Akte Null

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Kapitel zwei

An Bord der USS Constitution, Persischer Golf



16. April, 18:30 Uhr



Das Letzte, was Leutnant Thomas Cohen im Sinn hatte, war Krieg.



Während er vor einer Reihe von Radargeräten an Bord der USS Constitution saß und die kleinen, leuchtenden Punkte, die sich langsam über die Bildschirme bewegten, beobachtete, dachte er über Melanie nach. Sie war seine Freundin zu Hause in Pensacola. Es fehlten nicht einmal mehr drei Wochen, bevor er nach Hause gesandt wurde. Er hatte schon den Ring, er hatte ihn eine Woche zuvor gekauft, als er einen freien Tag in Qatar hatte. Thomas bezweifelte, dass es jemanden an Bord gab, dem er den Ring noch nicht stolz gezeigt hatte.



Der Himmel über dem Persischen Golf war klar und sonnig, es gab keine einzige Wolke, doch Thomas hatte nicht die Möglichkeit, ihn zu genießen, denn er saß in der Ecke der Brücke versteckt und die dicken, gepanzerten Fenster wurden durch die Radargeräte verdeckt. Er konnte ein leichtes Gefühl von Neid gegenüber dem Fähnrich, mit dem er per Funkgerät kommunizierte, nicht unterdrücken. Er war draußen auf Deck und konnte die Schiffe mit eigenen Augen sehen, die für Thomas nur kleine Pünktchen auf dem Bildschirm waren.



Sechzig Milliarden Dollar, dachte er mit düsterer Belustigung. Das war die Summe, welche die Vereinigten Staaten jährlich ausgaben, um präsent im Persischen Golf, im Arabischen Meer und dem Golf von Oman zu sein. Die Fünfte Flotte der US Navy nannte Bahrain ihr Hauptquartier und bestand aus mehreren Sondereinheiten mit spezifischen Patrouillenstrecken entlang den Künsten von Nordafrika und dem Nahen Osten. Die Constitution, ein Schiff der Zerstörerklasse, war ein Teil der kombinierten Sondereinheit 152, welche den Persischen Golf vom nördlichen Ende bis hinunter zur Meeresenge von Hormus, zwischen Oman und Iran, patrouillierte.



Thomas’ Freunde zu Hause dachten, es wäre so toll, dass er auf einem Zerstörer der US Navy arbeitete. Er ließ sie in diesem Glauben. Doch die Realität war einfach nur eine seltsame, vielleicht sogar etwas langweilige und repetitive Existenz. Er saß auf einem modernen Wunder des Ingenieurswesens, das mit der besten Technologie und ausreichend Waffen ausgestattet war, um eine halbe Stadt zu zerstören, doch ihr ganzer Zweck bestand letztendlich darin, zu tun, was Thomas gerade in diesem Moment tat – kleine, leuchtende Punkte anzustarren. All die Feuerkraft und Geld und Männer kamen letztendlich einer glorifizierten was-wenn-Situation gleich.



Das bedeutete aber nicht, dass es niemals Aufregung gab. Thomas und die anderen Typen, die schon seit einem Jahr oder länger dort dienten, amüsierten sich darüber, wie nervös die Neuankömmlinge wurden, wenn sie das erste Mal hörten, dass die Iraner auf sie schossen. Es geschah nicht jeden Tag, doch oft genug. Iran und Irak waren gefährliche Gebiete, sie mussten wenigstens dein Schein wahren, nahm Thomas an. Hin und wieder erhielt die Constitution eine Drohung von der Navy der Iranischen Revolutionsgarde, das war Irans maritime Macht im Persischen Golf. Die Schiffe segelten ein wenig zu nah an sie heran und manchmal – an besonders aufregenden Tagen – schossen sie ein paar Raketen ab. Normalerweise schossen sie in die entgegengesetzte Richtung der US Schiffe. Alles nur Gehabe, dachte Thomas. Doch die Neuankömmlinge machten sich vor Angst schier in die Hosen und für die nächsten paar Wochen machten sich alle anderen lustig über sie.



