Umgeben Von Feinden

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Aus der Reihe: Ein Luke Stone Thriller #4
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Er warf Kurt einen Blick zu. „Das sind alle Details, die ich habe. Was sagen Sie dazu?“

Kurt hielt einen Moment inne, dann nickte er. „Sicher. Hier ist meine spontane Meinung dazu. Belgien hat mich in den letzten Jahren aus offensichtlichen Gründen stark beschäftigt.“ Er wandte sich an eine Beraterin, die hinter ihm stand. „Amy, können Sie uns eine Karte von Belgien aufrufen? Zoomen Sie auf Molenbeek und Kleine Brogel, bitte.“

Die junge Frau gab etwas auf ihrem Tablet ein, während ein anderer Berater den Hauptmonitor hinter Kurt einschaltete. Es vergingen einige Sekunden. Der Monitor durchlief ein paar interne Tests und zeigte dann einen blauen Desktop. Ein leises Gesprächsgewirr setzte wieder ein.

Kurt beobachtete seine Beraterin. Sie nickte ihm zu, woraufhin er zur Präsidentin blickte.

„Susan, sind Sie bereit?“

„Jederzeit.“

Auf dem Bildschirm hinter ihm erschien eine Karte von Europa. Schnell vergrößerte sie sich auf Westeuropa und schließlich auf Belgien.

„Okay. Hinter mir sehen Sie eine Karte von Belgien. Es gibt zwei Standorte in diesem Land, auf die ich Sie aufmerksam machen möchte. Der erste ist die Hauptstadt Brüssel.“

Hinter ihm wurde die Karte herangezoomt. Nun zeigte sie das dichte Netz einer Stadt, die von einer Ringautobahn umgeben war. Die Karte wurde in die obere linke Ecke verschoben, und es wurden mehrere Fotos von Kopfsteinpflasterstraßen, einem Regierungsgebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert und einer stattlichen und verzierten Brücke über einem Kanal gezeigt.

Er wandte sich an seine Beraterin. „Bringen Sie bitte Molenbeek auf den Bildschirm.“

Die Karte wurde erneut herangezoomt und es erschienen weitere Fotos von Straßen. Auf einem der Fotos war eine Gruppe bärtiger Männer zu sehen, die ein weißes Banner trugen und ihre Fäuste in den Himmel reckten. Am oberen Rand des Banners waren schwarze arabische Schriftzeichen zu sehen. Darunter befand sich ihre Übersetzung:

Nein zur Demokratie!

„Molenbeek ist ein Vorort mit etwa 95.000 Einwohnern. Es ist der am dichtesten besiedelte Stadtteil Brüssels und Teile davon sind bis zu achtzig Prozent muslimischer, meist türkischer und marokkanischer Abstammung. Es ist eine Brutstätte des Extremismus. Die bei dem Angriff auf das Magazin Charlie Hebdo verwendeten Waffen wurden zuvor in Molenbeek zwischengelagert. Die Pariser Terroranschläge von 2015 wurden dort geplant und die Täter dieses Verbrechens sind allesamt Männer, die in Molenbeek aufgewachsen sind und dort gelebt haben.“

Kurt sah sich im Raum um. „Kurz gesagt, wenn in Europa gerade Terroranschläge geplant werden, und wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass das der Fall ist, dann stehen die Chancen ziemlich gut, dass die Planung in Molenbeek stattfindet. Sind wir uns soweit einig?“

Eine Welle der Zustimmung ging durch den Raum.

„Okay, sehen wir uns Kleine Brogel an.“

Auf dem Bildschirm wurde die Karte herausgezoomt, etwas nach rechts gescrollt und dann wieder hereingezoomt. Luke konnte Start- und Landebahnen und Gebäude auf einem ländlichen Flugplatz unweit einer Kleinstadt ausmachen.

„Der Stützpunkt Kleine Brogel“, sagte Kurt. „Ein belgischer Militärflugplatz, der etwa 95 Kilometer östlich von Brüssel liegt. Das Dorf, das Sie dort sehen, ist die Gemeinde Kleine Brogel, daher der Name des Stützpunktes. Der Stützpunkt ist die Heimat des belgischen Zehnten Taktischen Geschwaders. Sie fliegen F-16 Falcons, Überschalljäger, die unter anderem B61-Atombomben laden können.“

Auf dem Bildschirm verschwand die Karte und ein Bild öffnete sich. Es handelte sich um eine raketenförmige Bombe, die auf einem Rollenträger montiert und unter dem Rumpf eines Kampfjets angebracht war. Die Bombe war lang und glatt, grau mit einer schwarzen Spitze.

