Misogynie

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Von der bemerkenswertesten dieser Frauen, die einen langen Schatten über die letzten Jahre der römischen Republik warfen, konnte niemand ernsthaft erwarten, dass sie die eheliche Wohlanständigkeit in Person war. Kleopatra (69–30 v. Chr.) war nicht einmal Römerin. Sie war eine ägyptische Pharaonin und stammte in direkter Linie von dem makedonischen Heerführer Ptolemaios ab, der an der Seite Alexanders des Großen gekämpft hatte. Die Römer sahen in ihr den lebenden Beweis für das Übel, das daraus erwächst, wenn Frauen Einfluss auf das politische Geschehen gewinnen. Sie trugen mit ihrer Legendenbildung dazu bei, dass Kleopatra neben Helena eine der beiden Frauen der Antike ist, deren Namen heute noch weitgehend bekannt ist. Der tiefe Eindruck, den Kleopatra auf römische und griechische Dichter und Chronisten machte, hat sich bis zu William Shakespeare und Bernhard Shaw erhalten und reicht noch bis nach Hollywood, wo die ägyptische Herrscherin, von Elizabeth Taylor verkörpert, Titelheldin des größten Flops in der Geschichte des Kinos war.

Kleopatras Vorfahr Ptolemaios hatte sich nach dem Tod Alexanders des Großen im Jahr 323 v. Chr. die fruchtbarsten Teile des gewaltigen Reichs gesichert. Sie selbst war geprägt vom Geist der hellenistischen Periode, die mit Alexanders Tod begann und im Jahr 30 v. Chr. mit ihrem Selbstmord und der Annexion Ägyptens durch das Römische Reich endete. Im Laufe dieser drei Jahrhunderte war es den griechischen Frauen gelungen, die engen Fesseln der klassischen Periode ein Stück weit zu lockern, so dass sie nun ein höheres Ansehen und mehr Freiheiten, beispielsweise ein weniger restriktives Eherecht und bessere Bildungschancen, genossen und auch von öffentlichen Ämtern und politischen Entscheidungen nicht mehr ausgeschlossen waren. Kleopatra war die letzte und berühmteste in einer Linie hellenistischer Königinnen, die in die erbitterten Machtkämpfe der Dynastien um das, was von Alexanders Reich übrig war, verwickelt waren.

Ihre Beziehung zu Julius Caesar und nach seinem Tod zu seinem Feldherrn Marcus Antonius wurde zum Stoff für Tragödien, Liebesromane und Hollywoodschnulzen. Beide Männer waren mehr von ihrem klugen Geist eingenommen als von ihrer Schönheit. Plutarch berichtet, dass sie zehn Sprachen beherrschte, mit Caesar oft bis in die frühen Morgenstunden debattierte und auf Antonius’ derbe Witze mit gutmütigem Spott reagierte. In der ganzen Dynastie der Ptolemäer war sie die einzige, die der ägyptischen Landessprache mächtig war. Ihr reges intellektuelles Interesse erstreckte sich auf viele Gebiete – sogar eine Abhandlung über Frisurmoden und Schminkkunst verfasste sie.57 Für ihre römischen Zeitgenossen jedoch war sie eine hinterhältige, von maßlosem Ehrgeiz besessene Verführerin, deren Ränken um jeden Preis Einhalt geboten werden musste. Im Streit zwischen Octavian (dem späteren Kaiser Augustus) und Antonius um die unumschränkte Macht im Kaiserreich wurde Letzterer von seinen Gegnern oft als einfältiger Söldner charakterisiert. Die Behauptung, Kleopatra benutze ihn nur, um die Macht im Reich an sich zu reißen, wurde zu einem der wichtigsten Argumente in Octavians Propagandakampf. Kleopatra erging es wie Sempronia vor ihr: Ihre Feinde assoziierten weiblichen Freigeist mit Promiskuität. Damit wiederholten sie nichts anderes als die altbekannte Leier, dass eine Frau, die klug genug ist, selbstständig zu denken, keine Moral besitzen könne oder ihrer, wenn doch, zumindest bald verlustig gehen müsse. So verwundert es nicht, dass Horaz und andere Dichter seiner Zeit Kleopatras angeblich ausschweifendes Liebesleben zum Ziel ihrer Anfeindungen machten. Man gab ihr den griechischen Spitznamen »Meriochane«, was soviel heißt wie: »Die sich zehntausend Männern weit öffnet«. In einer obszönen Fantasie, die einige pornografische Machwerke unserer Zeit in den Schatten stellen würde, wird beschrieben, wie sie in einer einzigen Nacht Fellatio mit 100 römischen Adeligen treibt.

