Tod oder Taufe - Die Kreuzfahrer am Rhein

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Raimund schritt unter dem Torbogen hindurch und blickte auf das Haus aus hellbraunem Sandstein mit dem hohen Giebeldach in der Mitte des Platzes. Die rundliche Ausbuchtung in der Mitte der Hauswand zeigte die Stelle an, an der sich im Inneren der Torahschrein befand. Darüber thronte das runde Rosenfenster aus rötlich schimmerndem Glas. Ein Fuhrmann lud mit einem Kran die letzte Kiste seiner Ladung ab.

Er hatte sich mit Chaim in dem kleinen Holzanbau zur Linken der Synagoge verabredet.

Auf einem Acker nahe Gerstendorf

Ruhig und stetig zog das braune Kaltblut voran, dem trockenen Boden unter ihm zum Trotz. Lenes dunkler Schweif baumelte gemächlich über ihrem breiten Hinterteil. Der Pflug riss eine neue Furche, drei Handbreit neben der, die sie zuvor gezogen hatten. Lene wusste von selbst, wie sie sich bewegen musste, locker lag die Leine über Peters Schulter.

Wegen der Härte des Bodens musste er den Pflug fester halten, als es sonst notwendig war. Immer wieder wollte das Schar ausbrechen, manchmal nach links, in das unbearbeitete Feld, manchmal nach rechts, in eine der Furchen, die sie bereits gezogen hatten. Und Peter musste auch darauf achtgeben, dass er nicht hängen blieb an den großen Steinen, die sich auf dem Feld wie Sterne am Himmel verteilten, denn sonst könnte der eiserne Meißel beschädigt werden.

Er wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Seit dem frühen Morgen hatten sie bereits geschuftet und erst ein paar Dutzend Furchen waren gezogen. Der Acker auf dem Rücken des Hügels schaute ihn mitleidlos an.

Wenn er schon pflügen sollte, dann nur mit ihrer Stute Lene, hatte er heute Morgen am Tisch in der Stube gefordert. Vater war einverstanden gewesen. »Nimm sie nur, ich habe heute im Stall zu tun. Pass aber auf, dass das Kumt richtig um ihren Hals liegt, damit sie genug Luft bekommt.« Diese Bemerkung seines Vaters hatte ihn geärgert. Als ob er das nicht selbst wüsste.

Am Ende des Feldes angekommen, lockerte Peter seine verkrampften Schultern. Weil er stetig auf den schwarzbraunen Boden hatte schauen müssen, tat es ihm gut, den Blick schweifen zu lassen, entlang des grünlich schimmernden Flusses und über die Hügel jenseits des Ufers. In weiten Bögen wand sich der Rhein durch die Landschaft. Ruhig floss er daher, von Speyer über Worms und schließlich bis nach Mainz, so wusste es Peter aus den Erzählungen seiner Eltern. Doch die drei großen Städte lagen verborgen hinter Hügeln.

Ach, wie gerne würde er Mainz einmal sehen. Der Turm der großen Kirche sei so hoch, dass er die Wolken kitzle. Das hatte ihm einmal ein altes Weib aus Gerstendorf erzählt, wohin sie jeden Sonntag zur Messe gingen.

Die Konturen des Rheintals verloren sich in der Ferne, verschluckt vom Dunst am Horizont. Aus den Wäldern auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses streckte sich der Turm der Burg Oppenheim wie der Kopf eines Rehs hervor. Etwas unterhalb der Burg mühte sich ein Bauer hinter einem Ochsen über ein Feld. Immer wieder ließ er den großen Stock auf das Tier niederfahren. Gut, dass er die folgsame Lene hatte, dachte Peter.

Ein Fährboot lag auf der anderen Rheinseite halb auf dem Ufersand, der Ferge ruhte in seinem Schatten.

Nur ganz selten war Peter mit dieser Fähre zum großen Markt in Oppenheim über den Rhein gefahren. Meist zusammen mit der Mutter und mit Gänsen und Hühnern, Zwiebelsäcken und ein paar Kisten Kohl. Zu zweit zogen sie dann frühmorgens den schweren Holzwagen den Berg hinauf in die Stadt. Angekommen am Tor zum Markt legte sie ihm gewöhnlich die Hände auf die Schultern und lobte ihn seiner gewachsenen Kräfte wegen.