„Hier sehen Sie die B61“, sagte Kurt. „Etwa 3,5 Meter lang und dreißig Zentimeter im Durchmesser und mit einem Gewicht von etwa 320 Kilogramm. Die Explosionskraft dieser Waffe ist variabel und kann bis zu 340 Kilotonnen ausrichten, was etwa das Zwanzigfache der Explosion in Hiroshima ist. Vergleicht man das mit den Megatonnen, die große ballistische Raketen aufbringen, wird deutlich, dass die B61 eine kleine taktische Atombombe ist. Sie ist so konzipiert, dass sie von schnellen Flugzeugen, wie der F-16, getragen werden kann. Sie sehen ihren stromlinienförmigen Aufbau – so kann sie den Geschwindigkeiten standhalten, die ihre Trägerflugzeuge erreichen. Es handelt sich um von den USA hergestellte Bomben, die wir im Rahmen unserer NATO-Vereinbarungen mit Belgien teilen.“

„Die Bomben sind also dort vor Ort?“, sagte Susan.

Kurt nickte. „Ja. Ich würde sagen, etwa dreißig von ihnen. Ich kann Ihnen die genaue Zahl in Erfahrung bringen, wenn wir sie brauchen sollten.“

Ein weiteres Raunen ging durch den Raum.

Kurt hob seine Hand. „Es wird noch besser. Kleine Brogel ist in Belgien politisch stark umstritten. Viele Belgier mögen die Tatsache nicht, dass die Bomben dort lagern und wollen sie aus dem Land haben. Im Jahr 2009 beschloss eine Gruppe belgischer Friedensaktivisten, allen zu zeigen, wie unsicher die Bomben waren. Sie konnten ungehindert in den Stützpunkt eindringen.“

Die Karte erschien wieder auf dem Bildschirm. Kurt zeigte einen Bereich entlang der südlichen Seite der Basis an. „Südlich des Flugplatzes befinden sich einige Milchviehbetriebe. Die Aktivisten liefen über das Ackerland und kletterten dann über den Zaun. Sie liefen mindestens fünfundvierzig Minuten lang um den Stützpunkt herum, bevor jemand bemerkte, dass sie dort waren. Als sie schließlich abgefangen wurden – übrigens von einem belgischen Piloten mit einem ungeladenen Gewehr – standen sie direkt vor einem Bunker, in dem einige der Bomben gelagert waren. Sie hatten bereits Slogans auf den Bunker gesprüht und einige ihrer Aufkleber aufgeklebt.“

Weitere Stimmen erhoben sich im Raum, dieses Mal lauter und eindringlicher.

„Okay, okay. Das war ein ernsthafter Sicherheitsmangel. Aber bevor wir uns zu sehr aufregen, sollten uns einige Dinge klar sein. Zum einen waren die Bunker verschlossen – es bestand keine Gefahr, dass die Aktivisten hineinkamen. Außerdem sind die Bomben in unterirdischen Kammern gelagert – selbst, wenn die Aktivisten es irgendwie hineingeschafft hätten, hätten sie die hydraulischen Aufzüge nicht betätigen können, um die Bomben an die Oberfläche zu bringen. Die Aktivisten waren zu Fuß unterwegs, so dass sie, selbst wenn es ihnen gelungen wäre, die Aufzüge zu bedienen, mit einer 350 Kilogramm schweren Waffe nicht sehr weit gekommen wären.“

„Wie schätzen Sie also insgesamt das Risiko ein, wenn man all das berücksichtigt?“, fragte Haley Lawrence.

Kurt machte eine lange Pause. Er schien einen Moment lang auf etwas zu starren, das nur er sehen konnte. Für Luke schien es, als wenn Kurts Verstand ein Taschenrechner war, der derzeit die verschiedenen Elemente, die er gerade beschrieben hatte, mit Zahlen versah und sie dann addierte, subtrahierte, multiplizierte und dividierte.

„Hoch“, sagte er.

„Hoch?“

Kurt nickte. „Ja, natürlich. Es ist eine Bedrohung auf höchster Ebene. Könnte eine Gruppe planen, eine Bombe aus Kleine Brogel zu stehlen? Auf jeden Fall. Das ist nicht das erste Mal, dass wir diese Idee hören – sie kommt immer wieder in Gesprächen von terroristischen Netzwerken auf, die die NSA und das Pentagon abhören. Eine Terrorzelle in Brüssel könnte einen oder mehrere Kontakte auf dem Luftwaffenstützpunkt haben, die ihnen helfen können – das ist ein sehr wahrscheinliches Szenario. Ja, die Bomben sind zwar ohne die nuklearen Codes nicht einsatzfähig und sie sollen eigentlich mit Überschallflugzeugen abgeworfen werden. Aber was ist, wenn die Iraner die Bomben einfach nur umbauen wollen, oder sogar nur das nukleare Material extrahieren wollen? Die Militanten in Molenbeek sind in der Regel Sunniten und sie hassen den Iran. Vielleicht sind unsere Verdächtigen auch Söldner, die bereit sind, an den Meistbietenden zu verkaufen.