Antonius fühlte sich offensichtlich wohl in Gegenwart kluger und erfahrener Frauen. Seine Frau Fulvia, die von einem Historiker unserer Zeit als »Amazone« bezeichnet wird, war Sempronias Tochter.58 Seine Gegner führten dies als Beweis dafür an, dass er sich von solchen Frauen habe »entmannen« lassen und daher nicht geeignet sei, das Reich zu regieren. Nach der Niederlage des Antonius im Jahr 31 v. Chr. versuchte Kleopatra, Octavian für sich zu gewinnen, doch er hielt sich von ihr fern. Um nicht als Zeichen seines Triumphes in Ketten nach Rom geschleift zu werden, nahm sich Kleopatra das Leben.

Doch sie lebte im Gedächtnis der Menschen weiter, und heute sieht man die Obszönitäten, mit der ihre Zeitgenossen sie zu schmähen gedachten, als das, was sie sind: pornografische Fantasien, die nur ihre männlichen Schöpfer entlarven. Ihre Klugheit und ihr Charme haben am Ende über alle Anfeindungen gesiegt und wurden von Shakespeare in Versen gepriesen, die zum Bekanntesten gehören, was je über eine Frau geschrieben wurde:

Nicht kann sie

Hinwelken, täglich Sehn an ihr nicht stumpfen

Die immer neue Reizung; andre Weiber

Sätt’gen die Lust gewährend: sie macht hungrig,

Je reichlicher sie schenkt; denn das Gemeinste

Wird so geadelt, dass die heil’gen Priester

Sie segnen, wenn sie buhlt.59

Die Tage der römischen Republik waren bereits gezählt, als eine kleine Gruppe von Frauen als Rednerinnen in der Öffentlichkeit und vor Gericht in Erscheinung traten, was der Geschichtsschreiber Valerius Maximus voller Empörung kommentierte. »Wir dürfen diese Frauen nicht länger schweigend gewähren lassen, denen weder die Beschaffenheit ihrer Natur noch der Mantel der Bescheidenheit das Wort im Forum und in den Gerichtssälen verbietet«, schreibt er.60 Immerhin haben wir es seinen Unmutsäußerungen zu verdanken, dass wir überhaupt etwas von der Existenz dieser Frauen erfahren haben. Die bekannteste unter ihnen war Hortensia, die Tochter des Diktators Quintus Hortensius. In einer Episode, die nur als Fußnote in die Geschichtsbücher einging, machte sie Gebrauch von ihrer außergewöhnlichen Redegewandtheit, als sie sich 42 v. Chr. direkt ins politische Geschehen einmischte. Zu dieser Zeit wurde Rom von einem mächtigen Triumvirat, bestehend aus Marcus Antonius, Octavian und Marcus Lepidus, regiert; politische Gegner wurden gnadenlos verfolgt, verhaftet und hingerichtet. 2.300 Menschen fielen dem diktatorischen Regime der drei zum Opfer. Angesichts leerer Staatskassen verhängte die Regierung eine neue Steuer, die 1.400 wohlhabende Frauen der Stadt empfindlich traf. Die Betroffenen organisierten einen Protestmarsch und versuchten, ihr Anliegen den Frauen der drei Herrscher, deren Unterstützung sie zu gewinnen hofften, zu Gehör zu bringen. Dies wurde ihnen zwar verwehrt, doch es gelang ihnen immerhin, bis zur Rednertribüne des Forums vorzudringen.