Heute warteten lange Stunden der Plackerei auf ihn, und trotzdem würden sie erst in ein paar Tagen mit dem Acker fertig werden. Peter seufzte. Lenes große, freundliche Augen blickten ihn fragend an. Zärtlich streichelte er über ihren struppigen Hals und flüsterte ihr zu: »Komm, Lene, wir gehen zur Wasserstelle und ruhen uns im Schatten der Bäume etwas aus.«

Lene nickte mit ihrem zotteligen Kopf. Peter spannte den Pflug ab, und so trotteten sie gemeinsam zu dem kleinen Wäldchen am Feldrand. Nochmals richtete Peter seinen Blick in die Ferne in Richtung Worms. Eine außergewöhnlich große Staubwolke fiel ihm auf. Sie kroch zum Himmel empor, dort, wo der Rhein sich hinter dem lang gestreckten Hügel versteckte. Es ist doch kaum ein Wind zu spüren, wunderte sich Peter.

An der Baumgruppe angekommen, zog es Lene sofort zu dem kleinen Bach. Bald scharrten ihre Hufe durch den steinigen Grund, während sie das frische Wasser gierig einsaugte. Auch Peter genoss das kühle Nass, das er aus seinen Händen schlürfte.

Nachdem sein erster Durst gestillt war, nahm er den großen Ledersack aus Ziegenfell von Lenes Rücken, zog den Korken aus dem hölzernen Mundstück, lehrte den Schlauch aus und ließ das frische Wasser des Baches hineinlaufen. Er lehnte sich an eine große Linde und nahm eine der getrockneten Pflaumen, die ihm seine Mutter am Morgen mitgegeben hatte, aus dem Beutel, den er am Gürtel trug. Saftig und süß, so mochte er es. Bald würde auch sein kleiner Bruder mit dem Essen kommen.

Peter liebte diesen Platz, den er in den Pausen aufsuchte, wann immer er in der Nähe arbeiten musste. Von hier aus konnte er in aller Ruhe das Geschehen auf dem Treidelweg auf der anderen Seite des Flusses beobachten. Heute zogen zwei kleine Händlergruppen am Fluss entlang. Ein schwarzer Ochse war vor den ersten Wagen gespannt, ein massiger Ardenner zog den anderen. Ein Reiter auf einem stolzen Hengst forderte mit ausholenden Armbewegungen, dass man ihm Platz machte.

Flussabwärts trieben zwei Schiffe in Richtung Mainz. In Gegenrichtung mühten sich ein Mann und ein Mädchen, eine kleine Barke an langen Leinen zurück nach Worms zu treideln. Ach, auf einem Schiff zu arbeiten, das wäre schön. Dann könnte man sich ausruhen, wenn es den Fluss hinunterging.

Ein leises Rauschen meinte Peter zu vernehmen, ein Rumpeln und Poltern in der Ferne, aus der Richtung dieser seltsamen Wolke, die näher gekommen war. Unvermittelt stand der Ferge auf und schaute flussaufwärts. Hastig schob er sein Boot in das Wasser, steuerte mit kräftigen Schlägen in den Fluss und ruderte herüber auf die hiesige Seite.

Mainz – im Anbau der Synagoge

Beim Eintritt in den Anbau der Synagoge schlug Raimund der Duft von frisch gebackenem Brot entgegen. Jehudith, die Frau des Rabbis, winkte ihm mit einer mehligen Hand zu. Auch ihre Schürze und Arme waren ganz bestäubt von dem hellen Puder. »Mein Mann erwartet dich bereits. Er brütet in der Synagoge über dem Text, den ihr heute übersetzen wollt.«

Raimund zog sich die Gugel von seinem Kopf und verbeugte sich vor der Frau seines Freundes. Auf einem Tisch neben dem Ofen lag ein großer heller Teigklumpen, in den sie mit der Faust ihrer rechten Hand ein Loch drückte. Aus einem Tonschälchen goss sie eine gräuliche Masse in das Loch hinein und schlug den Teig darüber zusammen. Flink kneteten Jehudiths Hände die zähe Masse, mit kräftigen Bewegungen walkten ihre Handballen wieder und wieder in den Teig hinein. Dann streute sie Mehl auf den Tisch und drückte den Klumpen flach, um den Fladen nochmals zusammenzuschlagen und in rhythmischen Bewegungen weiter durchzukneten.