Das Trio von leuchtenden Pünktchen auf dem Bildschirm näherte sich noch weiter an ihren Standpunkt an, sie kamen vom Nordosten heran. “Gilbert”, sprach Thomas in das Funkgerät, “wie sieht’s da oben aus?”



“Oh, es ist ein wunderschöner Nachmittag. Etwa dreiundzwanzig Grad und sonnig”, gab Fähnrich Gilbert durch das Funkgerät zurück und versuchte, das Lachen in seiner Stimme zu unterdrücken. “Die Luftfeuchtigkeit ist gering. Der Wind beträgt etwa acht Stundenkilometer. Wenn ich meine Augen schließe, fühlt es sich wie Florida im beginnenden Frühjahr an. Wie geht es euch da drinnen?”



“Arschloch”, murmelte Leutnant Davis, der Kommunikationsoffizier, der in der Nähe von Thomas an den Radargeräten saß. Er grinste und sprach in das Radio: “Wie bitte, Fähnrich Gilbert? Kannst du das für deinen Leutnant wiederholen?”



Thomas kicherte, als Gilbert ein leises Stöhnen von sich gab. “OK, OK”, sagte der junge Mann vom Deck aus. “Ich sehe drei Schiffe der Iranischen Revolutionsgarde in Richtung Nordosten, die etwa vierzehn Knoten schnell fahren. Es sieht so aus, als seien sie ein wenig mehr als einen Kilometer von uns entfernt.” Dann fügte er schnell hinzu: “Sir.”



Thomas nickte beeindruckt. “Du bist gut. Sie sind neunhundert Meter entfernt. Will jemand irgendwas dagegen tun?”



“Ich wette fünf Dollar, dass sie bei sechshundert Metern abdrehen”, sagte Davis.



“Das will ich sehen und erhöhe”, sagte Maat Miller hinter ihnen und drehte sich dabei auf seinem Stuhl um. “Zehn Dollar, dass sie fünfhundert Meter erreichen. Bietest du auch, Cohen?”



Thomas schüttelte seinen Kopf. “Ganz sicher nicht. Das letzte Mal habt ihr mich um fünfundzwanzig Dollar erleichtert.”



“Und der muss für eine Hochzeit sparen”, tadelte ihn David mit einem leichten Stoß in die Rippen.



“Ihr denkt alle zu klein”, ertönte Gilberts Stimme aus dem Funkgerät. “Die Jungs sind Cowboys, ich kann es spüren. Ein bestimmter Mister Jackson sagt, dass sie nicht nur auf vierhundert Meter herankommen, sondern wir auch noch ein iranisches Schwanzfoto bekommen.”



“Sei nicht so derb”, ermahnte Davis Gilbert für seine unzüchtige Metapher für eine Rakete, die von der Iranischen Revolutionsgarde abgeschossen würde.



“Das wäre ein netter Tempowechsel”, murmelte Miller. “Das Aufregendste, was hier in den letzten zwei Wochen passierte, war der Tag, an dem es mexikanisches Essen gab.”



Leutnant Cohen war sich schon bewusst, dass ein außenstehender Beobachter vielleicht denken könnte, dass es verrückt von ihnen war, kleine Wetten darüber abzuschließen, ob ein Schiff eine Rakete feuerte oder nicht. Doch nach so vielen sogenannten Konfrontationen, die zu nichts geführt hatten, war es kaum etwas, über das sie sich Sorgen machten. Außerdem waren die amerikanischen Einsatzregeln klar: sie schössen nicht, falls man nicht direkt zuerst auf sie abfeuerte, und die Iraner wussten das. Die Constitution war genau so, wie ihre Klasse sie beschrieb: ein Zerstörer. Falls eine Rakete nah genug an sie herankam, um sie zu bedrohen, dann könnten sie das Schiff der iranischen Revolutionsgarde binnen Sekunden auslöschen.



“Sechshundertfünfzig Meter und es kommt näher heran”, gab Thomas bekannt. “Tut mir leid, Davis. Du bist raus.”



Er zuckte mit den Schultern. “Man kann ja nicht immer gewinnen.”



