründe zu reflektieren oder ein Handlungskonzept aufzuschreiben“. Das gilt auch für Adolf Haas. Wie in den meisten anderen KZ sorgte die SS in Niederhagen/Wewelsburg und Bergen-Belsen bei Kriegsende außerdem dafür, dass die Akten der Lagerregistratur nicht in die Hände der Alliierten gelangten.26 „Eine Biographie, die den Standards der Biographieforschung entspricht“, ließe sich „auf der Grundlage des überlieferten Quellenmaterials“ eigentlich nicht schreiben, resümiert Karin Orth für die Lager-SS.27 „Ihre Handlungsmaximen ließen sich meist nur aus der Rückschau gewinnen“. Genau das ist bei Adolf Haas erstaunlich ergiebig – trotz weniger subjektiver Quellen.

Einerseits ist seine SS-Personalakte ungewöhnlich umfangreich. Sie enthält zahlreiche auf Schreibmaschine getippte Beurteilungen und Beförderungsvorschläge seiner SS-Vorgesetzten, einige selbst verfasste Lebensläufe und Aufsätze sowie Korrespondenz und ein Gesprächsprotokoll anlässlich seiner Affären und eines Skandals in Bergen-Belsen, aber auch eine „SS-Ahnentafel“, auf der er bis ins 18. Jahrhundert seine „arische“ Abstammung nachweisen musste.28 Die pedantisch organisierte NS-Bürokratie hielt und hält allerdings weit mehr zu Adolf Haas bereit – nur eben weit verstreut in der Archivlandschaft. Mit dem zum großen Teil erstmals ausgewerteten Aktenmaterial aus 16 Archiven in Deutschland, Luxemburg und Großbritannien lassen sich seine Biografie, sein Karriereweg und seine Verbrechen rekonstruieren. Die Erkenntnisse der NS-, Holocaust- und Täterforschung spielen dabei eine wichtige Rolle. Da das Buch sich nicht nur an ein Fach-, sondern ein allgemein historisch orientiertes Publikum richtet, finden die verschiedenen Konzepte und Literaturhinweise allerdings meist in den Endnoten ihren Platz.