Buch lesen: «Boys don't cry»
Unter anderem ausgelöst vom frühen Tod seines Vaters, hat Jack Urwin 2014 den weltweit viel beachteten Essay »A Stiff Upper Lip Is Killing British Men« im VICE Magazine veröffentlicht, dessen Themen er hier fortführt. Von der Mob-Mentalität, wie sie bei Fußballspielen und in Fight Club zur Schau gestellt wird, bis zu unseren Großvätern, die aus dem Zweiten Weltkrieg zurückkehrten, ohne je gelernt zu haben, über ihre Gefühle zu sprechen, untersucht Urwin, wie der Mythos der Maskulinität entstanden ist und warum er toxisch, ja tödlich ist. Warum tun wir uns trotzdem so schwer damit, diese fragwürdigen Ideale hinter uns zu lassen?
Teils Essay, teils persönliches Manifest, ist Boys don’t cry eine witzige und scharfe Auseinandersetzung mit toxischer Männlichkeit und ihren Folgen – und ein Plädoyer für einen anderen Umgang miteinander.
Jack Urwin wurde 1992 in Loughborough (UK) geboren und studierte Journalismus in London. Er arbeitete als Promoter für verschiedene große und Indie-Musiklabels, weshalb ihn Enrique Iglesias, völlig zu Unrecht, wie Urwin meint, einen »Drill-Sergeant« nannte. Er schreibt für diverse Zeitschriften, u. a. McSweeney’s und VICE, über Politik, psychische Gesundheit und Genderthemen. Urwin lebt derzeit in Toronto, Kanada.
JACK URWIN
BOYS DON’T CRY
IDENTITÄT, GEFÜHL UND MÄNNLICHKEIT
AUS DEM ENGLISCHEN VON ELVIRA WILLEMS
Die Originalausgabe des vorliegenden
Buches erschien unter dem Titel
Man Up. Surviving Modern Masculinity
bei Icon Books
© 2016 Jack Urwin
Edition Nautilus GmbH
Schützenstraße 49 a · D - 22761 Hamburg
Alle Rechte vorbehalten
© Edition Nautilus GmbH 2016
Deutsche Erstausgabe März 2017
Umschlaggestaltung:
Maja Bechert, Hamburg
Autorenporträt Seite 2:
© Michael Barker
4., neu durchgesehene und
korrigierte Auflage Juni 2021
ePub ISBN 978-3-96054-043-4
Inhalt
Einführung
Wann ist ein Mann ein Mann?
Männerdämmerung
Boys don’t cry – Jungen weinen nicht: Kindheit, soziale Konditionierung und psychische Gesundheit
Fight Club: Aggression, Risiko und Mob-Mentalität
Mann am Boden: Männlichkeit im Militär und institutionalisierte Gewalt
Der ideale Mann: Körperbild, Konsumdenken und das oberflächliche Gesicht moderner Männlichkeit
Mann & Frau: Familien, persönliche Beziehungen und die destruktive Natur verdrängter Gefühle
Männlichkeit jenseits von (heterosexuellen) Männern: Die Auswirkungen auf Frauenrechts- und LGBT-Bewegung
Ausrasten: Sex, Vergewaltigungskultur und der Frust männlicher Jungfrauen
Wir müssen reden: Was wir für Veränderungen tun können
Dank
Anmerkungen
Einführung
Er hat mich verarscht, da bin ich mir ganz sicher. Dreizehn Jahre lang habe ich die letzten Worte aus dem Mund meines Vaters analysiert, und ich habe nicht mehr den geringsten Zweifel, dass diese beiden Silben mit demselben finsteren Sarkasmus gesprochen wurden wie alles, was ihm je über die Lippen kam. Der Scheißkerl. Der geniale, widerliche Scheißkerl.