Valerius Maximus zufolge »wagte kein Mann, ihre Sache zu vertreten«. So trat Hortensia vor und »trug dem Triumvirat entschieden und erfolgreich ihr Anliegen vor«. Hier spielte sich etwas ab, das sowohl in der Geschichte der Misogynie als auch in der Geschichte der Frauen (die zu großen Teilen eine Geschichte des Kampfes gegen die Misogynie ist) ausgesprochen bemerkenswert war. Zum ersten Mal wurde, wenn auch nur implizit, die Frage des Stimmrechts angesprochen. Im Verlauf ihrer eindrucksvollen Rede, die vor allem um das Leid der Frauen im Krieg kreist, stellt Hortensia die Frage: »Warum sollen wir Steuern zahlen, wenn wir keinen Teil haben an den Ämtern, der Macht und der Staatsführung, um die ihr mit so schlimmen Folgen streitet?«61

Auch wenn Hortensia nicht ausdrücklich das Wahlrecht für Frauen verlangt, kommt sie doch der Forderung sehr nah, die US-amerikanische Frauenrechtlerinnen viele Jahrhunderte später stellen sollten: keine Besteuerung ohne Stimmrecht.62

Der Protest gegen die Steuerbelastung markierte den Höhepunkt der politischen Einflussnahme römischer Frauen und war zugleich die letzte Aktion dieser Art. Und es sollte das letzte Mal in der Geschichte der westlichen Welt sein, dass Frauen auf die Straße gingen, um eine politische Veränderung zu bewirken, bis die Suffragetten im 19. Jahrhundert das Wahlrecht zur zentralen Forderung in ihrem Kampf gegen die Benachteiligung der Frauen machten.

Die Turbulenzen, die zum Untergang der Republik und zur Konzentration der Staatsmacht in den Händen einer einzigen Familie führten, brachten auch eine frauenfeindliche Gegenbewegung der konservativen Kräfte mit sich. Mit sorgenvollem Blick auf die Freiheiten der Frauen hielten sich die Moralisten im Lande an das Motto: »Weniger Lust und größere Familien.« Kaum hatte Octavian im Jahre 27 v. Chr. als Kaiser Augustus die Alleinherrschaft an sich gebracht, als Livius sich auch schon anschickte, seine Römische Geschichte aus der Sicht des Siegers zu schreiben, in der er sich eindeutig den Moralkodex des neuen Regimes zu eigen macht:

Ich wünschte, dass jeder Einzelne scharf darauf achte, welche Lebensform und welcher sittliche Zustand früher herrschten, durch welche Männer und durch welche Eigenschaften in Krieg und Frieden das Reich gewonnen und vergrößert wurde; er mag im Geiste verfolgen, wie daraufhin mit dem allmählichen Verfall der Zucht die Gesittung zuerst gleichsam niederging, dann mehr und mehr ins Gleiten geriet, um dann jäh zusammenzubrechen, bis es endlich zu unserer Zeit kam, in der wir weder unsere Gebrechen noch die Mittel, die man dagegen anwendet, zu ertragen vermögen.63

Das Problem war das gleiche wie in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts: Die Frauen hatten mehr Sex, aber weniger Kinder. Mit der Wiederbelebung der Familie als Idealmodell versuchte man diesem Trend entgegenzuwirken, wobei dem Römischen Reich natürlich andere Mittel staatlicher Gewalt zur Verfügung standen als den US-amerikanischen Moraldemokraten der 1980er Jahre.

 