Thomas runzelte die Stirn vor den Radargeräten. Es sah aus, als ob die beiden Schiffe, die das dritte flankierten, abdrehten, doch das mittlere Schiff fuhr auf einem geraden Kurs weiter. “Gilbert, überprüfe die Sicht.”



“Jawohl, Sir.” Es war einen Moment still, bevor der Fähnrich berichtete: “Sieht so aus, als ob zwei der Schiffe abdrehten, in Richtung Süd-Südosten und Süd-Südwesten. Aber ich glaube, dass dieses dritte Boot Freundschaft schließen will. Was habe ich gesagt, Cohen? Cowboys.”



Miller seufzte. “Wo ist Kapitän Warren? Wir sollten ihm Bescheid—”



“Kapitän auf der Brücke!” rief eine scharfe Stimme plötzlich. Thomas sprang von seinem Sitz auf und salutierte, genauso wie die vier weiteren Offiziere im Kontrollraum.



Der Erste Offizier kam zuerst herein. Er war ein großer Mann mit kantigem Kiefer, der viel ernster aussah, als er es oft war. Ein geeilter Kapitän Warren folgte ihm, die unteren Knöpfe seines beigen, kurzärmeligen Hemdes spannten über seinem kleinen Bauch. Auf dem Kopf trug er eine Navy Baseballkappe, deren dunkles Blau im schwachen Licht der Brücke fast wie schwarz aussah.



“Zurück an eure Plätze”, ordnete Warren schroff an. Thomas setzte sich langsam wieder, tauschte einen besorgten Blick mit Davis aus. Der Kapitän war sich wahrscheinlich der sich annähernden Schiffe bewusst, doch wenn er jetzt anwesend war, dann bedeutete das, dass etwas vor sich ging. “Hört mir gut zu, denn ich will das nicht wiederholen.” Der Kapitän zog seine Stirn in tiefe Falten. Er hatte sie fast immer gerunzelt – Thomas konnte sich nicht daran erinnern, jemals ein Lächeln auf Warrens Lippen gesehen zu haben – doch dieses Mal sah sein Gesichtsausdruck besonders besorgt aus. “Wir haben gerade neue Anweisungen erhalten. Es gab eine Änderung der Einsatzregeln. Jegliches Schiff, das innerhalb einer Distanz von achthundert Metern feuert, muss als feindlich betrachtet und mit extremem Vorurteil behandelt werden.”



Thomas blinzelte nach dieser plötzlichen Flut von Worten und verstand zuerst nicht.



Maat Miller vergaß sich selbst für einen Moment und sagte: “Behandelt werden? Sie meinen zerstört?”



“Korrekt, Miller”, antwortete Kapitän Warren und blickte dem jungen Mann in die Augen. “Ich meine zerstört, vernichtet, ausgemerzt, verwüstet, zertrümmert und/oder demoliert.”



“Äh, Sir?” fragte Davis. “Wenn es überhaupt feuert? Oder wenn es auf uns feuert?”



“Der Abschuss einer Waffe, aus dem sich ein Verlust von Leben ergeben kann, Leutnant”, gab Kapitän Warren zurück. “Ob sie auf uns zielt oder nicht.”



Thomas konnte nicht glauben, was er da hörte. Die Iranische Revolutionsgarde hatte schon öfter Raketen abgefeuert, seit er an Bord der Constitution war, und viele von ihnen waren innerhalb von einem Abstand von achthundert Metern. Er fand es extrem seltsam, dass die Einsatzregeln so rasch verändert wurden – sicherlich war es kein Zufall, dass dies gerade dann geschah, als ein iranisches Schiff sich ihnen annäherte.



“Schaut mal”, erklärte Warren, “mir gefällt das auch nicht besser als euch, aber ihr wisst alle, was geschah. Ehrlich gesagt bin ich darüber überrascht, dass die Regierung so lange gebraucht hat. Aber jetzt ist es geschehen.”