Richard Urwins Sinn für Humor war, wie bei den meisten Vätern, gewöhnungsbedürftig. Zuweilen offenbarten die Tiefe und Komplexität seiner Witze den Verstand eines ehemaligen Mitglieds des Hochbegabtenclubs Mensa International (nach dem ersten Jahr war er zu knauserig, um seine Mitgliedschaft zu erneuern), doch bei anderen Gelegenheiten entbehrten sie jeglichen Geistes oder Geschmacks und man fragte sich, wie Mensa bloß auf die Idee gekommen war, diesem Mann einen überdurchschnittlichen IQ zu attestieren. Mein Bruder und meine Schwester erinnern sich an einen Vorfall, bei dem unser Vater die Zeit stoppte, die die Lüftung im Badezimmer noch lief, nachdem man das Licht ausgeschaltet hatte, sie dann nach oben rief und exakt in dem Augenblick mit den Fingern schnippte, in dem die Lüftung verstummte, und erwartete, dass seine Kinder beeindruckt wären von seiner Fähigkeit, Macht über Haushaltsgeräte auszuüben – oder wenigstens davon, dass er sieben Minuten ausgeharrt hatte, um die Zeit zu stoppen, und weitere sieben Minuten, um ihnen den Streich vorzuführen. Wenn er gewusst hätte, dass er seinen zweiundfünfzigsten Geburtstag nicht mehr erleben würde, hätte er womöglich nicht vierzehn Minuten seines Lebens damit vergeudet, darauf zu warten, dass eine Lüftung ausgeht (ach, wem will ich denn hier was vormachen, natürlich hätte er das).
Zu unserem großen Entsetzen trug er regelmäßig hautenge Lycra-Radlerhosen, was kurios war, denn sein Leben lang hat ihn niemand von uns je Fahrrad fahren sehen. Ein Freund der Familie bemerkte einmal: »Ich weiß nie, wo ich hinsehen soll, wenn Richard seine Radlershorts anhat.« Wahrscheinlich ging es bei seiner Vorliebe für dieses spezielle Kleidungsstück, genau wie bei der Episode mit der Badezimmerlüftung und vielen anderen Aspekten der Persönlichkeit meines Vaters, um das, was er mehr liebte als alles andere: Leute zu verarschen. Dieser Mann hatte sich mit Leib und Seele dermaßen der Unaufrichtigkeit verschrieben, dass er, als ich ihn fragte, wie es ihm ginge, nachdem er ein paar Tage wegen Grippe nicht zur Arbeit gewesen war, aufstand und erklärte: »Besser!« Und dann ging er ins Badezimmer, um zu sterben.
Gut möglich, dass er keine Ahnung hatte, dass er ein paar Sekunden später das Bewusstsein verlieren und neben der Toilette zu Boden sinken würde. Gut möglich, dass er log, um mich zu schützen. Aber die letztendliche Erklärung – und die, die ich am ehesten glaube – ist die, dass er wusste, dass er sterben würde, und fest entschlossen war, eine letzte Pointe zu landen, zum allerletzten Mal noch einen draufzusetzen. Und das nötigt mir verdammt großen Respekt ab. Die Vorstellung, dass der letzte Gedanke meines Vaters – während seine Sicht verschwamm und sich seine Lippen blau färbten, bevor er sich der kalten Hand des Todes anheimgab – »Ha, ha, ha! Hab ich dich drangekriegt, du kleiner Scheißer!« war, hat etwas seltsam Tröstliches. Ich glaube, das würde ihm gefallen.
Drei Wochen später feierte ich meinen zehnten Geburtstag (ich bekam ein neues Fahrrad, ich aß Kuchen, ich machte die ganzen Sachen, die man normalerweise so macht, wenn man endlich im zweistelligen Bereich angekommen ist). Ein paar Monate danach brachte ich von einer Preisverleihung in der Klasse den Titel »witzigster Schüler« mit nach Hause, bis dato undenkbar, hatte ich doch eine tugendhafte, arbeitsame Haltung zur Schule, immer hart an der Grenze zum Lehrerliebling. Doch meine Trauer in etwas umzulenken, was andere zum Lachen brachte, war viel besser, als mehrmals am Tag weinend zusammenzubrechen – was ich eigentlich viel lieber gemacht hätte und was mir sicher gutgetan hätte. Aber es ist schwer, gut mit so einem Trauma umzugehen, besonders wenn es die erste richtige Erfahrung damit ist, wie beschissen die Welt sein kann. Wenn man so etwas Schmerzliches erlebt hat, klammert man sich an alles Positive, und das manifestierte sich für mich vermutlich damals im Lachen meiner Schulkameraden, denn dieses Lachen bestätigte mich und gab mir in gewisser Weise einen Sinn. Außerdem wollen wir uns doch nichts vormachen, niemand will das Kind sein, das ständig um seinen toten Vater weint – die absolute verdammte Spaßbremse.
