Weltgeschichtliche Betrachtungen

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2. Die Befähigung des 19. Jahrhunderts für das historische Studium

Ob wir eine spezifisch höhere geschichtliche Erkenntnis besitzen, lässt sich fragen.

Lasaulx (S. 10) meint sogar, »dass von dem Leben der heutigen Völker Europas bereits so viel abgelaufen sei, dass die nach einem Ziel konvergierenden Direktionslinien erkannt werden, ja Schlüsse auf die Zukunft gezogen werden können.«

Aber so wenig wie im Leben des Einzelnen ist es für das Leben der Menschheit wünschenswert, die Zukunft zu wissen. Und unsere astrologische Ungeduld danach ist wahrhaft töricht.

Ob wir uns das Bild eines Einzelnen vorstellen, der z. B. seinen Todestag und die Lage, in der er sich dann befinden würde, vorauswüsste, oder das Bild eines Volkes, welches das Jahrhundert seines Untergangs vorauskennte, beide Bilder müssten als notwendige Folge eine Verwirrung alles Wollens und Strebens zeigen, welches sich nur dann völlig entwickelt, wenn es »blind«, d. h. um unsrer selbst willen, den eigenen inneren Kräften folgend, lebt und handelt. Die Zukunft bildet sich ja nur, indem dies geschieht, und wenn es nicht geschähe, so würden auch Fortgang und Ende des Menschen oder Volkes sich anders gestalten. Eine vorausgewusste Zukunft ist ein Widersinn.

Abgesehen von der Nichtwünschbarkeit ist das Voraussehen des Künftigen für uns aber auch nicht wahrscheinlich. Vor allem stehen ihm die Irrungen der Erkenntnis durch unser Wünschen, Hoffen und Fürchten im Wege, sodann unsere Unkenntnis alles dessen, was man latente Kräfte, materielle wie geistige, nennt, und das Unberechenbare geistiger Kontagien, welche plötzlich die Welt umgestalten können. Ferner kommt hier auch die große akustische Täuschung in Betracht, in der wir leben, insofern seit vierhundert Jahren die Reflexion und ihr Räsonnement, durch die Presse bis zu völliger Ubiquität verstärkt, mit ihrem Lärm alles übertönt und scheinbar auch die materiellen Kräfte völlig von sich abhängig hält, und doch sind diese vielleicht ganz nahe an einer großen siegreichen Entfaltung anderer Art, oder es wartet eine ganz entgegengesetzte geistige Strömung vor der Tür. Siegt dann diese, so nimmt sie die Reflexion samt deren Trompeten in ihren Dienst, bis wiederum auf ein Weiteres. Endlich mögen wir uns, auch was die Zukunft betrifft, unserer geringen Kenntnis der Völkerbiologie von der physiologischen Seite bewusst sein.

Wohl aber ist unsere Zeit zur Erkenntnis der Vergangenheit besser ausgerüstet als eine frühere.

Als äußere Förderungen hat sie hierbei die Zugänglichkeit aller Literaturen durch das viele Reisen und Sprachenlernen der neueren Welt und durch die große Ausbreitung der Philologie, ferner die Zugänglichkeit der Archive, die dem Reisen verdankte Zugänglichkeit der Denkmäler vermittelst der Abbildungen, zumal der Fotografien, die massenhaften Quellenpublikationen durch Regierungen und Vereine, die jedenfalls vielseitiger und mehr auf das Geschichtliche als solches gerichtet sind, als dies bei der Kongregation von St. Maur und bei Muratori der Fall war.

Dazu kommen innere Förderungen, und zwar zunächst negativer Art.