 



Thomas wusste genau, worüber der Kapitän sprach. Gerade ein paar Tage zuvor hatte eine Terroristenorganisation versucht, die USS New York zu sprengen. Das war ein Arleigh-Burke-Zerstörer, der am Hafen von Haifa in Israel festgemacht war. Und nur vor zwei Tagen hatte dieselbe Rebellenzelle einen Unterwassertunnel in New York zerstört. Kapitän Warren hatte die gesamte Mannschaft in der Messe versammelt, um ihr die traurigen Nachrichten mitzuteilen. Die CIA hatte von dem Attentat nur einige Stunden zuvor mitbekommen und schaffte es, viele Leben zu retten, doch dennoch waren Hunderte gestorben und es gab immer noch viel zu viele Verschüttete. Das Ausmaß des Attentates war bei langem nicht so groß wie jenes des elften Septembers, doch es handelte sich dennoch um einen der erheblichsten Angriffe auf amerikanischem Boden der letzten hundert Jahre.



“In dieser Art von Welt leben wir jetzt, Jungs”, sagte Warren und schüttelte seinen Kopf verachtend. Er dachte offensichtlich dasselbe wie Thomas. Sie alle taten dies.



“Es dreht ab”, informierte Gilbert durch das Funkgerät und riss Thomas damit aus seinen Gedanken und zurück zu seinen Radargeräten. Der Fähnrich hatte recht, das dritte Schiff war auf fünfhundert Meter herangekommen und drehte jetzt Richtung Westen ab. “Scheint, als verlöre ich zwanzig Dollar.”



Thomas atmete erleichtert auf. In einer weiteren Minute wäre das Schiff weg, außerhalb der sechshundert Meter-Linie und die Constitution führe weiter auf ihrer östlichen Patrouille auf die Meeresenge zu. Bitte mach jetzt keine Dummheiten, dachte er, als er sagte: “Kreuzer der Iranischen Revolutionsgarde ist in vierhundertfünfzig Metern Entfernung, dreht östlich ab. Sieht nicht so aus, als sei er an uns interessiert, Sir.”



Warren nickte, doch falls er so froh darüber war wie Thomas, so zeigte er es nicht. Der Leutnant konnte erraten, warum. Die Einsatzregeln hatten sich geändert, und das sogar sehr plötzlich. Wie lange könnte es dauern, bis sie sich erneut in einer Situation wie dieser befanden?



Leutnant Davis blickte plötzlich scharf auf. “Die funken uns an, Sir.”



Kapitän Warren schloss seine Augen und seufzte. “In Ordnung. Gib dies weiter, und schnell bitte.” Davis war nicht nur der Kommunikationsoffizier, sondern sprach auch fließend arabisch und farsi. Er übersetzte die Mitteilung des Kapitäns, während Warren sprach, hörte gleichzeitig zu, während er redete. “Dies ist Kapitän James Warren der USS Constitution. Die Einsatzregeln der US Navy haben sich geändert. Ihre Vorgesetzten sollten zu diesem Zeitpunkt schon darüber informiert sein, doch falls dem nicht so ist: es ist uns komplett durch die amerikanische Regierung genehmigt, tödliche Gewalt anzuwenden, sollte jegliches Schiff —”



“Rakete abgeschossen!” rief Gilbert in Thomas’ Ohr.



“Rakete abgeschossen!” wiederholte Thomas. Bevor er noch wusste, was er da tat, hatte er schon den Kopfhörer heruntergerissen und rannte auf das Fenster zu. In der Ferne sah er den Kreuzer der iranischen Revolutionsgarde und den hellroten Streifen, der in einem hohen Bogen in den Himmel flog und eine Rauchwolke hinterließ.



Während er herausblickte, wurde eine zweite Rakete von dem iranischen Schiff abgefeuert. Sie wurden in einer Bahn parallel zur Constitution abgefeuert, weit genug entfernt, sodass sie dem Zerstörer kaum Probleme bereiteten.



Thomas drehte sich zum Kapitän um. Warrens Gesicht war bleicher geworden. “Sir —”



“Gehen Sie zurück auf Ihren Posten, Leutnant Cohen.” Warrens Stimme klang angestrengt.