Das alte Eherecht, das die Frau der absoluten Herrschaft ihres Mannes unterstellte, war im Lauf der Jahrhunderte hie und da gelockert und durch weniger restriktive Gepflogenheiten ersetzt worden. Die Ehemänner waren ganz offensichtlich nicht mehr aus dem harten Holz geschnitzt wie die Gründerväter Roms, sie waren mit den Jahren viel zu nachsichtig geworden. Manch einer weigerte sich, die Scheidung zu verlangen, wenn er seine Frau beim Ehebruch ertappte. Und es wurde gar unterstellt, dass einige Männer einen Vorteil aus dem Ehebruch ihrer Frau zogen. Freizügigkeiten dieser Art waren die Ursache des Sittenverfalls, den römische Moralisten zu entdecken glaubten, wohin sie auch blickten. Um der traditionellen römischen Familie wieder zu größerer Bedeutung zu verhelfen und seinen männlichen wie weiblichen Untertanen die Ehe schmackhafter zu machen, erließ Kaiser Augustus ein neues Gesetz, die Lex Julia. Nun wurde bestraft, wer bis zu einem bestimmten Alter noch nicht verheiratet war, und Belohnungen winkten jenen, die den Bund der Ehe schlossen und Kinder in die Welt setzten. Wie in alten Zeiten durften Väter wieder ihre Töchter, Männer ihre Ehefrauen töten, wenn sie sie beim Liebesakt erwischten, und ein Ehemann musste sich von seiner untreuen Frau scheiden lassen, wenn er nicht eine empfindliche Strafe riskieren wollte. Augustus nahm die Bestrafung für das Vergehen des Ehebruchs aus den Händen der Familie und unterstellte solche Fälle der staatlichen Gerichtsbarkeit. Scheidung war ihm nicht genug. Er wollte, dass untreue Ehefrauen durch die Instanzen gezerrt und öffentlich an den Pranger gestellt wurden. Dem betrogenen Ehemann blieben nach der Scheidung 60 Tage, um seine Exfrau vor Gericht zu bringen. Erwies er sich als zu gutherzig und versäumte die Frist, war jeder Staatsbürger über 25 berechtigt, sie anzuzeigen – wohl die eklatanteste je in Gesetzesform ergangene Aufforderung an alle selbstgerechten Wichtigtuer, die Spaß daran haben, wenn Frauen öffentlich gedemütigt werden. Frauen hatten zwar aufgrund der neuen Gesetze ebenfalls das Recht, nach einem Ehebruch ihres Mannes die Scheidung zu verlangen, sie waren dazu aber keineswegs verpflichtet; und sie hatten nicht die Möglichkeit, einen Prozess anzustrengen. Das heißt, Ehebruch war nur dann ein strafbares Vergehen, wenn er von einer Frau begangen wurde.64

Nach der neuen Jurisdiktion war einem Mann überhaupt jede außereheliche sexuelle Beziehung verboten, außer mit einer Prostituierten. Das bedeutete auf Frauen aus Patrizierfamilien bezogen, dass ihnen, sofern sie nicht verheiratet waren, keinerlei sexuelle Aktivitäten möglich waren. Aus Protest ließen einige dieser Frauen ihren Namen auf die Liste der Prostituierten setzen, die von den römischen Behörden geführt wurde, deren Aufsicht die 35 offiziellen Bordelle der Stadt unterstanden. Dieses Schlupfloch wurde von Augustus’ Nachfolger Tiberius durch ein Gesetz geschlossen, das es Frauen aus achtbaren Familien (gleichgültig ob von bürgerlicher oder adeliger Herkunft) verbot, sich als Prostituierte registrieren zu lassen.

Augustus verkündete seine neuen Gesetze von der Rostra aus, der aus der Frühzeit stammenden Rednerbühne, die er mit einer Verkleidung aus schwarzem Marmor und mit bronzenen Schiffsbugen hatte verzieren lassen. In seiner gesamten langen Amtszeit waren dies die einzigen Gesetze, denen er seinen Namen gab (Julia nach dem Patriziergeschlecht der Julier, in das ihn Julius Caesar durch Adoption aufgenommen hatte) – ein Zeichen dafür, welches Gewicht sie für ihn hatten. Es war einer der stolzesten Momente in seiner Laufbahn als Kaiser. Augustus, hieß es, habe Rom neu erstehen lassen. Wenig später, im Jahr 2 v. Chr., wurde ihm als erstem Römer vom Senat der Titel Pater Patriae, Vater des Vaterlandes, verliehen. Die Lex Julia jedoch stieß bei den Bürgern Roms auf entschiedene Ablehnung. Angesichts der Freiheiten, die sie bis dahin genossen hatten, war Widerstand gegen die neuen Gesetze vorprogrammiert. Er äußerte sich schließlich in einer für den Kaiser denkbar demütigenden Form.