Fasziniert beobachtete Raimund das geschickte Spiel von Jehudiths Händen. Nach einer Weile der Stille blickte sie ihn fragend an. »Warum schaust du so interessiert, wenn ein Weib seine Arbeit verrichtet?«

»Entschuldige bitte, Jehudith«, erwiderte Raimund. »Aber kennst du das Gleichnis vom Sauerteig? Daran musste ich denken.«

»Nein, das kenne ich nicht.«

Da ertönte eine warme Stimme aus der Tür, die zur Synagoge führte. »Das Himmelreich ist gleich einem Sauerteig, den ein Weib nahm und unter drei Scheffel Mehl vermengte, bis es ganz durchsäuert ward.«

Chaim kam mit ausgebreiteten Armen auf Raimund zu. Seine großen wachen Augen über dem buschigen Bart schauten ihn freundlich an. »Raimund. Wie schön, dich zu sehen.«

»Dein Wissen über unseren Herrn beeindruckt mich immer wieder.« Raimund streckte seine Hand aus, die Chaim, das Angebot der Umarmung dezent zurückstellend, herzlich ergriff.

»Danke. Gerade gestern habe ich in den Berichten eurer Evangelisten gelesen. Ich mag es sehr, wie euer Herr seine kleinen Geschichten erzählt wie die vom Sauerteig. Ganz schlicht und doch verwirrend schön. Dann denke ich, da spricht ein Jude zu mir, rätselhaft und geheimnisvoll«, schwärmte Chaim und fügte dann ernst hinzu: »Aber du weißt, ich kann nicht glauben, dass Jesus Gott ist. Gott will nicht, dass man ihn teilt.«

Auch wenn Raimund das sehr wohl wusste, versetzte es ihm doch einen kleinen Stich ins Herz. Er hatte seinem Freund eine Funktion als Berater der Kurie zu Fragen des Alten Testaments vermittelt. Dies war sowohl für ihn selbst als auch für Chaim von Vorteil, konnten sie doch so ihre religiösen Gespräche unter einem Mantel der Legalität verbergen. Und natürlich hatte er gehofft, seinem Freund ein wenig Verständnis für die Göttlichkeit Jesu abzugewinnen, die seit dem Konzil von Nicäa vor mehr als siebenhundert Jahren ein kirchliches Dogma war. Aber in diesem Punkt gab Chaim keine Haaresbreite nach. So schaute Raimund nun ein wenig enttäuscht auf Jehudiths Hände, die in emsiger Beharrlichkeit den Teig weiterbearbeitete.

»Mein Freund, da ist ganz viel Gutes in dem, den ihr euren Heiland nennt«, fügte Chaim in versöhnlichem Ton hinzu. Er schloss die Augen und sprach langsam, als wolle er sich jedes Wort auf der Zunge zergehen lassen: »Das Himmelreich ist gleich einem Sauerteig, den ein Weib nahm und unter drei Scheffel Mehl vermengte, bis es ganz durchsäuert ward. Wahrlich, dieses schöne Gleichnis hätte einen Platz auch in unserem Talmud verdient.«

 

Jehudith kicherte. »Ganz gewiss arbeite ich für das Reich Gottes, denn ich bereite das Essen für die Hochzeit meiner Schwester Sarah vor. Fast die ganze Gemeinde wird am Sonntag hier erscheinen. Geht ihr nur euren geistigen Beschäftigungen nach, während ich mich um das Leibliche kümmere.«

»Höre ich da etwa eine Andeutung von Spott, mein Liebes?« Der Rabbi steckte seine Hände in die Seitentaschen seiner braunen Weste, die er über einem mit Stickereien verzierten Wams trug, zog die Augenbrauen hoch und blickte Jehudith an. Dabei musste Chaim sein Haupt nach oben richten. Seine Frau war einen halben Kopf größer als er.

»Ich will es so ausdrücken.« Jehudith legte von dem Teig ein daumengroßes Stück für das Opfer beiseite. »Wenn du mein Brot isst, dann ist es nur recht und billig, wenn du mir danach auch von den Früchten eurer Arbeit erzählst.«

An Raimund gewandt sagte Chaim schmunzelnd: »Du musst wissen, Jehudith mag die Psalmen sehr. Deshalb gefällt ihr deine Idee, sie zu übersetzen. Dann kann sie die Lieder Davids unseren Kindern nicht nur auf Hebräisch, sondern auch in unserer Alltagssprache vorsingen.«

»Du bist zu beneiden, ein solch kluges Weib deine Frau nennen zu dürfen«, antwortete Raimund.

»Nun aber genug der Schmeicheleien. Verschwindet aus meiner Küche und lasst eine einfache Frau ihre Arbeit verrichten. Sonst wird’s ein trauriges Hochzeitsfest am Sonntag werden!«, rief Jehudith lachend.

Freundlich, aber bestimmt schob Chaim seinen christlichen Freund zur Tür, die in die Synagoge führte.