„Oder ein anderes Szenario“, fuhr Kurt fort. „Die somalische Luftwaffe hat eine Handvoll veralteter Überschallflugzeuge. Die meisten sind in einem schlechten Zustand, aber ich wette, ein oder zwei könnten noch in die Luft gehen. Die somalische Regierung ist schwach, wird ständig vom radikalen Islam angegriffen und steht am Rande des Zusammenbruchs. Was ist, wenn militante Islamisten eines dieser Flugzeuge beschlagnahmen, eine Bombe laden und das gesamte Flugzeug in einem nuklearen Selbstmordanschlag zum Absturz bringen?“

„Haben Sie nicht gerade gesagt, dass die Bomben ohne die Codes nicht funktionieren werden?“, fragte Susan.

Kurt zuckte die Achseln. „Nukleare Codes gehören zu den fortschrittlichsten Verschlüsselungen der Welt. Soweit wir wissen, ist noch nie einer gehackt, kopiert oder gestohlen worden. Aber das bedeutet nicht, dass es nicht passieren könnte. Bei der Planung für den schlimmsten Fall würde ich sagen, dass die sicherste Annahme ist, dass die Codes eines Tages geknackt werden, falls das nicht schon geschehen ist.“

„Was sollten wir also Ihrer Meinung nach tun?“

Kurt zögerte mit seiner Antwort nicht. „Die Sicherheitsmaßnahmen auf dem Luftwaffenstützpunkt Kleine Brogel erhöhen. Sofort. Wir haben Truppen dort stationiert, aber sie sind in ständiger Spannung mit den Belgiern. Wenn wir die Sicherheit dort erhöhen möchten, müssen wir auf einige Füße treten. Ich würde auch die Sicherheitsmaßnahmen in den anderen NATO-Stützpunkten, in denen amerikanische Atomwaffen gelagert sind, erneut überprüfen. Ich denke, wir werden feststellen, dass diese in einem ziemlich guten Zustand sind. In Sachen Sicherheit sind die Belgier denke ich am schlechtesten bestellt.

„Schließlich würde ich etwas tun, was ich schon eine Weile lang tun wollte – ein paar Spezialagenten vor Ort in Brüssel einsetzen, insbesondere in Molenbeek. Lassen Sie sie herumschnüffeln und Fragen stellen. Das wäre eigentlich die Aufgabe der belgischen Behörden, allerdings vernachlässigen sie die Sache. Es muss nicht unbedingt eine Geheimoperation sein – vielleicht ist es sogar besser, wenn es keine ist. Es müssen nur die richtigen Agenten eingesetzt werden, Agenten, die kein ‚Nein‘ akzeptieren. Lassen Sie sie einige harte Gespräche führen.“

 

Inzwischen vollkommen erschöpft hörte Luke nur noch halb zu. Er versuchte nur noch, bis zum Ende dieser Besprechung durchzuhalten. Langsam wurde ihm bewusst, dass viele der Menschen im Raum ihn anstarrten.

Er hob seine Handflächen und lehnte sich zurück.

„Danke“, sagte er, „aber nein.“

* * *

„Also, wer will dich töten?“, fragte Susan.

Luke saß in einem Ledersessel in der Sitzecke des Oval Office. Unter seinen Füßen befand sich das Siegel des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Als er das letzte Mal hier gewesen war, hatte ihn der Geheimdienst mit dem Gesicht nach unten gegen dieses Siegel gedrückt. Aber das war natürlich ein anderer Teppich gewesen – obwohl er identisch aussah, war dies ein völlig neuer Raum. Der alte war zerstört worden. Für einen Moment hatte er das vergessen.

Mann, war er müde.

Ein Berater hatte Luke eine Tasse Kaffee in einer Styropor-Tasse gebracht. Vielleicht würde ihm das helfen, aufzuwachen. Er nippte daran – der Kaffee der Präsidentin war immer gut.

„Ich weiß es nicht“, sagte er. „Das Letzte, was ich hörte, war, dass sie einige DNA- und Fingerabdrucktests an dem Toten durchgeführt haben.“

Luke studierte Susans Gesicht. Sie war gealtert. Die Linien in ihrer Haut hatten sich vertieft und waren zu Falten geworden. Die Haut selbst war nicht so fest und geschmeidig wie früher. Irgendwie hatte sie ihre jugendliche Schönheit bis ins mittlere Alter bewahrt, aber in ihren sechs Monaten als Präsidentin hatte die Zeit sie eingeholt.