Ein Knoten von Grauen bildete sich in Thomas’ Magen. “Aber Sir, wir können doch nicht ernsthaft —”



“Kehren Sie auf Ihren Posten zurück, Leutnant”, wiederholte der Kapitän mit angespanntem Kiefer. Thomas gehorchte, er setzte sich wieder, doch hörte nicht auf, Warren anzustarren.



“Das kommt nicht vom Admiral”, sagte er, als ob er versuchte, ihnen zu erklären, was geschehen müsste. “Nicht mal vom Chef der Marineoperationen. Das kommt vom Verteidigungssekretär. Versteht ihr das? Es ist eine direkte Anordnung im Interesse der nationalen Sicherheit.”



Ohne ein weiteres Wort, hob Warren ein rotes Telefon, das an der Wand angebracht war, ab. “Dies ist Kapitän Warren. Feuert die Torpedos.” Für einen Moment herrschte Stille und dann wiederholte der Kapitän nachdrücklich: “Positiv. Feuert die Torpedos.” Er legte auf, doch seine Hand blieb noch auf dem Telefon liegen. “Möge Gott uns helfen”, murmelte er.



Thomas Cohen hielt den Atem an. Er zählte die Sekunden. Er kam bis zwölf, bevor er Gilberts Stimme hörte, leise und hauchend und fast ehrfurchtsvoll durch das Funkgerät.



“Oh Gott.”



Thomas stand auf, er verließ nicht seinen Posten, doch hatte teilweise Sicht durch das Fenster. Durch das dicke, gepanzerte Glas der Brücke, das dazu entworfen wurde, schweres Feuergefecht zu durchstehen, hörten sie keine Explosion. Sie fühlten keine Schockwelle, die von dem weiten Persischen Golf absorbiert wurde. Doch er sah es. Er sah den orangefarbenen Feuerball, der in dem Himmel aufstieg, als das Schiff der Iranischen Revolutionsgarde, wie er vorhergesehen hatte, binnen Sekunden von einer Welle von Torpedos von dem US Zerstörer vernichtet wurde.



Das grüne, leuchtende Pünktchen verschwand von seinem Bildschirm. “Ziel zerstört”, bestätigte er leise. Er hatte keine Ahnung, wie viele Menschen er gerade getötet hatte. Zwanzig. Vielleicht fünfzig. Vielleicht auch hundert.



Davis stand ebenfalls auf und schaute aus dem Fenster, während das orangefarbene Feuer sich verflüchtigte, das Schiff in Stücke zerrissen wurde und schnell in den Tiefen des Persischen Golfes versank. Vielleicht war es nur der Winkel oder der Widerschein des Sonnenlichtes, doch er hätte schwören können, dass er sah, wie seine Augen sich mit Tränen füllten.



“Cohen?” sagte er leise, seine Stimme war fast ein Flüstern. “Haben wir gerade den dritten Weltkrieg angefangen?”



Nur fünf Minuten zuvor war Krieg das Letzte, was Leutnant Thomas Cohen im Sinn hatte. Doch jetzt hatte er jedes Recht, zu bezweifeln, dass er es in drei Wochen nach Hause nach Pensacola schaffte.



Kapitel drei

“Entschuldigen Sie bitte”, sagte Null, “glauben Sie, wir könnten ein wenig schneller fahren?” Er saß auf dem Rücksitz eines schwarzen Stadtwagens, während ihn der Chauffeur des Weißen Hauses nach Hause nach Alexandria fuhr, weniger als dreißig Minuten von Washington, DC entfernt. Sie fuhren die meiste Zeit in Stille, wofür Null dankbar war. So hatte er einige wertvolle Minuten zum Nachdenken. Er hatte keine Zeit, um die Flut von neuen Fähigkeiten und Geschichten zu ordnen, die sich gerade in seinem Kopf entschlüsselt hatten. Er musste sich auf die Aufgabe vor ihm konzentrieren.