Auf einem Acker nahe Gerstendorf

Da! Reiter auf schwarzen Pferden erschienen hinter dem Hügel auf dem Treidelpfad. Neben ihnen liefen einfache Soldaten. Peter sprang auf. Der Vorhut folgte ein Trupp Berittener mit weißen Fahnen. Er beschirmte seine Augen mit der Hand. Die großen weißen Banner mit dem roten Kreuz. Das mussten die heiligen Ritter sein!

Jetzt tauchte eine Kolonne Wagen auf. Peter kniff die Augen zusammen. Sie schienen mit allerlei Alltagsgerät beladen zu sein. Den Schluss der Karawane bildete Fußvolk. Aber bald kamen schon wieder neue Reiter. Ein wahrer Strom von Menschen, Pferden und Fahrzeugen quoll hinter der Biegung des Rheins hervor.

Seit letztem Jahr schwärmte der Pfarrer von den Gotteskämpfern! Und ganz verrückt vor Aufregung waren die Kinder im Dorf. Befreit Jerusalem, Gott will es, hatte der Papst gefordert. »Jerusalem, Jerusalem, wir befreien Jerusalem!«, riefen die Jungen und Mädchen seit Neuestem, während sie mit Stöcken um den Teich liefen. Und die Alten beklatschten das Treiben ihrer Kinder.

Sogar von Zeichen wurde seit einiger Zeit im Dorf gemunkelt. Ein Komet mit einem Schweif wie ein Schwert hätte sich am Himmel gezeigt. Auch zwei himmlische Reiter wurden geschaut. Einer mit einem großen Holzkreuz, der andere mit einem krummen Säbel. Und, so hatte es der Pfarrer berichtet, der Säbelträger wurde von dem Kreuz zermalmt, blutrote Wolken seien daraufhin am Himmel erschienen.

Peter schnalzte ungeduldig und Lene kam folgsam aus dem Bach getrottet. Er musste unbedingt ein Stück weiter das Feld hinauf, vielleicht konnte er von dort aus noch besser sehen.

Viele Menschen, viel mehr, als Peter je gesehen hatte, marschierten nun über den Handelsweg auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses. Immer näher kamen die Reiter an der Spitze des Zuges, viele in leuchtenden Kleidern und mit Schwertern. Echte Ritter! Daneben Knappen, die die Lanzen trugen. Vergessen war die Pflugschar. Peter ließ Lene am Feldrand grasen.

Eine Vielzahl von Karren, bunt durcheinandergewürfelt, von Ochsen und Pferden gezogen. Auf den meisten Wagen sah Peter lange Stangen. Zeltstangen! Das mussten Zeltstangen sein. Wie es wohl sein würde, mit Zelten zu lagern? Wild pochte Peters Herz. Je näher der Zug kam, desto deutlicher sah er, wie viele Pilger es waren. Dass es so viele Menschen auf der Welt überhaupt gab! Sapperlot! Und sie zogen an seinem Acker vorbei.

Mainz – in der Synagoge

Eine rote Rose vibrierte auf dem hell gekachelten Steinboden der Synagoge. Geheimnisvoll warf die Sonne ihr Licht durch das runde Giebelfenster mit dem rubinroten Glas. Die hohen weiß verputzten Wände ließen den Raum trotz der wenigen und schmalen Fenster licht und einladend erscheinen. Chaim geleitete Raimund an der achteckigen Bimah vorbei, auf der während des Gottesdienstes der Aufgerufene die heiligen Texte vortrug. Raimund bewunderte die fein ziselierten Bögen, von denen dieser erhöhte Bereich umgeben war. Doch wies ihn Chaim in einen Nebenraum, der sonst dem Talmudunterricht diente.

Wie so oft in den letzten Monaten standen sie gemeinsam an dem Lehrerpult. Raimund griff in sein Wams, entnahm ihm eine schlichte hölzerne Mappe und legte sie neben das in Leder eingebundene Buch, welches aufgeschlagen bereitlag. Ein kunterbunter Papagei umspielte mit seiner Laute die hebräischen Buchstaben, die mit höchster Präzision auf das kostbare Pergament geschrieben waren.