Dazu gehört vor allem die Indifferenz der meisten Staaten gegen die Resultate der Forschung, von welcher sie für ihren Bestand nichts fürchten, während ihre dermalige zeitliche Form (die Monarchie) unendlich viel nähere und gefährlichere Feinde hat, als jene je werden kann, überhaupt die allgemeine Praxis des laisser aller et laisser dire, weil man noch ganz anderes aus der täglichen Gegenwart in jeder Zeitung passieren lassen muss. (Und doch ließe sich behaupten, dass Frankreich die Sache zu leicht genommen hat. Der radikale Zweig seiner Historiographie hat eine große Einwirkung auf die seitherigen Tatsachen geübt6).

Sodann ist hier auch auf die Machtlosigkeit der bestehenden Religionen und Konfessionen gegenüber jeder Erörterung ihrer Vergangenheit und ihrer jetzigen Lage hinzuweisen. Eine gewaltige Forschung hat sich der Betrachtung jener Zeiten, Völker und Zustände zugewandt, wo sich die ursprünglichen Vorstellungen bildeten, von welchen die Religionen mitbestimmt oder geschaffen worden sind. Eine große vergleichende Mythologie, Religions- und Dogmengeschichte ist auf die Länge nicht auszuschließen gewesen.

Und nun die Förderungen positiver Art: Vor allem haben die gewaltigen Änderungen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts etwas in sich, was zur Betrachtung und Erforschung des Früheren und des Seitherigen gebieterisch zwingt, selbst abgesehen von aller Rechtfertigung oder Anklage. Eine bewegte Periode wie diese dreiundachtzig Jahre Revolutionszeitalter, wenn sie nicht alle Besinnung verlieren soll, muss sich ein solches Gegengewicht schaffen.

Nur aus der Betrachtung der Vergangenheit gewinnen wir einen Maßstab der Geschwindigkeit und Kraft der Bewegung, in welcher wir selber leben.

Sodann gewöhnte das Schauspiel der Französischen Revolution und ihre Begründung in dem, was vorhergegangen, den Blick an die Erforschung nicht bloß materieller, sondern vorzugsweise geistiger Kausalitäten und an deren sichtbares Umschlagen in materielle Folgen. Die ganze Weltgeschichte, soweit die Quellen reichlicher fließen, könnte eben dasselbe lehren, allein diese Zeit lehrt es am unmittelbarsten und deutlichsten. Es ist also ein Vorteil für die geschichtliche Betrachtung heutiger Zeit, dass der Pragmatismus viel höher und weiter gefasst wird als früher. Die Geschichte in Auffassung und Darstellung ist unendlich interessanter geworden.

Dazu haben sich durch den Austausch der Literaturen und durch den kosmopolitischen Verkehr des 19. Jahrhunderts überhaupt die Gesichtspunkte unendlich vervielfacht. Das Entfernte wird genähert; statt eines einzelnen Wissens um Kuriosa entlegener Zeiten und Länder tritt das Postulat eines Totalbildes der Menschheit auf.

Endlich kommen hierzu die starken Bewegungen in der neueren Philosophie, bedeutend an sich und beständig verbunden mit allgemeinen weltgeschichtlichen Anschauungen. So haben die Studien des 19. Jahrhunderts eine Universalität gewinnen können wie die früheren nie.

3. Winke für das historische Studium

Was aber ist nun unsere Aufgabe bei der Enormität des geschichtlichen Studiums, das sich über die ganze sichtbare und geistige Welt erstreckt, mit weiter Überschreitung jedes früheren Begriffs von »Geschichte«?

Zur vollständigen Bewältigung würden tausend Menschenleben mit vorausgesetzter höchster Begabung und Anstrengung lange nicht ausreichen.

Denn tatsächlich herrscht die stärkste Spezialisierung bis in Monographien über die kleinsten Einzelheiten hinein. Wobei auch sehr wohlmeinenden Leuten bisweilen jeder Maßstab abhandenkommt, indem sie vergessen, welche Quote seines Erdenlebens ein Leser (der nicht ein bestimmtes persönliches Interesse am Gegenstand hat) auf ein solches Werk wenden kann. Man sollte bei Abfassung einer Monographie jedes Mal Tacitus’ Agricola neben sich haben und sich sagen: je weitläufiger, desto vergänglicher.