Luke dachte an den jugendlichen Abraham Lincoln, der Präsident werden sollte, ein Mann, der so energisch und körperlich mächtig gewesen war, dass er für seine körperlichen Meisterleistungen bekannt war. Vier Jahre später, kurz vor seiner Ermordung, hatte ihn der Stress des Bürgerkriegs zu einem gebrechlichen und schrumpeligen alten Mann gemacht.

Susan war immer noch schön, aber etwas war anders. Sie sah fast verwittert aus. Er fragte sich, was sie darüber dachte, oder ob sie es überhaupt schon bemerkt hatte. Dann beantwortete er seine eigene Frage – natürlich hatte sie es bemerkt. Sie war ein ehemaliges Supermodel. Sie würde wahrscheinlich die kleinsten Veränderungen an ihrem Aussehen bemerken. Zum ersten Mal fiel ihm das Kleid auf, das sie trug. Es war tiefblau, sehr schick und drapierte sich perfekt an ihrem Körper. Das Dekolleté war gerüscht – wenn auch sehr dezent.

„Hey, schönes Kleid“, sagte er.

Sie zeigte spöttisch auf sich selbst. „Dieses alte Ding? Ach, das habe ich einfach aus dem Kleiderschrank gefischt. Du wusstest doch, dass die Zeremonie heute ist, oder?“

Luke nickte. „Es ist erstaunlich“, sagte er. „Die Art und Weise, wie sie diesen Ort wieder genau so aufgebaut haben, wie er vorher war.“

„Es ist ein bisschen unheimlich, wenn du mich fragst“, sagte Susan. Sie blickte sich in dem Raum mit der hohen Decke um. „Ich habe fünf Jahre lang im Marineobservatorium gelebt. Ich liebe dieses Haus. Es würde mir nichts ausmachen, dort den Rest meines Lebens zu verbringen. An das Weiße Haus werde ich mich erst einmal gewöhnen müssen.“

Sie verfielen in Schweigen. Luke war nur hier, um seine Ehrerbietung zu erweisen. Er war drauf und dran, sie um ein Auto oder besser noch um einen Hubschrauber zu beten, um ihn zurück an die Ostküste zu bringen.

„Also, was denkst du?“, fragte sie.

„Was denke ich? Worüber?“

„Über das Treffen, das wir gerade hatten.“

Luke gähnte. Er war müde. „Ich weiß nicht, was ich denken soll. Haben wir Atomwaffen in Europa? Ja. Sind sie verwundbar? Es klingt, als könnten sie sicherer sein. Abgesehen davon…“

Seine Stimme verlor sich.

„Wirst du hingehen?“, fragte sie.

Luke lachte fast. „Du brauchst mich nicht in Belgien, Susan. Stell einfach ein zusätzliches Sicherheitskommando an der Basis dort auf, vorzugsweise Amerikaner und vorzugsweise mit geladenen Waffen. Das sollte reichen.“

Susan schüttelte den Kopf. „Wenn es sich um eine glaubwürdige Bedrohung handelt, sollten wir ihren Ursprung bekämpfen. Hör mal, wir haben uns schon viel zu lange bei den Belgiern eigeschleimt. Es sind zu viele Angriffe aus Brüssel gekommen und ich möchte diese Netzwerke zerschlagen. Es ist überraschend, dass sie nach den Angriffen von Paris nicht ganz Molenbeek hochgenommen haben. Manchmal frage ich mich, auf wessen Seite sie stehen.“

Luke hob seine Hände. „Susan…“

„Luke“, sagte sie. „Ich brauche dich. Es gibt da etwas, was wir eben nicht besprochen haben. Das macht die Sache noch viel dringlicher, als du vielleicht denkst. Kurt weiß davon, ich weiß davon, aber sonst niemand.“

„Und was wäre das?“

Sie zögerte. „Luke…“

„Susan, du hast mich gestern angerufen und mich gebeten, innerhalb von zwei Stunden nach Colorado zu fliegen. Ich habe getan, was du wolltest. Jetzt willst du auf einmal, dass ich nach Belgien gehe. Du sagst mir, es sei wichtig, aber du willst mir nicht verraten, warum. Wusstest du, dass meine Frau Krebs hat? Ich sage das nur, damit du genau weißt, was du hier von mir verlangst.“

Eine Sekunde lang überlegte er, ihr mehr zu erzählen, vielleicht alles. Dass er und seine Frau sich getrennt hatten. Dass sie aus einer wohlhabenden Familie stammte, er aber kein Geld von ihr wollte. Er wollte nur seinen Sohn regelmäßig sehen und Becca drohte ihm, selbst dieses Recht zu entziehen. Sie hatte einen Sorgerechtsstreit geplant und jetzt hatte sie Krebs. Sie würde wahrscheinlich sterben. Und trotzdem wollte sie kämpfen. Die ganze Sache hatte Luke umgehauen. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte oder an wen er sich wenden konnte. Er fühlte sich völlig verloren.