»Lass uns mit dem hundertvierten Psalm weitermachen, der Hymne der Schöpfung«, sagte Chaim. »Wir haben letzten Montag mit dem neunten Vers abgeschlossen.«

Raimund öffnete die Holzmappe, deren Innenseiten von einer honigfarbenen Wachsschicht überzogen waren. Links hatte er den Psalm aus der Übersetzung des großen Gelehrten Hieronymus eingeritzt. »Im zehnten Vers heißt es: Qui emittis fontes in convallibus inter medium montium pertransibunt aquae potabunt omnes bestiae agri expectabunt onagri in siti sua.«

»Dann lass uns auch im Sefer Tehillim nachschauen.« Chaim beugte sich über das Buch der Lieder und deutete auf eine der Zeilen. »Sieh, hier ist die Stelle.«

Chaims Finger fuhren von rechts nach links über eine Zeile mit den hebräischen Buchstaben, ohne das Pergament zu berühren. »Dort heißt es: Há-meschaléach ma’ajaním ba-nechalím, bejn harím jehalechún.«

»Leider sagen mir diese Zeichen nichts«, sagte Raimund mit Bedauern in der Stimme. »Aber im Hebräischen klingt es viel weicher als im Lateinischen. Es ist mehr ein Singen, selbst wenn du es sprichst.«

»Es sind ja auch die Lieder Davids«, antwortete Chaim schmunzelnd. »Nun sag schon, wie hast du es übersetzt?«

Raimund schaute auf die rechte Seite der Wachstafel.

»Auf Gottes Befehl hin füllen sich Auen aus den Quellen,

sie fließen zwischen Bergen,

die Tiere des Feldes trinken,

wilde Esel löschen ihren Durst.«

»Gut getroffen.« Chaim beugte sich nochmals über die Passage im Sefer Tehillim. »Im hebräischen Text steht in etwa: ›Der, der die Quellen sich ergießen lässt in Auen.‹ Den Ausdruck Gottes Befehl, den sollte man vielleicht besser weglassen. Der Satz wird auch zu lang, und der Rhythmus geht verloren.«

Einen Moment lang schloss Chaim die Augen. Er kämmte mit seinen kräftigen Fingern durch seinen Bart und sagte schließlich: »Was hältst du von Du füllst Auen aus den Quellen.«

»Mmmmh, das gefällt mir gut.« Und nach einem Moment des Nachdenkens fügte Raimund hinzu: »So belassen wir es.«

»Der Rest stimmt ganz gut mit dem hebräischen Text überein, wobei man es vielleicht noch flüssiger ausdrücken kann.«

»Hast du einen Vorschlag?«

Chaim schloss erneut die Augen und sagte in einem leichten Singsang:

»Du füllst Auen aus den Quellen,

sie fließen zwischen saftig grünen Berghängen dahin.

Die Tiere des Feldes trinken,

wilde Esel löschen ihren Durst.«

»Saftig grün, ist das deine Erfindung?« Raimund sah auf den Text auf der Wachstafel. »Das steht jedenfalls nicht in der Vulgata. Kommt das im hebräischen Text vor?«

Abrupt öffnete Chaim die Augen und blickte auf das Buch vor sich auf dem Pult. »Nein, das steht nicht dort. Aber ich finde, es klingt so schön und man kann sich die Tiere des Feldes und die wilden Esel auf den grünen Hängen besser vorstellen.«

»Mhhh. Ich weiß nicht.« Raimunds Stirnfalten zogen sich zusammen. »Ich finde nicht, dass wir etwas hinzudichten sollten.«

»Du bist ja mal wieder richtig pedantisch!«, erwiderte Chaim unwirsch, wobei jedoch ein Lächeln seine Lippen umspielte.

»Es ist Gottes Wort, da kann man gar nicht vorsichtig genug sein«, antwortete Raimund ernst. »Aber lass uns einen Kompromiss schließen. Ich setze eine Klammer um saftig grün, dann können wir das später entscheiden, wenn wir den gesamten Psalm niedergeschrieben haben.«

Raimund nahm einen Griffel aus seinem Wams. Das eine Ende war zugespitzt und das andere abgeflacht. Mit Letzterem rieb er vorsichtig über das weiche Bienenwachs auf der rechten Innenseite der Mappe und die Schriftzeichen verschwanden. Dann drehte er den Griffel um und ritzte mit dem spitzen Ende den Text, den Chaim gerade vorgelesen hatte, in die Fläche ein. Sanft zog die Griffelspitze durch das weiche Wachs und die Buchstaben reihten sich in akkuraten Strichen und perfekten Bögen aneinander.

Kritisch betrachtete Raimund das Geschriebene und reichte Chaim die Wachstafel. Der nickte wohlwollend beim Lesen und gab sie Raimund schließlich mit anerkennendem Blick zurück.