Schon jedes Handbuch über eine einzelne Epoche oder über einen einzelnen Zweig des geschichtlichen Wissens weist in eine Unendlichkeit von ermittelten Tatsachen hinein. Ein verzweiflungsvoller Anblick beim Beginn des geschichtlichen Studiums!

Für den, welcher sich vollständig diesem Studium und sogar der historischen Darstellung widmen will, haben wir hier auch gar nicht zu sorgen. Wir wollen keine Historiker und vollends keine Universalhistoriker bilden. Unseren Maßstab entnehmen wir hier von derjenigen Fähigkeit, welche jeder akademisch Gebildete bis zu einem gewissen Grade in sich entwickeln sollte.

Wir handeln ja, wie gesagt, nicht sowohl vom Studium der Geschichte als vom Studium des Geschichtlichen.

Jede einzelne Erkenntnis von Tatsachen hat nämlich neben ihrem speziellen Werte als Kunde oder Gedanke aus einem speziellen Reiche noch einen universalen oder historischen als Kunde einer bestimmten Epoche des wandelbaren Menschengeistes und gibt zugleich, in den richtigen Zusammenhang gebracht, Zeugnis von der Kontinuität und Unvergänglichkeit dieses Geistes.

Neben der unmittelbaren Ausbeutung der Wissenschaften für das Fach eines jeden gibt es eine zweite, auf welche hier hingewiesen werden soll.

Vorbedingung von allem ist ein festes Studium; Theologie, Jurisprudenz oder was es sei, muss ergriffen und akademisch absolviert werden, und zwar nicht nur um des Lebensberufes willen, sondern um konsequent arbeiten zu lernen, die Gesamtheit der Disziplinen eines bestimmten Fachs respektieren zu lernen, den nötigen Ernst in der Wissenschaft zu befestigen.

Daneben aber sollen diejenigen propädeutischen Studien fortgeführt werden, welche die Zugänge zu allem Weiteren bilden, besonders zu den verschiedenen Literaturen, also die beiden alten Sprachen und womöglich einige neuere. Man weiß nie zu viele Sprachen. Und so viel oder wenig man gewusst habe, darf man die Übung nie völlig einschlafen lassen. Gute Übersetzungen in Ehren – aber den originalen Ausdruck kann keine ersetzen, und die Ursprache ist in Wort und Wendung schon selber ein historisches Zeugnis höchsten Ranges.

Sodann muss negativ empfohlen werden die Vermeidung alles dessen, was nur die Zeit vertreiben soll, die man doch kommen heißen und festhalten müsste, die Zurückhaltung gegenüber der jetzigen Verwüstung des Geistes durch Zeitungen und Romane.

Für uns handelt es sich überhaupt nur um solche Köpfe und Gemüter, welche der ordinären Langeweile nicht ausgesetzt sind und eine Aufeinanderfolge von Gedanken aushalten können, welche Phantasie genug haben, um der stofflichen Phantasie anderer nicht zu bedürfen, oder, wenn sie dieselbe in sich aufnehmen, ihr nicht untertan werden, sondern sie wie ein anderes Objekt sich gegenüberzuhalten vermögen.

 

Überhaupt muss man imstande sein, sich temporär von den Absichten völlig wegwenden zu können zur Erkenntnis, weil sie Erkenntnis ist; man muss zumal Geschichtliches zu betrachten fähig sein, auch wenn es sich nicht direkt oder indirekt auf unser Wohl- und Übelergehen bezieht; und auch, wenn es sich darauf bezieht, so soll man es objektiv betrachten können.