„Luke, das tut mir so leid.“

„Danke. Es ist schwer. Wir hatten sowieso eine Menge Probleme und jetzt das.“

Sie starrte ihm direkt in die Augen. „Wenn es irgendwie hilft, ich verstehe, wie du dich fühlst. Meine Eltern starben, als ich noch jung war. Mein Mann scheint sich aus unserer Ehe verabschiedet zu haben und ein Einsiedler geworden zu sein. Ich mache ihm nicht einmal Vorwürfe. Wer würde das nicht tun, bei dem, was ihm zugemutet wird? Aber er hat meine Mädchen mitgenommen. Ich weiß, wie es ist, sich allein zu fühlen – ich schätze, das ist es, was ich sagen will.“

Luke war überrascht, dass sie sich ihm so öffnete. Es machte ihm klar, wie sehr sie ihm vertraute und brachte ihn dazu, ihr noch mehr helfen zu wollen.

„Okay“, sagte Luke. „Dann sag mir, warum die Sache so wichtig ist.“

„Es gab einen Datenleak im Energieministerium. Niemand weiß bisher, in welchem Umfang, ob es ein Unfall war oder geplant. Wir wissen noch nichts. Viele Informationen sind einfach verschwunden, darunter Tausende von alten Nuklearcodes. Niemand konnte uns bis jetzt sagen, ob das überhaupt schlimm ist – wir wissen nicht, ob sie überhaupt noch funktionieren. Es wird einige Zeit dauern, das aufzuklären, aber in der Zwischenzeit können wir uns nicht leisten, eine Atomwaffe zu verlieren.“

Er lehnte sich zurück. Sie hatte ihn überzeugt. Mit etwas Glück würde er ankommen, ein paar Köpfe einschlagen, die Sicherheitsprotokolle verschärfen und in ein paar Tagen zurück sein – keine große Sache. Vor seinem geistigen Auge sah er Gunner im Hinterhof Basketball spielen.

Ganz allein.

„Okay“, sagte Luke. „Ich werde mein Team brauchen. Ed Newsam, Mark Swann. Die dritte im Bunde fehlt momentan. Ich brauche einen Sicherheitsexperten, der Trudy Wellington ersetzt. Jemand Gutes.“

Susan nickte und lächelte voller Dankbarkeit.

„Was auch immer du brauchst.“

KAPITEL ACHT

17:15 Uhr (Eastern Daylight Time)

Der Himmel über dem Atlantischen Ozean

„Sind wir so weit, Kinder?“

Der sechssitzige Learjet düste über den Nachmittagshimmel nach Nordosten. Der Jet war dunkelblau und trug das Siegel des Geheimdienstes auf seiner Seite. Hinter ihm begann die Sonne unterzugehen. Luke blickte aus seinem Fenster in Richtung Osten. Vor ihnen war es bereits dunkel – es war Spätherbst und die Tage wurden immer kürzer. Weit unten war der Ozean endlos und tief grün.

Luke wirkte motiviert, wie stets vor einer Mission, aber heute war es nur Routine. Er fühlte genau das Gegenteil. Er war schon zu lange wach. Zu viel lastete auf ihm. Und er hatte einen Job angenommen, den er wahrscheinlich nicht unbedingt hätte annehmen müssen.

Er und sein Team nutzten die vier vorderen Passagiersitze als Lagezentrum. Ihr Gepäck und ihre Ausrüstung hatten sie auf den hinteren Sitzen verstaut.

Auf dem Sitz gegenüber dem Gang saß der große Ed Newsam, in einer khakifarbenen Cargo-Hose, einem langärmeligen T-Shirt und einer leichten Jacke. Er hatte eine Sonnenbrille auf, da die Sonne durch die Fenster auf seinen Sitz fiel. Wenn er entspannt war, fiel sämtliche Spannung aus seinem muskulösen, hyper-athletischen Körper. Er sah aus wie ein platter Reifen. Eds Aufgabenbereich war Waffen und Taktik und Luke konnte sich niemanden vorstellen, der besser dafür geeignet war. Ed selbst war eine tödliche Waffe und der stärkste Mann, den Luke kannte.