Denk nach, Null. Von wem weißt du, dass sie darin verwickelt sind? Der Verteidigungssekretär, der Vizepräsident, Kongressmitglieder, eine Handvoll Senatoren, Mitglieder der nationalen Geheimdienstagentur, der nationale Sicherheitsrat, sogar die CIA… Namen und Gesichter blitzten in seinem Gehirn auf wie eine mentale Rotationskartei. Null atmete tief ein, nachdem er spürte, wie ein angespanntes Kopfweh sich in seiner Stirn ausbreitete. Er hatte viele von ihnen beschattet, hatte sogar einige Beweise gefunden – die Dokumente, die er in dem Sicherheitsfach in Arlington verschlossen hatte – doch er fürchtete, dass das nicht ausreichte, um sicher zu beweisen, was da geschah.



In seiner Tasche klingelte sein Handy. Er nahm nicht ab.



Warum jetzt? Er brauchte nicht seine gerade erst wiedergefundenen Erinnerungen für diesen Teil. Es war ein Wahljahr. In etwas über sechs Monaten würde Pierson entweder für eine zweite Amtszeit gewählt oder von einem Demokraten geschlagen. Nichts könnte mehr Unterstützung bringen, als eine erfolgreiche Kampagne gegen einen feindlichen Gegner.



Er war sich sicher, dass Pierson nicht dazugehörte. Null erinnerte sich sogar daran, dass Piersons während seines ersten Amtsjahres einen Gesetzesentwurf unterzeichnete, der die amerikanische militärische Präsenz in Irak und Iran verminderte. Er war gegen weiteren, grundlosen Krieg im Nahen Osten. Deshalb brauchten jene, die sich in den Schatten aufhielten, die Brüderschaft als Auslöser.



Und während die USA ihre Anwesenheit verminderte, haben die Russen ihre vermehrt. Maria hatte erwähnt, dass die Ukrainer nervös waren, weil sie befürchteten, dass Russland vorhatte, ölproduzierende Posten im Schwarzen Meer zu ergreifen. Darum war sie auf eine verhaltene Zusammenarbeit mit ihnen eingegangen, die es beiden erlaubte, Informationen zu teilen. Die amerikanischen Verschwörer machten gemeinsame Sache mit den Russen. Die USA bekäme die Meeresenge und die Russen das Schwarze Meer. Die USA täten nichts, um Russland von ihrem Vorhaben abzuhalten, und Russland handelte ebenso, bot ihnen vielleicht sogar Unterstützung im Nahen Osten.



Zwei der Weltmächte würden reicher, stärker und fast unaufhaltbar. So lange es Frieden zwischen ihnen gäbe, könnte sich ihnen keiner in den Weg stellen.



Sein Telefon klingelte erneut. Der Anrufer wurde als unbekannt angezeigt. Er überlegte kurz, ob es Deputy Direktor Cartwright sein könnte. Nulls direkter Vorgesetzter in der Sonderabteilung der Agentur war spürbar abwesend bei dem Treffen mit Präsident Pierson im Oval Office. Vielleicht war es ein gesellschaftliches Engagement, das ihn abhielt, doch Null hatte Zweifel daran. Dennoch, der Anrufer (oder die Anrufer) hinterließen keine Nachricht auf dem Anrufbeantworter und Null hatte keine Lust, sich an die CIA zu wenden.



Als sie sich an sein Zuhause in der Spruce Straße annäherten, tätigte er zwei Anrufe. Der erste war an die Georgetown Universität gerichtet. “Hier spricht Professor Reid Lawson. Leider habe ich mir irgendwas eingefangen. Wahrscheinlich eine Grippe. Ich gehe nachher zum Arzt. Können Sie nachsehen, ob Dr. Ford meine Vorlesungen für mich übernehmen kann?”



Der zweite Anruf ging an die Third Street Garage.



“Ja”, antwortete der Mann mit einem Grummeln.



“Mitch? Hier spricht Null.”



“Hm.” Der stämmige Mechaniker sagte es, als ob er den Anruf schon erwartet hätte. Mitch war ein Mann weniger Worte und half außerdem auch der CIA. Er hatte Null geholfen, als er seine Töchter aus den Händen Rais’ und eines Menschenhändlerringes retten musste.