Wenige Wochen, vielleicht sogar nur Tage nach der Verkündung der Gesetze im Senat verhöhnte Julia, Augustus’ 37-jährige Tochter, die Gesetze mit einer Aktion, die das von ihrem Vater so gepriesene neue Moralgefüge in seinen Grundfesten erschütterte. Hätte es damals schon eine Regenbogenpresse gegeben, so hätte auf den Titelseiten die Schlagzeile geprangt: »Julia im Orgienrausch: Sexgelage auf der Rostra«.

Der Stoiker und kaiserliche Berater Seneca wusste zu berichten: »Sie hatte sich Liebhaber in Scharen genommen. Sie hatte mit rauschenden Festen die nächtliche Stadt unsicher gemacht und als Schauplatz ihrer Orgien das Forum und die Rostra selbst erkoren, auf der ihr Vater das Ehebrechergesetz verkündet hatte.«65 Er warf Julia vor, sich hemmungslos mit wechselnden Liebhabern zu vergnügen. Man unterstellte ihr sogar, ihre Dienste als Prostituierte anzubieten. (Die gleichen Geschichten wurden später über Kaiser Claudius’ Frau Messalina verbreitet.)

Was von Julia, Kaiser Augustus’ einzigem Kind, überliefert ist, führt uns eine geistreiche und willensstarke Frau vor Augen. Der Schriftsteller Macrobius berichtet, dass sie einmal von ihrem Vater ob ihres freizügigen Aufzugs gerügt wurde. Als sie tags darauf in untadeliger Kleidung erschien, äußerte er sich beifällig, worauf sie erwiderte: »Heute habe ich mich für meines Vaters Augen, gestern für die eines Mannes gekleidet.«66

Die Anlagen, Träume und Ziele einer Tochter zählten jedoch wenig im Vergleich zu ihrem Potenzial, Söhne zu produzieren. Julia war von ihrem 15. bis zu ihrem 29. Lebensjahr mit drei Männern verheiratet, die ihr Vater in dem unbändigen Wunsch nach einem männlichen Erben für sie ausgewählt hatte. Manchmal muss sie sich gefühlt haben wie eine kaiserliche Gebärmaschine. Pflichtschuldig setzte sie drei Söhne und zwei Töchter in die Welt. Erzeuger aller ihrer Kinder war ihr zweiter Mann Agrippa, rechte Hand ihres Vaters, der bei der Eheschließung mehr als doppelt so alt war wie sie selbst. Von ihren Söhnen lebte allerdings keiner lange genug, um den Traum ihres Vaters von einem männlichen Nachfolger aus direkter Linie zu erfüllen. Erst eine ihrer Töchter, Agrippina, sollte den ersehnten Thronfolger hervorbringen – den späteren Kaiser Caligula.

Julias Verhalten entsprang keineswegs einer Laune des Augenblicks. Zeit und Ort ihrer Orgie auf der Rostra waren so gewählt, dass sie die größtmögliche Wirkung damit erzielte. Genau in dem Jahr, in dem Augustus zum Pater Patriae ernannt wurde, entlarvte sie öffentlich sein vollkommenes Versagen als Familienvater. Sie wusste, wo sie ihren Vater am empfindlichsten treffen konnte. Ihr ausschweifendes Liebesleben war die Rache einer Tochter, die sich mit dem einzigen ihr zur Verfügung stehenden Mittel gegen ihren Vater auflehnt: indem sie, wie sich Seneca entrüstet, hemmungslos ihr Vergnügen sucht. Sie setzte – weil ihr Körper zum Politikum geworden war – ihre Sexualität als politisches Druckmittel ein. Indem sie ihren Körper weggab, forderte sie ihn paradoxerweise für sich zurück. Hinter Julias Verhalten stand allerdings nicht nur gesellschaftliches Aufbegehren, sondern auch persönlicher Protest. Augustus’ Gesetze fanden in der Bevölkerung wenig Akzeptanz, am wenigsten in den intellektuellen Kreisen, in denen sich Julia bewegte. Hier bildete sich allmählich eine kulturelle Gegenbewegung heraus, ähnlich der sexuellen Revolution in den 1960er Jahren, die sich in den USA und in anderen westlichen Demokratien als Gegengewicht zu der konservativen, familienorientierten Ethik der vorangegangenen Jahre formierte.