Ferner darf die Geistesarbeit nicht bloß Genuss sein wollen. Alle echte Überlieferung ist auf den ersten Anblick langweilig, weil und insofern sie fremdartig ist. Sie kündet die Anschauungen und Interessen ihrer Zeit für ihre Zeit und kommt uns gar nicht entgegen, während das modern Unechte auf uns berechnet, daher pikant und entgegenkommend gemacht ist, wie es die fingierten Altertümer zu sein pflegen. Dahin gehört besonders der historische Roman, den so viele Leute für Geschichte lesen, die nur ein wenig arrangiert, aber im Wesentlichen wahr sei.

Für den gewöhnlichen halbgebildeten Menschen ist schon alle Poesie (mit Ausnahme der Tendenzpoesie) und aus der Vergangenheit auch das Vergnüglichste (Aristophanes, Rabelais, Don Quichotte usw.) unverständlich und langweilig, weil ihm nichts davon auf den Leib zugeschnitten ist wie die heutigen Romane.

Aber auch dem Gelehrten und Denker ist die Vergangenheit in ihrer Äußerung anfangs immer fremdartig und ihre Aneignung eine Arbeit.

Vollends ein vollständiges Quellenstudium über irgendeinen bedeutenden Gegenstand nach den Gesetzen der Erudition ist ein Unternehmen, das den ganzen Menschen verlangt. Die Geschichte z. B. einer einzigen theologischen oder philosophischen Lehre könnte allein schon Jahre in Beschlag nehmen, und gar die ganze eigentliche Theologie, selbst mit Ausschluss der Kirchengeschichte, Kirchenverfassung usw., bloß als Dogmengeschichte und Geschichte der kirchlichen Wissenschaft gefasst, erscheint als eine Riesenarbeit, wenn wir an alle patres, concilia, bullaria, Scholastiker, Häretiker, neueren Dogmatiker, Homiletiker und Religionsphilosophen denken. Zwar sieht man bei tieferem Eindringen, wie sie einander abschreiben; auch lernt man die Methoden kennen und aus einem kleinen Teil das Ganze erraten, läuft aber Gefahr, die wichtige halbe Seite, welche irgendwo in dem Wust verborgen steckt, zu übersehen, wenn nicht ein glückliches Ahnungsvermögen das Auge vermeintlich zufällig doch darauf führt.

Und dann die Gefahr des Erlahmens, wenn man zu lange mit lauter homogenen Sachen von beschränktem Interesse zu tun hat! Buckle hat sich an den schottischen Predigten des 17. und 18. Jahrhunderts seine Gehirnlähmung geholt.

Und nun vollends der Polyhistor, der nach der heutigen Fassung des Begriffs eigentlich alles studieren müsste! Denn alles ist Quelle, nicht bloß die Historiker, sondern die ganze Literatur und Denkmälerwelt, ja Letztere ist für die ältesten Zeiten die einzige Quelle. Alles irgendwie Überlieferte hängt irgendwie mit dem Geiste und seinen Wandlungen zusammen und ist Kunde und Ausdruck davon.

Für unsere Zwecke aber soll nur vom Lesen ausgesuchter Quellen, aber als solcher, die Rede sein; der Theologe, der Jurist, der Philologe möge einzelne Schriftwerke entlegener Zeiten sich aneignen, nicht nur, insofern deren Sachinhalt sein Fach im engeren Sinne berührt, sondern zugleich im historischen Sinne, als Zeugnisse einzelner bestimmter Stadien der Entwicklung des Menschengeistes.

Für den, welcher wirklich lernen, d. h. geistig reich werden will, kann nämlich eine einzige glücklich gewählte Quelle das unendlich Viele gewissermaßen ersetzen, indem er durch eine einfache Funktion seines Geistes das Allgemeine im Einzelnen findet und empfindet.

Es schadet nichts, wenn der Anfänger das Allgemeine auch wohl für ein Besonderes, das Sich-von-selbst-Verstehende für etwas Charakteristisches, das Individuelle für ein Allgemeines hält; alles korrigiert sich bei weiterem Studium, ja schon das Hinzuziehen einer zweiten Quelle erlaubt ihm durch Vergleichung des Ähnlichen und des Kontrastierenden bereits Schlüsse, die ihm zwanzig Folianten nicht reichlicher gewähren.