“Ich habe da ein Problem. Ich brauche möglicherweise einen Unterschlupf für zwei. Kannst du dich bereithalten?” Die Worte taumelten aus seinem Mund, als wären sie gut geübt – was sie auch waren, bemerkte er, selbst wenn er sie seit einiger Zeit nicht ausgesprochen hatte. Er wollte es nicht riskieren, Watson oder Strickland darum zu bitten. Die würden wahrscheinlich genauso beobachtet wie er. Doch Mitch arbeitete versteckt.



“Kein Problem”, gab Mitch einfach zurück.



“Danke, ich melde mich.” Er legte auf. Zuerst hatte er darüber nachgedacht, seine Töchter sofort in einen geheimen Unterschlupf zu bringen, doch jegliche Abweichung von ihrem normalen Tagesablauf könnte Verdacht hervorrufen. Mitchs Unterkunft war ausfallsicher, falls er Grund hatte, zu glauben, dass die Leben seiner Töchter in unmittelbarer Gefahr stünden – und trotz der Sorge um seinen erhöhten Sinn von Paranoia hatte er ausreichend Grund, um zu glauben, dass sie gerechtfertigt war.



Sein Zuhause war ein zweistöckiges Eckhaus in der Vorstadt von Alexandria. Auf der anderen Seite stand ein leeres Haus, das gerade zum Verkauf angeboten wurde. Es war das ehemalige Zuhause von David Thompson, eines pensionierten CIA Einsatzagenten, der in Nulls Eingangshalle ermordet worden war.



Er schloss die Tür auf und gab schnell den Sicherheitscode für das Alarmsystem ein. Er hatte es so eingestellt, dass man den Code jedes Mal eingeben musste, wenn jemand kam oder ging, egal, wer sonst noch zu Hause war. Gab man den Code nicht binnen sechzig Sekunden nach dem Öffnen der Tür ein, so erklang ein Alarm und die örtliche Polizei würde informiert. Zusätzlich zu dem Alarmsystem hatten sie außerdem Sicherheitskameras, die Außen und Innen installiert waren, Riegel an den Türen und Fenstern und einen Panikraum mit einer Stahlsicherheitstür im Keller.



Dennoch fürchtete er, dass dies nicht ausreichte, um seine Töchter in Sicherheit zu wissen.



Maya lag auf ihrem Rücken auf dem Sofa und spielte etwas auf ihrem Handy. Sie war fast siebzehn und schwankte oft zwischen impulsiven Launen eines Teenagers und der Andeutung, eine anspruchsvolle Erwachsene zu werden. Von ihrem Vater hatte sie das dunkle Haar und die scharfen Gesichtszüge geerbt, von ihrer Mutter die scharfe Intelligenz und den beißenden Witz.



“Hallo”, begrüßte sie ihn, ohne dabei vom Bildschirm aufzublicken. “Hat es beim Präsidenten was zu Essen gegeben? Ich hätte heute nämlich wirklich Lust auf was chinesisches.”

 



“Wo ist deine Schwester?” fragte er schnell.



“Esszimmer.” Maya legte die Stirn in Falten und setzte sich auf, erkannte die Dringlichkeit in seiner Stimme. “Warum? Was ist los?”



“Noch nichts”, antwortete er rätselhaft. Null eilte durch die Küche und fand seine jüngere Tochter, Sara, dabei, wie sie ihre Hausaufgaben am Tisch machte.



Sie blickte beim plötzlichen Eindringen ihres Vaters auf. “Hallo Papa.” Dann machte auch sie ein ernstes Gesicht, bemerkte scheinbar, das irgendetwas nicht stimmte. “Alles in Ordnung?”