Links gegenüber von Luke saß Mark Swann. Er war groß und dünn und hatte langes, sandiges Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war. Außerdem hatte er eine schicke, schwarz gerahmte, rechteckige Brille von Calvin Klein an. Seine langen Beine hatte er auf dem Gang ausgestreckt. Er trug eine alte, verblasste Jeans und ein Paar große, schwarze Doc-Marten-Kampfstiefel. Die Stiefel brachten Luke zum Lächeln – der Mann hatte noch nie eine Minute echten Kampfes in seinem Leben gesehen, nicht dass Luke das gewollt hätte. Swann war sein Experte für Informationssysteme – ein wissbegieriger ehemaliger Hacker, der verhaftet worden war und der Regierung beitrat, um eine lange Gefängnisstrafe zu vermeiden.

Swann und Newsam waren ein paar Tage früher aus dem Grand Canyon zurückgekommen – sie hatten gesagt, dass es nicht dasselbe ohne Luke und Gunner gewesen sei.

„Babysitting für veraltete Atomwaffen?“, sagte Swann. „Schätze, das schaffe ich noch.“

„Schlimmer“, sagte Luke. „Wir sind die Babysitter für ein paar Belgier, während sie die Babysitter für veraltete Atomwaffen spielen.“

„Glaubst du wirklich, dass das alles ist, Mann?“, fragte Ed.

Luke schüttelte den Kopf. „Nein. Ich denke, da steckt mehr hinter. Ich denke, wir müssen die Augen offenhalten und ganz genau aufpassen.“

Sie waren alle bei der Sache und das war gut so. Swann und Newsam vermieden beide das Thema Becca und ihren Krebs. Abgesehen von dem Beileid, das sie bekundet hatten, als sie an Bord gekommen waren, hatte keiner von ihnen etwas gesagt. Luke hatte nichts dagegen – es war ein schwieriges Thema.

Direkt gegenüber von Luke saß das jüngste Mitglied ihres Teams – eigentlich war sie noch nicht einmal wirklich ein Mitglied. Es war ihr erstes Mal mit ihnen. Der Geheimdienst hatte sie auf Empfehlung ihrer Vorgesetzten vom FBI rekrutiert. Sie hatte kaum ein Wort gesagt, seit sie das Flugzeug bestiegen hatten. Luke wandte sich ihr nun zu.

Er hatte ihr Dossier gesehen. Ihr Name war Mika Dolan. Sie war in China geboren, aber von ihren Eltern, die einen Jungen gewollt hatten, zur Adoption freigegeben worden. Sie wurde von ein paar alternden Hippies adoptiert, die erst spät im Leben erkannt hatten, dass sie ein Kind wollten. Sie wuchs zunächst an der Küste im hohen Norden Kaliforniens auf, dann in Marin County, kurz vor San Francisco. Sie war jung – wahrscheinlich zu jung. Einundzwanzig Jahre alt hatte sie bereits vor einem Jahr das MIT abgeschlossen. Perfekter Notendurchschnitt, Abschluss magna cum laude. Ein nachgewiesener IQ von 169 – auf dem Niveau eines Genies. Albert Einstein und Co.

Hobbys? Sie surfte gerne. Das hatte Luke ein wenig erstaunt – sie war eine winzige Person mit großen runden Brillengläsern und sah aus, als würde sie kaum das Haus verlassen, geschweige denn sich auf dem Ozean herumtreiben. Aber anscheinend hatte ihr Vater es geliebt, auf den großen Wellen der Pazifikküste zu surfen und er hatte sie bereits im Alter von drei Jahren auf ihr eigenes Brett gestellt.

Mika war Expertin für Informationstechnologie und bereits ihr zweites Jahr beim FBI. Wie begabt sie auch sein mochte – sie hatte große Fußstapfen, in die sie hier trat. Trudy Wellington hatte eine Menge geschafft – sie hatte in weniger als zehn Jahren umfangreiche Netzwerke entwickelt, sie konnte auf Daten zugreifen, die scheinbar niemand sonst auf der Welt hatte und konnte Szenarien auf Arten analysieren, die Luke nicht mal in seinen wildesten Träumen zustande brachte. Trudy war ebenfalls am MIT gewesen, genau wie Mika. Wahrscheinlich hatten sie ihm Mika aus diesem Grund zugeteilt.

 

„Nun, Mika?“, sagte Luke. „Möchtest du anfangen?“

„Okay“, sagte sie und bemühte sich, seinem Blick standzuhalten. Sie nahm ihr Tablet vom Sitz neben sich auf. „Ich bin ein wenig nervös. Vielleicht wissen Sie das nicht, aber Sie sind in meinem Büro so etwas wie Legenden.“

„Ach ja?“, sagte Ed Newsam, offenbar zufrieden. „Was erzählt man sich über uns?“

Mika unterdrückte ein Lächeln. „Man sagt, Sie wären ein Haufen Cowboys. Und sie sagten mir, ich solle versuchen, nicht getötet zu werden, solange ich bei Ihnen bin.“