Als der Leichenbeschauer lange genug in der Hülle herumgewühlt hatte, die einundfünfzig Jahre lang meinen Vater beherbergt hatte, gab er einen tödlichen Herzinfarkt zu Protokoll, und ab ging’s mit Dad zu seinem feurigen Ende im Krematorium in Loughborough. Doch die Obduktion hatte auch erhebliches Narbengewebe zutage gefördert, das auf einen früheren Infarkt in den Monaten oder Jahren zuvor schließen ließ, und das war uns allen neu. Kurz darauf fand meine Mutter in einer Jackentasche meines Vaters ein frei verkäufliches Herzmedikament, und damit war klar, dass er gewusst hatte, dass irgendetwas im Schwange war, doch Brustschmerzen, die schon einmal beinahe zum Tod geführt hatten, waren in seinen Augen anscheinend nicht so wichtig, dass man sich damit an einen Arzt wandte. Typisch Dad!
Nach seinem Tod zog ich in fast allen Situationen den Witz der Aufrichtigkeit vor, denn die Vorstellung, am Wundschorf herumzupulen und den zerbrechlichen Menschen darunter bloßzulegen, war so ungefähr das Furchterregendste, was ich mir vorstellen konnte. Ein Charakterzug, der auch meinem Vater eigen war und den ich jetzt als einen seiner größten Fehler erkenne, der zu seinem zu frühen Tod geführt hat. Aber viele Männer sind so, es ist total typisch, und das hat mich letztendlich dazu inspiriert, das zu schreiben, was ihr heute lest.
Der sture Typ, der sich verlaufen hat, sich aber weigert, jemanden nach dem Weg zu fragen, ist eine weit verbreitete Karikatur – eine, auf deren Grundlage Leute wie Martin Clunes über dreißig Jahre lang Karriere im Fernsehen machen –, aber dieser Typ wurzelt auch in einer sehr realen, sehr destruktiven Vorstellung von Männlichkeit. Das Oxford Dictionary definiert Männlichkeit als »Besitz der Qualitäten, die traditionellerweise mit Männern in Verbindung gebracht werden«. Von jungen Jahren an werden wir darauf abgerichtet zu glauben, Schwäche einzugestehen wäre irgendwie schon selbst eine Schwäche, und es gibt eine ganze Reihe düsterer Statistiken, die belegen, was für ein Riesenproblem das ist.
Selbst wenn man den Bereich der Reproduktionsmedizin mit einrechnet, gehen Männer im Schnitt nur halb so oft wie Frauen zu ihrem Hausarzt oder ihrer Hausärztin,1 und man braucht kein Genie zu sein, um einzusehen, dass das ziemlich blödsinnig ist: Es scheint doch ziemlich unwahrscheinlich, dass Frauen doppelt so oft krank werden wie Männer. Im Vereinigten Königreich ist die Zahl frühzeitiger Todesfälle (jünger als fünfzig Jahre) bei Männern anderthalb Mal höher als bei Frauen,2 hauptsächlich aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Unfällen, Selbstmorden und Krebs – wobei die letztgenannte Todesursache womöglich der stärkste Beweis für das Zögern der Männer ist, Hilfe zu suchen. Hautkrebs zum Beispiel betrifft Männer und Frauen gleichermaßen, doch es sterben doppelt so viele Männer daran,3 denn wir befassen uns erst damit, wenn es zu spät ist.
Der Unterschied bei den Selbstmordraten ist der nächste Augenöffner. Obwohl Depressionen bei Frauen weitaus häufiger sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass britische Männer sich das Leben nehmen, dreimal so hoch wie bei Frauen.4
Ein Bericht der Samariter aus dem Jahr 20125 kommt zu dem Schluss, dass das soziale Konstrukt von Männlichkeit eine der Hauptursachen für dieses Ungleichgewicht ist. Der Bericht stellt fest, dass »Männern von Kindesbeinen an beigebracht wird, ›männlich‹ zu sein bedeute, keinen Wert auf soziale und emotionale Kompetenzen zu legen«, und im Gegensatz zu Frauen bestehe »die ›gesunde‹ Art, wie Männer klarkommen, darin, mit Hilfe von Musik oder Sport mit Stress oder Sorgen fertigzuwerden und nicht mit Reden«.