Augustus war so erbost, dass er nicht einmal versuchte, den Skandal zu vertuschen. Er brachte seine Tochter und ihre Freunde wegen Unzucht, Ehebruchs und Prostitution vor Gericht, wo die ganze Geschichte genüsslich breitgetreten wurde. Julia wurde verurteilt, und Augustus schickte sie in die Verbannung, wo sie 16 Jahre später starb, ohne je wieder einen Fuß nach Rom gesetzt zu haben.

Jetzt war die Bühne frei für eine der großen Schöpfungen des Frauenhasses. Cato der Ältere hatte seine römischen Landsleute einst, als die Frauen das Recht gefordert hatten, sich herauszuputzen und zu schmücken, davor gewarnt, diesen »ungezähmten Geschöpfen die Zügel schießen« zu lassen, weil sonst vollkommene Anarchie und das Ende jeder Moral drohe. Alle seine Ängste fanden ihre Verkörperung in Messalina, der Frau des Kaisers Claudius (10–54 n. Chr.).

Messalina war die Urenkelin von Augustus’ Schwester Octavia, die Marcus Antonius nach dem Tod seiner ersten Frau Fulvia geheiratet hatte. Bei ihrer Eheschließung mit Claudius im Jahr 37 n. Chr. war sie vermutlich noch ein Teenager (ihr genaues Geburtsdatum ist nicht bekannt), während er schon auf die 50 zuging. Vier Jahre später, nach der Ermordung Caligulas, trat Claudius dessen Thronfolge an. Er bekleidete das Amt 13 Jahre lang. Eher untypisch für einen römischen Kaiser, wird er als exzentrischer, immer kränkelnder Gelehrter porträtiert, dessen größtes Interesse der Erforschung der Geschichte galt. In krassem Gegensatz dazu wurde der Name seiner jungen Ehefrau zum Synonym für eine psychosexuelle Neurose: »Übersteigerte Heterosexualität (Zügellosigkeit), die auch unter der Bezeichnung ›Messalina-Komplex‹ bekannt ist«67. In unserer Zeit wurden einige Theorien zur Erklärung des »Messalina-Komplexes« entworfen, von Frigidität über verkümmerten Mutterinstinkt bis zur lesbischen Neigung; neuerdings wird die Existenz einer nymphomanischen Störung generell in Frage gestellt.68 Aber die historische Messalina ist mehr als nur eine psychologische Kategorie. Sie ist, abgesehen von vielen anderen Dingen, ein Paradebeispiel für die reduktive Wirkung von Vorurteilen.

Messalinas historische Bedeutung liegt in der Tatsache, dass sie erst die zweite Frau war, die es zur römischen Kaiserin brachte. Ihre einzige Vorgängerin war Livia, Augustus’ strenge Gattin, die den untadeligen Lebenswandel einer sittsamen Matrone geführt hatte. In einer einzigen Hinsicht scheint Messalina ihr nachgeeifert zu haben: in der Entschlossenheit, mit der sie jeden aus dem Weg räumen ließ, den sie für ihren oder ihres Mannes Feind hielt oder der ihre Bestrebungen, ihrem Sohn Britannicus die Thronfolge zu sichern, hintertrieb. Darin erwies sie sich als ungeheuer effizient, indem sie potenzielle Konkurrenten, die den Machtanspruch der julisch-claudischen Dynastie in Frage stellten, ermorden ließ, bevor sie ihr gefährlich werden konnten. Dass Messalina nicht als skrupellose Politikerin, sondern als Nymphomanin in die Geschichte eingegangen ist, ist vor allem dem Porträt zuzuschreiben, das der Dichter Juvenal (50–127 n. Chr.) in seiner Sechsten Satire von ihr entworfen hat. Darin beschreibt er, wie sie sich, sobald Claudius in den Schlaf gesunken ist, mit einer blonden Perücke verkleidet durch die nächtlichen Straßen von Rom schleicht, um ein Bordell zu besuchen:

Sieh die Rivalen der Götter! Des Kaisers Claudius Schande

Höre: sobald Messalina im Schlaf ihren Ehgemahl wusste,

Hat mit dem Lager im Kaiserpalast sie die Matte vertauschet.