»Lass uns weitermachen.«

Raimund schaute auf die linke Seite der Mappe und las: »Im nächsten Vers heißt es: Super ea volucres caeli habitabunt de medio petrarum dabunt voces. Wie lautet es im Hebräischen?«

Das Tappen von Schritten riss die beiden Gelehrten aus ihrer Arbeit.

Auf einem Acker nahe Gerstendorf

Schier endlos schob sich der Menschenzug auf dem Treidelpfad dahin und immer mehr Gestalten strömten hinter dem Hügel hervor. Doch waren es kaum noch stolze Ritter auf Pferden mit ihren Knappen. Es waren Bauern mit Sensen und Spießen, Ochsenwagen, beladen mit Kisten, Säcken, Gänsen und Hühnern in ihren Käfigen. Mütter zogen ihre Kinder inmitten von Schweinen und Ziegen hinter sich her, Hunde rannten durch die Menge. Dazwischen schienen ein paar Mönche zu singen und zu tanzen.

Staunend beobachtete Peter das Treiben. Was für ein Schauspiel bot sich da direkt vor seinen Augen!

Sein kleiner Bruder Bernhard kam über den Rücken des Hügels gelaufen. Er hielt einen Korb in den Händen. »Peter, Peter! Mutter hat mich geschickt. Ich bring dir das Essen.«

Peter zeigte in Richtung des Treidelpfades. Für einen Augenblick blieb Bernhard stehen. Mit offenem Mund betrachtete er die Menschenmassen, rannte zu seinem älteren Bruder und zog ihn an der Hand. »Komm, komm, schnell nach Hause.«

»Das sind die kämpfenden Wallfahrer, die ins Heilige Land ziehen«, bemerkte Peter wissend. Er lächelte seinem Bruder zu. »Wollen wir uns die Jerusalempilger zusammen anschauen?«

Peter spürte den Druck von Bernhards Fingern in seiner Handfläche. Der Blick seines Bruders schweifte entlang des Rheins, dann schaute er Peter mit unsicheren Augen an. Der lächelte beschwichtigend. »Schau auf diese Menschen. Sie ziehen den weiten Weg in den Orient, weil der Herr der Kirche es von ihnen verlangt hat.«

Bernhard blieb bei seinem Bruder.

Sie inspizierten den Korb, den die Mutter für Peter gefüllt hatte. Ein halber Laib Brot war dort zu finden, eine große geschälte Zwiebel, zwei Äpfel, fünf Karotten und eine Tonschale mit Butterschmalz. Peter riss ein kleines Stück Brot ab und gab es Bernhard, nahm anschließend ein großes Stück für sich selbst, fuhr damit durch das weiche Schmalz und biss genussvoll hinein. Bernhard linste auf den kleinen Lederbeutel an Peters Gürtel. Der lachte, öffnete ihn und gab Bernhard eine Pflaume. Schmatzend lutschte sein kleiner Bruder an der dunkelblauen Frucht.

Bernhard lehnte sich an Peter an, der den Arm um ihn legte. Eng angeschmiegt saßen sie da. Peter spürte, wie das Auf und Ab des Brustkorbs seines Bruders langsam ruhiger wurde, die körperliche Nähe tat auch ihm gut.

Wie ein langer Wurm schlängelte sich die Prozession auf der anderen Seite des Rheins den Pfad entlang. Peter vergaß all die Köstlichkeiten, die Mutter für ihn mitgegeben hatte. Gemeinsam winkten sie den Menschen zu. Das ein oder andere Bauernkind erwiderte ihren Gruß.

Oder wollten sie die beiden zu sich winken? Riefen sie etwa: »So kommt doch mit, ihr zwei!« Oder war dies nur Peters Wunsch? Jerusalem, die Heilige Stadt. Peter war es, als wollten seine Füße den Berg hinunterlaufen. Bernhards Interesse richtete sich dagegen immer mehr auf den offenen Lederbeutel. Er stibitzte eine weitere Pflaume aus dem offenen Säckchen, aber Peter war so mit dem Treiben auf dem gegenüberliegenden Ufer beschäftigt, dass er seinen kleinen Bruder gewähren ließ.

 

Langsam steuerte der Ferge sein Boot zurück in Richtung des Ufers, an dem die Menschenmassen über den Treidelweg marschierten. Lene genoss derweil ganz unbeteiligt das frische Gras.

Mainz – in der Synagoge

Respektvoll näherte sich David, Jehudiths und Chaims Ältester. In seiner Hand hielt er eine Schiefertafel.