Auch Alkoholismus ist bei Männern viel weiter verbreitet als bei Frauen, was wohl hauptsächlich damit zu tun hat, dass Männer psychische Probleme gern mit Alkohol ›behandeln‹. Mein Großvater väterlicherseits hatte im Zweiten Weltkrieg gekämpft und den Krieg zwar de facto überlebt, doch der unsagbare Horror, den er mitangesehen hatte, hatte seine geistige und psychische Gesundheit so untergraben, dass er kaum noch zu etwas anderem imstande war als zu trinken. Sechs Jahre nach der Landung der Alliierten in der Normandie geboren, wuchs mein Vater wie viele Kinder jener geburtenstarken Jahrgänge mit einem Vater auf, der ihn wegen seiner tiefen emotionalen Verdrängung nicht lieben und der erst recht nicht über seine Gefühle sprechen konnte. Es ist ein vererbtes Leiden: Männer werden von Männern aufgezogen, die emotional nicht kommunizieren können; die Symptome, die wir heute als PTBS – Posttraumatische Belastungsstörung – kennen, sind zum Synonym für Männlichkeit geworden. Wenn man mal darüber nachdenkt, ist das alles total beschissen.
Das ist natürlich noch lange nicht alles. Frauen, die durch das Misstrauen ihrer Männer gegenüber Ärzten zu alleinerziehenden Witwen werden, müssen diesen Kollateralschaden quasi ausbaden, während wir Männer mit unserer Unfähigkeit zur Kommunikation ja schon von Anfang an jeden Versuch sabotieren, einem anderen Menschen wirklich nah zu kommen. Nicht zufrieden damit, bloß den Tod meines Vaters für das Schreiben noch einmal zu durchleben, kam ich auf die eigentlich doch ganz gute Idee, meine Exfreundin Megan zu bitten, mir zu verraten, welche speziellen Probleme sie in der beschissenen Zeit, als ich ihr Freund war, mit mir hatte.
»Ich glaube, das größte Ding war, dass deine Unfähigkeit zu kommunizieren es dir schwergemacht hat, deine eigenen Gefühle überhaupt wahrzunehmen und zu verarbeiten«, sagte sie. »Noch mehr als deine Unfähigkeit, sie mir gegenüber zum Ausdruck zu bringen, warst du es so gewohnt, alles wegzudrücken, dass du den Kontakt mit der Realität deiner Gefühle verloren hattest. Selbst wenn ich mit dem Finger auf eine problematische Situation zeigen konnte, hast du sie schlicht geleugnet. Ich musste schwierige Themen also nicht nur durchackern, sondern stand schon vorher vor der unüberwindlichen Aufgabe, dich dazu zu bringen zuzugeben, dass da überhaupt etwas durchzuackern war.«
Wie jede*r in einer glücklichen Partnerschaft einem sagen kann, ist Kommunikation der Schlüssel zu einer guten Beziehung (und natürlich, nicht mit Kolleg*innen ins Bett zu gehen, das hilft auch). Und das Schlimmste ist, dass wir das wissen. Sämtliche Bücher und Fernsehsendungen, die sich mit solchen Themen befassen, hämmern es uns ins Hirn. Aber wir ignorieren es munter und brettern in der irrigen Annahme, diese Regeln würden nur für andere gelten, einfach weiter.
Und was zum Teufel können wir dagegen tun? Es ist leicht, die Sache als aussichtslos abzutun, als zu fest in unserer Kultur verankert, um je wirklich etwas daran ändern zu können. Die Persönlichkeit der halben Weltbevölkerung lässt sich nicht über Nacht verändern (und das ist gut so, denn Selbstironie, Zynismus und leichte Formen passiv-aggressiven Verhaltens sind ja nicht nur schlecht). Aber versuchen könnte man es, und zwar mit etwas ganz Einfachem, mit Reden. Wir tun das jeden Tag, warum also nicht über das, was wirklich wichtig ist? Wir haben sehr viel Übung darin, den Mund auf und zu zu machen, um Laute zu produzieren, wir müssten diese Laute nur ein wenig variieren, dann könnte am Ende etwas dabei herauskommen, was uns richtig gut tut.