Und sie griff frech, die Kaiserin-Hure, des Nachts zur Kapuze,

Heimlich schlich sie sich fort, nur von einer der Mägde begleitet.

Das verbarg sie das kohlschwarze Haar in der blonden Perücke,

Und sie betrat das schwüle Bordell, das mit Lumpen verhängte,

Und ihre Kammer, für sie nur verwahrt. Da bot sie sich nackend

Preis mit vergoldeten Brüsten, Lyciscas Namen missbrauchend,

Und sie zeigte den Leib, der dich, edler Britannicus austrug.

Zärtlich empfing sie die Gäste und ließ sich billig bezahlen.

Dann, als der Kuppler bereits seine Weiber entließ, ging sie traurig

Fort und schloss ihre Kammer, wenn irgend sie konnte, als letzte;

Aber sie brannte noch dann von der Nessel der brünstigen Scheide,

Und, von Männern erschöpft, doch nimmer befriedigt, verschwand sie;

Bös von Schatten im Antlitz entstellt, nach dem qualmenden Lämpchen

Stinkend, trug sie den Duft des Bordells zum Polster des Kaisers.69

Dieses Bild, das die Frau auf eine unersättliche, alles verschlingende Vagina reduziert, hat sich wie der Mythos der Pandora oder der Eva ins Gedächtnis der Menschheit eingeprägt. Aber ist das Porträt, das er zeichnet, auch ein Mythos? Juvenal schrieb seine Satiren etwa 60 Jahre nach Claudius’ Tod, und in der nun herrschenden Dynastie gab es noch immer starke Antipathien gegen das julisch-claudische Geschlecht. Die ehrbare römische Matrone war in Gestalt der Ehefrauen der beiden Kaiser Trajan (53–117 n. Chr.) und Hadrian (76–138 n. Chr.) wiederauferstanden. Und Juvenal war, nicht zu vergessen, ein Satiriker und pflegte als solcher die Schwächen und Untugenden der Menschen und der Gesellschaft auf die Schippe zu nehmen. Ein Mittel der Satire ist die Übertreibung, mit der sowohl eine komische Wirkung erzielt als auch die Moral der Geschichte auf den Punkt gebracht werden soll. Moralisten aller Zeiten, sei es im Rom des 2. Jahrhunderts oder in den USA unserer Tage, fanden und finden unsägliche Befriedigung darin, die tiefsitzenden Ängste und Vorurteile ihres Publikums zu bedienen. Man kann darüber streiten, wie weit Juvenals eigene frauenfeindliche Tendenzen reichten, sicher ist, dass er mit dem Frauenhass seiner Leser spielte. Und er tat dies, wie viele Frauenhasser vor und nach ihm, mit erstaunlicher Eloquenz. Die Sechste Satire ist eines von vielen Beispielen für ein Paradoxon der Misogynie: Sie hat den fruchtbaren Boden für große Literatur abgegeben. Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass irgendeine andere diskriminierende Haltung literarische Werke von Bedeutung hätte hervorbringen können. Das Paradoxon trifft den Kern und den entscheidenden Widerspruch der Misogynie. In Juvenals Porträt der Frau, die hier sein Missfallen erntet, scheint unverkennbar Faszination und Begehrlichkeit durch. Und diese Begehrlichkeit ist nicht minder eine Triebfeder seiner Eloquenz als sein Missfallen.