Aber man muss suchen und finden wollen, und bisogna saper leggere (De Boni). Man muss glauben, dass in allem Schutt Edelsteine der Erkenntnis vergraben liegen, sei es von allgemeinem Wert, sei es von individuellem für uns; eine einzelne Zeile in einem vielleicht sonst wertlosen Autor kann dazu bestimmt sein, dass uns ein Licht aufgehe, welches für unsere ganze Entwicklung bestimmend ist.

Und nun hat die Quelle gegenüber der Bearbeitung ihre ewigen Vorzüge.

Vor allem gibt sie das Faktum rein, so dass wir erst erkennen müssen, was daraus zu ziehen sei, während die Bearbeitung uns letztere Aufgabe schon vorwegnimmt und das Faktum schon verwertet wiedergibt, d. h. eingefügt in einen fremden und oft falschen Zusammenhang.

Die Quelle gibt ferner das Faktum in einer Form, die seinem Ursprung oder Urheber noch nahe, ja etwa dessen Werk ist. In ihrer originalen Diktion liegt ihre Schwierigkeit, aber auch ihr Reiz und ein großer Teil ihres allen Bearbeitungen überlegenen Wertes. Auch hier mögen wir wieder der Bedeutung der Originalsprachen und ihrer Kenntnis gegenüber den Übersetzungen gedenken.

Auch geht unser Geist die richtige chemische Verbindung nur mit der Originalquelle in vollständigem Sinne ein, wobei freilich zu konstatieren ist, dass das Wort »original« eine relative Bedeutung hat, indem, wo jene verloren ist, auch sekundäre und tertiäre ihre Stelle vertreten können. Die Quellen aber, zumal solche, die von großen Männern herrühren, sind unerschöpflich, so dass jeder die tausendmal ausgebeuteten Bücher wieder lesen muss, weil sie jedem Leser und jedem Jahrhundert ein besonderes Antlitz weisen und auch jeder Altersstufe des Einzelnen. Es kann sein, dass im Thukydides z. B. eine Tatsache ersten Ranges liegt, die erst in hundert Jahren jemand bemerken wird.

Vollends ändert sich das Bild, welches vergangene Kunst und Poesie erwecken, unaufhörlich. Sophokles könnte auf die, welche jetzt geboren werden, schon wesentlich anders wirken als auf uns. Es ist dies auch gar kein Unglück, sondern nur eine Folge des beständig lebendigen Verkehrs. Wenn wir uns um die Quellen aber richtig bemühen, so winken uns als Preis auch die bedeutenden Augenblicke und vorherbestimmten Stunden, da uns aus dem vielleicht längst zu Gebote Stehenden und vermeintlich längst Bekannten eine plötzliche Intuition aufgeht.

Nun aber die schwierige Frage: Was soll der Nichthistoriker aus den ausgewählten Quellen notieren und exzerpieren? Den materiellen Sachinhalt haben zahllose Handbücher längst ausgebeutet; nimmt er diesen heraus, so türmen sich Exzerpte auf, die er nachher wohl nie mehr ansieht. Und ein spezielles Ziel hat der Leser ja noch nicht.

Es kann sich ihm aber eines ergeben, wenn er sich ansehnlich weit und noch ohne zu schreiben in seinen Autor hineingelesen hat; dann beginne er frisch von vorn und notiere nach jenem einzelnen Ziele hin, lege aber eine zweite Reihe von Notizen über alles dasjenige an, was ihm überhaupt besonders merkwürdig vorkommt, und wären es nur die Kapitelangaben respektive die Seitenzahlen mit zwei Worten in Betreff des Inhaltes.

Über der Arbeit ergibt sich dann vielleicht ein zweites und drittes Ziel; Parallelen und Kontraste mit anderen Quellen finden sich hinzu usw.