In den letzten paar Jahren habe ich gelernt zu reden, aber es fällt mir immer noch schwer, deswegen habe ich angefangen, diese Gedanken aufzuschreiben und mich damit an mir vollkommen fremde Menschen zu wenden; das sorgt für eine gewisse Distanz und erlaubt mir, mich zu öffnen, was mir im unmittelbaren Gespräch mit Menschen, an denen mir etwas liegt, oft noch schwerfällt. Natürlich kann das nicht jeder so machen, und ich fühle mich sehr privilegiert, eine Plattform zu haben, von der ich ab und zu ein wenig dämlichen Dampf ablassen kann. Ein großer Teil von dem, was ihr gerade lest, stand schon in einem Artikel, den ich unter dem Titel »A Stiff Upper Lip Is Killing British Men«6 im Oktober 2014 für das Online-Magazin VICE schrieb. Ironischerweise endete der Text damit, dass ich Männer aufrief, sich ein wenig Zeit zu nehmen und sich auf zeitgemäße Weise mit dem Thema zu befassen, denn ich wollte ja schließlich kein ganzes Buch darüber schreiben, verdammt. Vor allem, weil ich überzeugt war, dass niemand ein ganzes verdammtes Buch darüber lesen wollte, denn das liefe am Ende doch darauf hinaus, die Existenz von etwas anzuerkennen, das wir eigentlich lieber weiterhin geflissentlich ignorieren. Vor der Veröffentlichung des Beitrags hatte ich mir überlegt, wie die Reaktionen darauf wohl ausfallen würden, und mir vorgestellt, die wenigen Kommentare würden entweder rundweg leugnen, dass das überhaupt ein Thema war, oder es wären die vorhersehbaren Unfreundlichkeiten unter der Gürtellinie, oder sie stammten von ein paar ruppigen Typen, die mir erklärten, ich sollte mich zusammenreißen und mich, na ja, verhalten wie ein richtiger Mann.
Ich wäre zufrieden gewesen mit ein paar Facebook-Likes, der obligatorischen Hand voll Sympathie-Tweets aus dem Freundeskreis und einer E-Mail von meiner Mutter, in der sie mir erklärte, wie stolz sie auf mich war, aber könnte ich bei meinem nächsten Artikel nicht doch vielleicht die folgenden Änderungen an Stil und Inhalt in Erwägung ziehen, und musste ich immer so viel fluchen? – was Mütter halt so schreiben. Aber, nein, ihr kleinen Scheißer, ihr wolltet es anders, was? Ihr musstet kommen und mir eine positivere und freundlichere Seite des Internets zeigen, ihr musstet meine Vorurteile plattwalzen und meine Seele mit einem Sperrfeuer positiver und ermutigender Worte schroten. Ihr habt Kontakt zu mir aufgenommen und euch bei mir dafür bedankt, dass ich es geschrieben habe.
Der Beitrag wurde am Freitagmorgen eingestellt, und ich wollte meinen Tag in Angriff nehmen wie immer, doch dann kamt ihr daher und ich verbrachte den Rest des Tages in einem ziemlich losgelösten Zustand, während ich ehrfürchtig zusah, wie das Ding um die Welt ging. Den größten Teil des Nachmittags saß ich vor meinem Laptop, stieß ab und zu ein seltsames, verwirrtes Wimmern aus, durchsetzt von manischem Gelächter und der unzählige Male wiederholten Frage: »Was zum Teufel geht denn da ab?« Journalist*innen und Autor*innen, die ich sehr bewundere, lobten den Artikel. Irvine Welsh nannte ihn »phantastisch«: Diesem verdrehten, durchgeknallten, unglaublichen Typen, der sich Francis Begbie ausgedacht hat, gefiel mein Geflenne über tote Väter – eine Reaktion, mit der ich wahrlich nicht gerechnet hatte.
In den ersten paar Stunden seiner Existenz wurde »A Stiff Upper Lip« zehntausende Male rund um den ganzen Globus geteilt und von Menschen mit Lob bedacht, deren Lob Schriftsteller*innen sehr viel bedeutet. Ganz ehrlich? Das hat mir großen Spaß gemacht. Nachdem der erste Schock sich gelegt hatte, fragte ich mich allmählich, warum das passiert war. Was an meinem Artikel hatte dazu geführt, dass sich Köpfe umwandten und Gespräche entzündeten? Kurz erwog ich, dass es vielleicht schlicht und einfach daran lag, dass ich so ein exzellenter Schreiber war, doch dann las ich meine unbeholfenen Worte noch einmal und erinnerte mich daran, dass ich nicht die geringste Ahnung von Grammatik habe. (Ich mache keine Witze, wenn ich sage, dass ich in neunzig Prozent der Fälle total improvisiere – dem Himmel sei Dank für Redakteur*innen.) Nachdem ich diese Theorie begraben hatte, schien es wahrscheinlich, dass die Antwort in einer Wahrheit lag, die die meisten Menschen vor langer Zeit akzeptiert haben, über die aber selten gesprochen wird.