Ed schüttelte den Kopf. „Was für ein Blödsinn. Nicht jeder, der bei uns mitmacht, wird getötet.“

„Nur etwa vier von zehn“, sagte Swann. „Der Rest überlebt, obwohl ein hoher Prozentsatz von ihnen lebenslang verstümmelt ist. Du wirst es schon überstehen. Wenn ich mich recht entsinne, hat das FBI ganz gute Berufsunfähigkeitsversicherungen.“

Luke lächelte, sagte aber nichts. Mika war sehr hübsch, und die Jungs flirteten mit ihr. Er wollte sie nicht unterbrechen. Es war eine gute Gelegenheit, das Eis zu brechen und sie vielleicht ein wenig zu beruhigen. Auf ihrer Mission konnte es durchaus noch hart werden.

Luke selbst fühlte sich wehmütig und nicht besonders gut. Vermutlich konnte er momentan sowieso nicht besonders gut herumwitzeln. Vor ihrer Abreise hatte er Becca angerufen. Das Gespräch war nicht gut verlaufen. Er hatte ihr gesagt, dass er gehen würde.

„Wo gehst du hin?“, fragte sie.

„Belgien. Außerhalb von Brüssel. Es gibt Sorgen über Atomwaffen, die dort auf einem NATO-Luftwaffenstützpunkt gelagert werden. Eine Terrorzelle will scheinbar…“

„Also willst du einfach so gehen?“, sagte sie.

„Ich bin nur zwei oder drei Tage weg. Wir werden nur die Sicherheitsmaßnahmen dort inspizieren, gegebenenfalls ein paar Upgrades anordnen und dann nach Brüssel fahren und ein paar Leute befragen.“

„Ihr werdet sie foltern?“

„Becca, ich weiß nicht…“

„Luke, bei mir im Wohnzimmer steht jetzt gerade ein Geheimdienstagent. Er ist heute Nachmittag einfach vor meiner Tür aufgetaucht. Ein anderer hat Gunner heute von der Schule abgeholt. Anscheinend ist er direkt in sein Klassenzimmer gegangen, bevor die anderen Kinder überhaupt rausdurften.“

„Jemand hat gestern Abend versucht, mich zu töten“, sagte Luke. „Der Geheimdienst ist für euren eigenen…“

„Schutz da, ja, ich weiß. Luke, ich habe Krebs. Wir wollten Gunner diese Nachricht gemeinsam mitteilen. Das hast du mir versprochen. Und jetzt gehst du einfach.“

„Jemand hat gestern Abend versucht, mich zu töten“, sagte Luke erneut.

„Ja, den Teil habe ich gehört. Hat dich das überrascht? Ich würde sagen, das ist normal. Mein Leben ist auch in Gefahr, Luke. Du hast mir und vor allem deinem Sohn etwas versprochen und jetzt läufst du einfach weg. Schon wieder.“

Luke holte tief Luft. „Becca, ich möchte dir helfen. Ich möchte… alles tun, was ich kann. Aber letztes Mal hast du mich aus dem Haus geworfen. Und das Mal davor auch, falls du dich erinnerst. Als ich Gunner das letzte Mal abgeholt habe, habe ich euch auf dem Parkplatz eines Supermarktes getroffen, weil du mich nicht im Haus haben wolltest. Ich laufe nicht weg. Ich bin nur ein paar Tage nicht da. Du wirst schon noch am Leben sein, wenn ich…“

In dem Moment hatte sie aufgelegt und er nahm es ihr nicht übel. Er war nicht gerade nett zu ihr gewesen. Aber sie hatte in den vergangenen Monaten alles daran gesetzt, ihm das Leben zur Hölle zu machen. Nun lag sie wahrscheinlich im Sterben. Luke bedauerte das. Er fühlte sich schrecklich deswegen und wegen ihrer Beziehung. Er fühlte sich in jeder Hinsicht wie ein Versager – als Vater, als Ehemann, als Mensch. Aber die Art und Weise, wie sie sich verhielt, war nicht gerade hilfreich.

An Bord des Flugzeugs schüttelte er nun den Kopf, um sich von diesen Gedanken zu befreien. Er musste sich abschotten. Natürlich hatte er Probleme. Er konnte erkennen, dass er in tiefen, tiefen Schwierigkeiten steckte. Er wusste nicht, wie er seiner Frau helfen sollte. Er wusste nicht, wie er das alles in Ordnung bringen sollte. Aber er konnte sie auch nicht nach Europa mitnehmen. Das würde ihn von seiner Mission ablenken und dann wäre er eine Gefahr für sich selbst und für die Menschen, die ihn begleiteten. Er musste sich voll und ganz auf die Arbeit konzentrieren.