Freilich »mit alledem wird ja lauter Dilettantismus gepflanzt, welcher sich ein Vergnügen aus dem macht, woraus sich andere löblicherweise eine Qual machen!«

Das Wort ist von den Künsten her im Verruf, wo man freilich entweder nichts oder ein Meister sein und das Leben an die Sache wenden muss, weil die Künste wesentlich die Vollkommenheit voraussetzen.

In den Wissenschaften dagegen kann man nur noch in einem begrenzten Bereiche Meister sein, nämlich als Spezialist, und irgendwo soll man dies sein. Soll man aber nicht die Fähigkeit der allgemeinen Übersicht, ja die Würdigung derselben einbüßen, so sei man noch an möglichst vielen anderen Stellen Dilettant, wenigstens auf eigene Rechnung, zur Mehrung der eigenen Erkenntnis und Bereicherung an Gesichtspunkten; sonst bleibt man in allem, was über die Spezialität hinausliegt, ein Ignorant und unter Umständen im Ganzen ein roher Geselle.

Dem Dilettanten aber, weil er die Dinge liebt, wird es vielleicht im Lauf seines Lebens möglich werden, sich auch noch an verschiedenen Stellen wahrhaft zu vertiefen.

4. Natur und Geschichte

Endlich gehört hierher auch noch ein Wort über unser Verhältnis zu den Naturwissenschaften und der Mathematik als unseren einzigen uneigennützigen Kameraden, während Theologie und Jus uns meistern oder doch als Arsenal benützen wollen und die Philosophie, welche über allen stehen will, eigentlich bei allen hospitiert.

Ob das Studium der Mathematik und der Naturwissenschaften ihrerseits alle geschichtliche Betrachtung schlechterdings ausschließe, fragen wir dabei nicht. Jedenfalls sollte sich die Geschichte des Geistes nicht von diesen Fächern ausschließen lassen.

Eine der riesigsten Tatsachen dieser Geschichte des Geistes war die Entstehung der Mathematik. Wir fragen uns, ob sich von den Dingen zuerst Zahlen oder Linien oder Flächen loslösten. Und wie schloss sich bei den einzelnen Völkern der nötige Konsensus hierüber? Welches war der Moment dieser Kristallisation?

Und die Naturwissenschaften, wann und wie lösten sie zuerst den Geist von der Furcht vor der Natur und ihrer Anbetung, von der Naturmagie? Wann und wo wurden sie zuerst annähernd ein freies Ziel des Geistes?

Freilich hatten auch sie ihre Wandlungen, ihren zeitweiligen Dienst und ihre systematische Beschränkung und gefährliche Heiligung innerhalb bestimmter Grenzen – bei Priestern.

Aufs Schmerzlichste ist die Unmöglichkeit einer geistigen Entwicklungsgeschichte Ägyptens zu beklagen, die man höchstens in hypothetischer Form, etwa als Roman, geben könnte.

Bei den Griechen kamen dann für die Naturwissenschaften die Zeiten der völligen Freiheit; nur taten sie relativ wenig dafür, weil Staat, Spekulation und plastischer Kunsttrieb die Kräfte vorwegnahmen.

Auf die alexandrinische, römische und byzantinisch-arabische Zeit folgt dann das okzidentalische Mittelalter und die Dienstbarkeit der Naturwissenschaften unter der Scholastik, welche nur das Anerkannte stützt.

Aber für die Zeit seit dem 16. Jahrhundert sind sie einer der wichtigsten Gradmesser des Genius der Zeiten. Was sie etwa retardiert, sind sehr häufig die Academici und Professoren.

Ihr Vorwiegen und ihre Popularisierung im 19. Jahrhundert ist ein Faktum, bei dem wir uns unwillkürlich fragen, worauf es hinauswühle, und wie es sich mit dem Schicksal unserer Zeit verflechte.