Ich hatte zwar im Wesentlichen über eine persönliche Erfahrung geschrieben, doch deren Universalität lag klar auf der Hand. Jede*r Einzelne, der den Beitrag las, konnte sich damit identifizieren. In meinem Vater sahen sie sich selbst, ihre eigenen Väter, ihre Brüder, ihre Lebensgefährten. Es war erstaunlich, dass sich so viele Menschen mit einem radlerhosentragenden Pharmavertreter mittleren Alters identifizieren konnten, aber es zeigte auch, dass wir als Gesellschaft diesen Dialog dringend führen müssen. Und das bringt uns zu diesem Buch.
In den ursprünglich 1.500 Wörtern hatte ich einige Themen ziemlich oberflächlich angeschnitten. Doch darüber hinaus gibt es noch sehr viel mehr zu sagen. Hinzu kommen zahllose Probleme, die hier zum ersten Mal behandelt werden. Dieses Buch soll kein Urteil über ein einzelnes Individuum sein, denn genau diese Haltung hat schon zu sehr viel Leid und Krankheit geführt. Dieses Buch soll ein Buch für jeden Mann sein, besonders für den ›Jedermann‹. Die meisten von uns, und das schließt mich ein, wissen nicht das Geringste über Gender Studies oder Gendersoziologie, doch das hier soll keine trockene, akademische Abhandlung werden – denn dann kommt ihr nicht durch. Verdammt, ich würd’s auch nicht bis zum Ende schaffen! Aber wo es nötig ist, werde ich Expert*innen hinzuziehen, denn ich weiß nicht alles, und ich will das, was ich sage, mit intelligenten Fakten untermauern. Ich gehe die Fragen direkt an, und zwar in unser aller Interesse.
Für die, die noch unentschlossen in dieser Einleitung blättern und überlegen, ob es die Zeit wert ist, will ich diese Bedenken hier gleich aus dem Weg räumen. Also, für wen ist dieses Buch? Dieses Buch ist für alle, die in irgendeiner Weise von Männlichkeit betroffen sind (also: für alle). Unsere gesellschaftliche Auffassung von Männlichkeit schadet nicht nur emotional verkümmerten Männern, sondern jedem einzelnen Menschen auf dieser Welt, ungeachtet von Gender, Sexualität und anderen Faktoren. Verdammt, sagt ihr, du kannst uns nicht einfach erzählen, in deinem Buch ginge es um etwas, was offensichtlich in irgendeiner Hinsicht JEDEN betrifft, und uns dann alle beschwören, es zu lesen. O doch, Mann. O doch.
Aber ich schweife ab. Die Reaktionen auf meinen Internet-Beitrag schienen sehr treffend. So eine Diskussion über Männlichkeit und wie sich ein echter Mann verhält hat es zuvor noch nicht gegeben, verhindert, vermutlich, durch Männlichkeit und Sich-Verhalten wie ein echter Mann, was meiner Meinung nach der Hauptgrund dafür war, dass sich so viele Menschen davon angesprochen fühlten. Als ich an dem Abend in der Buffalo Bar in Islington auflief, wo ich am Wochenende arbeitete, musste ich die Benachrichtigungstöne an meinem Handy auf stumm schalten. In einer Pause saß ich im Büro und schaute rasch bei Twitter vorbei, und da entdeckte ich Irvine Welshs Kommentar. Aufgeregt erzählte ich es Michael, dem Wirt, und er verlangte, ich solle den Artikel auf den Computer überspielen, damit er ihn lesen konnte, und nachdem er ihn gelesen hatte, brachte er mir seine Anerkennung darüber zum Ausdruck. Wenn ihr das Glück hattet, Michael Buffalo kennenzulernen, bevor die Baulöwen uns aus dem Gebäude schmissen, versteht ihr vielleicht, warum das für mich ein sehr aufregender Augenblick war: Mit seinem breiten Geordie-Dialekt, seinen unflätigen Sprüchen und seiner Neigung, Gästen gelegentlich ins Gesicht zu sagen, sie seien Wichser (zu seiner Verteidigung sei gesagt, dass er das nur tat, wenn sie wirklich Wichser waren), könnte man diesen Mann mühelos als im ›traditionellen‹ (man achte auf die Anführungsstriche!) Sinne männlich beschreiben – und deswegen bedeutete mir sein Lob besonders viel.