“Ja, mein Schatz, alles in Ordnung. Ich wollte nur wissen, was du machst.” Ohne ein weiteres Wort ging er schnell nach oben in sein Büro. Er wusste schon, was er brauchte und wo genau er dies fände. Oben auf der Liste stand das Handy, ein älteres Modell, dass er mit Bargeld gekauft hatte und das einige hundert Minuten Guthaben hatte. Maya hatte die Nummer. Als Zweites brauchte er den Schlüssel für das Sicherheitsfach. Er wusste, wo er war, geradeso als ob er es niemals vergessen hatte, obwohl sich ein paar Stunden zuvor an diesem Morgen nicht mal daran hätte erinnern können, wozu er diente oder warum er ihn hatte. Der Schlüssel befand sich in einer alten Kiste in seinem Schrank, die er seine,Müllkiste’ getauft hatte, gefüllt mit allen möglichen alten Dingen. Er konnte sich nicht dazu überwinden, sie loszuwerden, obwohl sie es kaum Wert schienen, aufbewahrt zu werden.



Als er zurück in die Küche kam, war er nicht besonders überrascht, seine beiden Töchter mit erwartungsvollen Blicken vor sich stehen zu sehen.



“Papa?” fragte Maya unsicher. “Was ist los?”



Null nahm sein Handy aus seiner Tasche und legte es auf die Küchentheke. “Es gibt da was, das ich tun muss”, erklärte er vage. “Und es ist…”



Unglaublich gefährlich. Monumental idiotisch, es alleine zu tun. Bringt euch direkt in Gefahr. Mal wieder.



“Es bedeutet, dass wir vermutlich beschattet werden. Gründlich. Und wir müssen darauf vorbereitet sein.”



“Müssen wir wieder in einen geheimen Unterschlupf?” fragte Sara.



Es brach Nulls Herz, dass sie eine solche Frage überhaupt stellen musste. “Nein”, antwortete er. Dann tadelte er sich selbst und erinnerte sich daran, dass er ihnen Ehrlichkeit versprochen hatte. “Noch nicht. Dazu könnte es später noch kommen.”



“Hat es etwas damit zu tun, was in New York geschehen ist?” fragte Maya gerade heraus.



“Ja”, gab er zu. “Aber hört bitte einfach nur zu. Es gibt da einen Mann, der die Agentur unterstützt, der sich Mitch nennt. Er ist ein großer Typ, stämmig, mit einem buschigen Bart, der eine Fernfahrermütze trägt. Ihm gehört die Third Street Garage. Wenn ich es ihm anweise, dann kommt er hierher und bringt euch an einen sicheren Ort, von dem noch nicht mal die CIA weiß.”



“Warum gehen wir da nicht sofort hin?” fragte Sara.



“Weil die Möglichkeit besteht”, erwiderte Null ehrlich, “dass wir jetzt schon beobachtet werden. Oder dass man mindestens darauf achtet, dass etwas außergewöhnliches geschieht. Wenn ihr nicht zur Schule geht oder ich etwas anders als gewohnt tue, dann kann das diese Leute aufmerksam machen. Ihr wisst schon Bescheid: lasst niemanden rein, geht mit niemandem mit und vertraut niemandem außer Mitch, Agent Strickland oder Agent Watson.”



“Und Maria”, fügte Sara hinzu. “Stimmt’s?”



“Ja”, murmelte Null. “Und Maria. Natürlich.” Er griff nach der Türklinke. “Ich brauche nicht lange. Schließt hinter mir ab. Ich habe das alte Handy, falls ihr mich braucht.” Er ging aus der Tür und schritt schnell auf sein Auto zu, bestürzt, dass die Erinnerung an seine Nacht mit Maria ihm wieder durch den Kopf ging.



Kate. Du hast sie betrogen.



“Nein”, murmelte er zu sich selbst, als er das Auto erreichte. Das hätte er nie getan. Er liebte Kate mehr als alles, mehr als jeden. Während er sich hinter das Steuer setzte und den Motor zündete, suchte er in seiner Erinnerung nach einem Hinweis, der ihm sagte, dass er falsch lag, dass er und Maria keine Affäre hatten, während Kate noch am Leben war. Doch er fand keinen. Seine Beziehung zu Hause war eine glückliche. Kate hatte keine Ahnung, dass er als CIA Agent arbeitete. Sie glaubte, dass seine häufigen Reisen Gastvorlesungen an anderen Universitäten, Recherche für ein Geschichtsbuch, Gipfel und Tagung