Er blickte aus dem Fenster. In der Ferne flogen drei F-18-Kampfflugzeuge über den Himmel. Unterhalb von Luke zogen weiße Wolken im letzten Tageslicht vorbei. Er atmete tief ein. Er schaute Mika noch einmal an.

„Wo soll ich anfangen?“, fragte sie.

Er deutete in einer großen kreisförmigen Geste auf sie alle. „Normalerweise würde ich sagen, dass du uns sämtliche Informationen mitteilst, geordnet nach Wichtigkeit, es sei denn du siehst einen Grund für eine andere Reihenfolge. Geh davon aus, dass wir nichts über den Fall wissen – so sind wir alle am Ende auf dem gleichen Stand, egal was für Infos wir vorher hatten.“

Sie nickte und schaute dann wieder auf ihr Tablet. „Das kriege ich hin.“

„Fangen wir mit dem Thema an, das mich am meisten betrifft“, sagte Luke. „Wer hat gestern Abend versucht, mich zu töten?“

„Sein Name war Azab Mu’ayyad“, sagte Mika. „Oder zumindest steht das in seinem aktuellen Reisepass. Aus seinen Unterlagen geht hervor, dass er ein 32-jähriger Student aus Jordanien ist. Aber der Mann, für den wir ihn halten, hat mindestens zehn Decknamen und Pässe aus vier anderen Ländern. Sein Name bedeutet auf Arabisch ‚von Gott gesegneter Reisender‘ und es ist wahrscheinlich, dass das nur ein weiteres Pseudonym von ihm ist.“

„Also, wer war er wirklich?“, fragte Luke.

Sie schaute auf ihr Tablet. Das Licht des Displays erhellte ihr Gesicht und ihre Finger bewegten sich rasend schnell auf dem Bildschirm. „Die NSA glaubt, dass er ein tunesischer Mudschahedin und Auftragskiller namens Abu Mossaui war – ein weiterer Deckname. Er ist wahrscheinlich eher knapp 40 als knapp 30, ein Söldner und Vollstrecker unter den sunnitischen Extremisten. Wir nehmen an, dass er in Afrika südlich der Sahara aktiv war. Er könnte an der Entführung und Hinrichtung des somalischen Kriegsherrn Fatah al-Malik beteiligt gewesen sein. Es gibt Daten, die darauf hindeuten, dass er 2011 in Tansania war, als dort ein Strandresort bombardiert wurde und dreizehn Mitglieder einer israelischen Reisegruppe getötet wurden.“

„Welche Art von Daten?“, fragte Swann.

Mika zuckte die Achseln. „Flugaufzeichnungen eines Mannes, der in Dar es Salaam mit einem Namen ankam, der einem seiner bekannten Decknamen sehr ähnlich ist. Überwachungsfotos eines Mannes in der Altstadt, der er gewesen sein könnte.“

„Fotos, auf denen er vielleicht war“, wiederholte Ed Newsam. „Ein Mann, der einen ähnlichen Namen hatte. Im Grunde genommen heißt das, dass niemand sicher ist, wer oder was dieser Typ war. Mit anderen Worten: Er war ein Gespenst.“

Mika nickte. „Ein Phantom, wenn Sie so wollen.“

„Ja. Und er hat versucht, Luke zu töten, nur Stunden nachdem er Don Morris im Gefängnis befragt und von einem Atomwaffenplan in Europa erfahren hat. Also haben sie einen Killer eingeschleust…“

Sie hob einen Finger. „Vorsicht. Luke hat eine lange Vorgeschichte im Kampf gegen islamistische Terrorgruppen, von denen etliche sich an ihm rächen oder ihn beseitigen wollen. Diese beiden Ereignisse müssen nicht unbedingt in Zusammenhang stehen.“

„Wem gehörte der Pickup?“, fragte Luke.

„Niemandem“, sagte sie.

„Wie bitte?“

„Der ursprüngliche Truck war ein Ford F-350 aus dem Jahr 2009. Bei einem tödlichen Unfall vor drei Jahren erlitt er einen Totalschaden. Sein Besitzer, der am Steuer saß, wurde durch die Windschutzscheibe geschleudert, als der Wagen bei Regen und Schnee auf einer Autobahn im Westen von Pennsylvania umkippte. Der Truck wurde zu einem Schrottplatz gebracht, wo ein Mechaniker, angeblich aus Youngstown, Ohio, ihn gegen Bargeld gekauft hat. Der Mechaniker hat eine falsche Identität angegeben. Als Adresse hat er ein städtisches Grundstück angegeben, auf dem angeblich seine Werkstatt stehen sollte. Allerdings ist das Grundstück der ehemalige Standort einer Ledergerberei aus dem 19. Jahrhundert und steht seit den 1980ern leer. Es gab dort nie eine Autowerkstatt.“

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