Ein paar Tage später bekam ich eine SMS von meinem ehemaligen Mitbewohner Cameron. Ich liebe Cam sehr, aber er arbeitet im Finanzsektor und widmet sich in seiner Freizeit hauptsächlich dem Sport, und damit bewegt er sich in einer Kultur, die ich als ziemlich machomäßig bezeichnen würde. Er und ich, wir sind wirklich sehr verschieden. In seiner SMS schrieb er, er habe den Artikel gelesen und ihn toll gefunden, weil er ihn dazu gebracht habe, über seine eigene Unfähigkeit zu reden nachzudenken. Seine Worte waren ein wichtiger Anstoß dafür, das hier zu schreiben. Den liberalen, für soziale Gerechtigkeit kämpfenden Typen, in deren Kreisen ich mich im Allgemeinen bewege, zu gefallen, ist eine Sache, doch dass ich damit sogar zu Cam durchdringen konnte, ließ mich begreifen, was für ein mächtiges Ding diese Debatte sein könnte. Aber vor allem gab es mir die Hoffnung, vielleicht ganz allmählich, Stück für Stück, etwas verändern zu können.
Im Januar 2016, während ich dies schreibe, kann ich nicht umhin zu bemerken, dass es für die Männlichkeit und die Gespräche über Männer, die wir in Gang gebracht haben, ganz schön turbulente fünfzehn Monate waren. Letztes Jahr hat der Rapper Professor Green sich in dem beeindruckenden Dokumentarfilm Suicide and Me mit dem Freitod seines Vaters befasst, was einem vorkam wie ein gewaltiger Durchbruch in der Art und Weise, wie wir uns diesem schrecklichen Thema annähern. Aber wir haben auch mitangesehen, wie Reggie Yates in die Welt von Pick-Up-Artists eintauchte und uns eine finstere, rückschrittliche Seite von Männern und Männlichkeit zeigte. Aktivisten der Männerrechtsbewegung – eine Art Aktionsgruppe für Antifeministen – schikanieren Frauen weiterhin für die Leiden, denen sich das männliche Geschlecht gegenübersieht, und geben ihnen die Schuld daran. Toxische Männlichkeit – ein Begriff, auf den ich in diesem Buch immer wieder zurückkommen werde – heizt weiterhin Gewalt, Massenmord und Vergewaltigung an. Manches wird besser, vieles nicht. Wir müssen uns damit auseinandersetzen, bevor es zu spät ist, jedem Einzelnen von uns zuliebe.
Wenn mein Vater gelernt hätte, sich ein wenig mehr zu öffnen, hätte er vielleicht nicht sein Leben lang jede Hilfe ausgeschlagen und wäre womöglich noch unter uns. Er hätte der Welt ein weiteres unnötig ausschweifendes Buch über einen emotional distanzierten Vater ersparen können, und ich hätte noch jemanden, der missbilligende Worte murmelt, sobald ich das Gespräch auf meine Karriere, meine Wohnsituation oder mein Leben bringe. Mit Hypothesen allein kommen wir nicht weit, aber solange wir uns nicht mit unserer Unfähigkeit uns zu öffnen befassen, sterben wir früh und unnötig und zerstören die Beziehungen, die wir haben, solange wir auf der Welt sind. Mag sein, dass ich mit diesem Buch keine Revolution anzettele, aber wenn nur eine Handvoll Menschen liest, warum wir so geworden sind, wie sehr wir die um uns herum verletzen und was wir tun können, um Männer zu einer positiven Kraft in dieser Welt zu machen, dann hat es sich gelohnt, dass ich verdammt viele Stunden in Online-Foren verbracht habe, um zu diskutieren, wann ich »dass« und wann »wie« verwenden muss, und dann ist es auch die niederschmetternde Erkenntnis wert, dass ich es wahrscheinlich schon wieder vergessen habe.