»Sei gegrüßt, David«, sagte Raimund, »wie geht es dir?«

»Entschuldigt bitte vielmals, dass ich störe«, antwortete David, »aber der Parnas hat mich gebeten, diese Nachricht eiligst meinem Vater zu übergeben.«

»Was will Kalonymos von mir?« Chaim stöhnte laut. »Kann das nicht warten? Du siehst doch, dass wir mitten in der Arbeit sind.«

»Er hat gesagt, es sei sehr dringend«, insistierte David und hielt ihm die Schiefertafel vors Gesicht.

Entschuldigend blickte Chaim zu Raimund, nahm die Tafel und las. Bereits nach wenigen Zeilen wurde er ganz ernst und wandte sich an seinen Sohn. »Was hat Kalonymos noch gesagt?«

»Er lässt ausrichten, dass sich der Rat augenblicklich bei ihm treffen soll. Er bittet darum, dass du dich beeilst.«

»Ich komme«, sagte Chaim. »Raimund, es tut mir leid, ich muss jetzt gehen.«

»Was ist passiert?« Raimund sah ihn besorgt an. Sein Freund konnte sich sicher denken, dass Streitfragen über Talmudauslegung oder innerjüdische Angelegenheiten nicht solcher Eile bedurft hätten.

»Es gibt beunruhigende Nachrichten aus Speyer.« Chaim wollte Raimund nicht vor den Kopf stoßen, aber er hatte eigentlich schon zu viel gesagt. Die Dinge, die im Rat besprochen wurden, mussten absolut vertraulich behandelt werden. Selbst Jehudith dürfte er eigentlich nichts davon erzählen. Aber in ihrem Fall überging er das strenge Gebot. Auf Jehudiths Verschwiegenheit konnte er sich verlassen. Um aus ihr etwas herauszubekommen, müsste man sie foltern.

Raimund schien sich über Chaims Situation im Klaren, daher unterbrach er die peinliche Stille und verbeugte sich. »Bitte lass mich wissen, wenn ich helfen kann.«

»Wir werden deine Hilfe vielleicht bald bitter nötig haben«, antwortete Chaim, erleichtert, dass sein Freund, der Domdekan, ihm vertraute, obwohl er sich so verhalten geäußert hatte.

Chaim zeigte auf ein zusammengefaltetes Leintuch neben dem Tehillim auf dem Pult und sagte: »David, möchtest du das Buch der Psalmen in das Regal zurücklegen? Du weißt ja, wohin.«

David nickte. Chaim sah noch, wie sein Sohn das Leinen nahm, es auf dem Pult auseinanderfaltete und das kostbare Buch auf den ausgebreiteten Stoff legte, den er schließlich sorgfältig über dem Leder zusammenschlagen würde.

Am Ausgang der Synagoge schaute Chaim nochmals hinter sich. Achtsam trug David den Tehillim zu dem kopfhohen Regal an der Seitenwand der Synagoge, in dem sich unzählige Schriftrollen, Bücher und andere Dokumente befanden, wohlgeordnet in verschiedenen Abteilungen. Eine süße Wehmut umfing Chaim, sein Vaterherz sehnte sich danach, dass auch David einmal ein Rabbi werden würde.

Chaim trat auf den Platz vor der Synagoge. Mit schnellen Schritten eilte er den kurzen Weg zum Haus von Kalonymos ben Meschullam, dem Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Mainz.

Auf einem Acker nahe Gerstendorf

Letztendlich hatte Peter sich losreißen können und war zurückgekehrt zu seiner Arbeit auf dem Feld. Auch Bernhard war nach Hause gegangen, jedoch nicht, bevor er die letzte Pflaume aus Peters Beutel genommen hatte.

Die Ritter mit den Fahnen waren längst hinter der Flussbiegung in Richtung Mainz verschwunden, aber noch immer kamen Menschen von der Wormser Seite, jedoch weitaus spärlicher.

Die Fähre und ein kleineres Boot machten sich gerade daran, den Rhein zum hiesigen Ufer hin zu überqueren. Der Fährmann schob ein Ochsengespann auf seine Ladefläche. Der Wagen trug keinerlei Fracht, aber ein Ritter und sein Knappe gesellten sich zu ihm, nachdem der Ferge das Gespann unter großen Mühen eingeladen hatte.

In dem kleineren Boot saßen einige Mönche in braunen Gewändern. Ein Priester in einer feuerroten Kutte stand am Bug. Aufmerksam tastete der Blick des großen schlanken Mannes die Hügel des diesseitigen Ufers ab, ein großes silbernes Kreuz hing um seinen Hals. Nun schaute er genau in Peters Richtung. Nahm der Priester ihn wahr? Das Kreuz spiegelte das Sonnenlicht zu ihm herüber und eine Welle des Wohlbehagens durchfloss Peters Körper. Dann schweifte der Blick des Mannes weiter.