Und nun besteht zwischen ihnen und der Geschichte nicht nur deshalb Freundschaft, weil sie, wie gesagt, allein nichts von ihr verlangen, sondern weil diese beiden Wissenschaften allein ein objektives, absichtsloses Mitleben in den Dingen haben können.

Die Geschichte ist aber etwas anderes als die Natur, ihr Schaffen und Entstehen- und Untergehenlassen ist ein anderes.

Die Natur bietet die höchste Vollendung des Organismus der Spezies und die größte Gleichgültigkeit gegen das Individuum, ja sie statuiert feindliche, kämpfende Organismen, die bei annähernd gleich hoher organischer Vollendung einander ausrotten, miteinander ums Dasein kämpfen. Auch die Menschengeschlechter im Naturzustand gehören noch hierher: Ihre Existenz mag den Tierstaaten ähnlich gewesen sein.

Die Geschichte dagegen ist der Bruch mit dieser Natur vermöge des erwachenden Bewusstseins; zugleich aber bleibt noch immer genug vom Ursprünglichen übrig, um den Menschen als reißendes Tier zu zeichnen. Hohe Verfeinerung der Gesellschaft und des Staates besteht neben völliger Garantielosigkeit des Individuums und neben beständigem Triebe, andere zu knechten, um nicht von ihnen geknechtet zu werden.

In der Natur besteht regnum, genus, species, in der Geschichte Volk, Familie, Gruppe. Durch einen urtümlichen Trieb schafft jene konsequent-organisch in unendlicher Varietät der Gattungen bei großer Gleichheit der Individuen; hier ist die Varietät (freilich innerhalb der einzigen Spezies homo) lange nicht so groß; es gibt keine scharfen Abgrenzungen, die Individuen aber drängen auf Ungleichheit = Entwicklung.

Während die Natur nach einigen Urtypen (wirbellose und Wirbeltiere, Phanerogamen und Kryptogamen usw.) schafft, ist beim Volk der Organismus nicht so sehr Typus wie allmähliches Produkt; er ist der spezifische Volksgeist in seiner allmählichen Entwicklung.

 

Jede Spezies der Natur besitzt vollständig, was zu ihrem Leben gehört; besäße sie es nicht, so lebte sie nicht und pflanzte sich nicht fort. Jedes Volk ist unvollständig und sucht sich zu ergänzen, je höher es steht, umso mehr.

Dort ist der Entstehungsprozess der Spezies dunkel; vielleicht ist er in Aufsummierung von Erlebnissen begründet, welche zur Aufgabe hinzutreten, aber viel langsamer und altertümlicher. Der Entstehungs- und Modifikationsprozess des Volkstums beruht erweislich teils auf der Anlage, teils ebenfalls auf Aufsummierung von Erlebtem; nur ist er, weil der bewusste Geist hier mithilft, viel rascher als in der Natur, mit nachweisbarer Wirkung der Gegensätze und der Verwandtschaften, auf die das Volkstum trifft.

Während in der Natur die Individuen gerade bei den höchsten Tierklassen für die anderen Individuen – ausgenommen etwa als stärkere Feinde oder Freunde – nichts bedeuten, findet in der Menschenwelt eine beständige Einwirkung bevorzugter Individuen statt.

Dort bleibt die Spezies relativ unverändert; Bastarde sterben aus oder sind von Anfang an unfruchtbar. Im geschichtlichen Leben ist alles voll Bastardtum, als gehörte dasselbe wesentlich mit zur Befruchtung für größere geistige Prozesse. Das Wesen der Geschichte ist die Wandlung.

In der Natur erfolgt der Untergang nur durch äußere Gründe: Erdkatastrophen, klimatische Katastrophen, Überwucherung schwächerer Spezies durch frechere, edlerer durch gemeinere. In der Geschichte wird er stets vorbereitet durch innere Abnahme, durch Ausleben. Dann erst kann ein äußerer Anstoß allem ein Ende machen.