Das kleine Boot glitt über das Wasser.

Auf ihrer Seite angekommen, verteilten sich die Mönche in der Landschaft. Wie ein schmaler roter Strich zeichnete sich der Priester vor den grünen Wiesen und braunen Feldern ab. Langsam kleiner werdend, bewegte er sich einen Hang hinauf, bis er schließlich in einem Wald verschwunden war.

Mainz – auf der Langen Gasse

Speyer, hatte Chaim gesagt. In Gedanken versunken ging Raimund die Lange Gasse zurück zum Dom. Für den nächsten Morgen war Raimund beim Bischof einbestellt, zusammen mit dem Vogt. Ob das irgendetwas mit der Nachricht an Chaim zu tun hatte? Sein Freund schien seltsam reserviert und bekümmert. Raimund war so damit beschäftigt, sich einen Reim auf die ganze Sache zu machen, dass er beinahe mit einer Waschfrau zusammengeprallt wäre, die einen Zuber Wasser in den Rinnstein gießen wollte. Das Weiblein wollte schon zu einer Schimpftirade ansetzen, als sie den Domdekan trotz seines Wamses erkannte.

Raimund entschuldigte sich knapp. In seinem Kopf durchwalkte er die verschiedensten Möglichkeiten, wie es Jehudiths flinke Hände mit dem Sauerteig getan hatten. Wenn der Vogt involviert war, dann musste es um etwas gehen, das sich außerhalb der Bischofspfalz abspielte. Das gehörte nicht zu seinem Einflussbereich als Domdekan, das lag in der Verantwortung des Propstes. Raimunds Aufgabe bestand normalerweise nur in der Organisation des geistlichen Lebens innerhalb der Domdiözese.

Aber nun befand sich Dompropst Manfried seit einigen Wochen auf Reisen. Lange hatte sich der alte und wegen seines Pflichtbewusstseins allseits geschätzte Stiftskollege danach gesehnt, eine Pilgerreise zum Grab des heiligen Viktor in Xanten anzutreten. Seitdem musste Raimund den Propst vertreten.

Raimund stöhnte vor sich hin. Gerade er, dem das Machtpolitische gleichermaßen fremd wie zuwider war. Ein Empfang beim Bischof zusammen mit dem Vogt? Chaims besorgte Reaktion ließ Raimund mit noch größerem Unwohlsein auf das morgige Treffen blicken. Entsprechend beunruhigt trat er durch das Tor der Bischofspfalz, deren Wachen ihm erst den Weg versperren wollten, da auch sie ihren Domdekan in seinem Wams zunächst nicht erkannten. Erst jetzt bemerkte Raimund, dass er besser den weitaus diskreteren Weg durch den Dom über die einziehbare Holzbrücke genommen hätte.

Mainz – im Haus des Parnas

Noch bevor er klopfen konnte, wurde Chaim die Tür geöffnet.

»Sie warten schon auf dich, oben im Empfangsraum«, raunte ihm die Frau des Parnas zu. Sie war umgeben von einer Duftwolke, die Chaim für einen Moment irritierte. Auch Jehudith machte ab und an Gebrauch von Duftwasser, jedoch zu seinem Gefallen in einer weitaus dezenteren Art.

Beim Gang die Treppe hinauf bestaunte Chaim die Respekt einflößende Gleve, die an der Wand hing, als wolle sie den Weg zu dem großen Saal im ersten Stock weisen. Er widerstand der Versuchung, mit seinen Fingern die Schärfe der Klinge an der Seite dieser furchterregenden Lanze zu erfühlen. Mit seinen kindlichen Bewegungen hatte David, als er noch einige Jahre jünger gewesen war, seinem Vater anhand einer Gartenharke die mannigfaltigen Anwendungsmöglichkeiten dieses Mordinstruments vorgeführt. Selbst wenn der erste Stich mit der Spitze sein Ziel verfehlen sollte, hatte ihm sein Sohn damals stolz erklärt, könnte man immer noch die Klinge als Haken benutzen und den Gegner durch eine schnelle Zugbewegung umreißen. Mit dem zwei Handbreit langen Schlagdorn, der der Klinge gegenübersaß, ließ sich dann auf den hilflos am Boden liegenden Körper einhacken. Selbst die härtesten Panzerungen würden dem nicht standhalten, hatte David geschwärmt.