 

Messalinas Ehe mit Claudius währte sieben Jahre, und in dieser Zeit hatte der Kaiser offenbar keine Ahnung von den erotischen Eskapaden seiner Frau. Das Ereignis, auf das ihr Sturz folgte, hat viele Historiker ratlos gemacht. Im Jahr 48 n. Chr. – Claudius weilte zu dieser Zeit fern von Rom – vermählte sie sich während eines Bacchanals mit einem gut aussehenden Patrizier namens Caius Silius. Die Behauptung, diese Heirat sei Teil einer Verschwörung mit dem Ziel, Claudius zu stürzen, entbehrt jeder Grundlage, wenn man bedenkt, wie unerbittlich Messalina bis dahin die Interessen ihres Sohnes als Thronfolger vertreten hatte. Warum hätte sie Britannicus unter die Vormundschaft eines Stiefvaters stellen sollen, der bereits eigene leibliche Söhne hatte? Ihre und ihres Sohnes Interessen waren am sichersten gewahrt, solange Claudius am Leben und an der Macht war. Der Geschichtsschreiber Cornelius Tacitus wartet mit einer viel einfacheren und naheliegenderen Erklärung auf:

Schon begann Messalina, des leichten Spiels mit ihrem ehebrecherischen Treiben überdrüssig, sich bis dahin unbekannten Ausschweifungen hinzugeben. Eine formelle Eheschließung wünschte sie jedoch als den Höhepunkt der Schändlichkeit, an der Leute, die sich ganz wegwerfen, das letzte Vergnügen finden.70

Messalinas Heirat war nichts anderes als Julias Orgie auf der Rednerbühne des Forums – die provokative Inszenierung sexueller Auflehnung. Nur fehlte bei Messalina das politische Motiv, das Julia zu ihrer Handlungsweise veranlasst hatte. Messalinas Tat wurde rasch bekannt, und Claudius wurde von seinen Vertrauten, die besorgt waren ob der zunehmenden Machtfülle der Kaiserin, über die lange Liste ihrer Verfehlungen in Kenntnis gesetzt. Sie erhielt den Befehl, sich selbst zu töten. Doch im entscheidenden Moment verließ die junge Frau der Mut, worauf ein Offizier der Prätorianer sie erdolchte.

Wer Aufschluss über die Machtkämpfe der römischen Herrscherhäuser im 1. Jahrhundert sucht, findet ihn in den düster-ironischen Schriften des Tacitus, der wie kein anderer die Jahre beschreibt, in denen der julisch-claudische Clan den Verwaltungsapparat des riesigen Reiches immer fester in seinen begehrlichen Würgegriff nahm. Eines der eindrucksvollsten Porträts, die Tacitus von den frühen Caesaren und ihren Frauen gezeichnet hat, ist das der Julia Agrippina, der Nachfolgerin Messalinas und Mutter Neros. Agrippina war der Macht so nah wie keine römische Frau vor ihr oder nach ihr.

Konservative und Frauenhasser waren sich darin einig, dass Agrippinas beispielloser Aufstieg zur Macht alle Warnungen bestätigte, die Cato der Ältere 200 Jahre zuvor über die Gefahren der weiblichen Emanzipation geäußert hatte. »Sobald sie angefangen haben, gleichberechtigt zu sein, werden sie euch auf der Stelle über sein.«

Agrippina war eines von neun Kindern des Feldherrn Germanicus, den Kaiser Tiberius adoptiert hatte, und seiner Frau Agrippina der Älteren, deren Mutter Kaiser Augustus’ in die Verbannung geschickte Tochter Julia war. Sechs der neun Kinder, drei Töchter und drei Söhne, erlebten das Erwachsenenalter. Von ihnen starb nur eines, Agrippinas jüngere Schwester Drusilla, eines natürlichen Todes. Alle anderen fielen den Machtkämpfen zum Opfer, die das frühe Kaiserreich prägten. Julia Agrippina war mit drei römischen Kaisern verwandtschaftlich verbunden: als Schwester, als Ehefrau und als Mutter. Böse Zungen behaupten, alle drei seien auch ihre Geliebten gewesen.

Als Julius Caesars Urururenkelin war Agrippina die Jüngere kaiserlicher Herkunft von Geburt, und der imperiale Zug äußerte sich in ihrem machthungrigen Charakter ebenso, wie er sich bei ihrer Mutter gezeigt hatte. Diese hatte ihren Ehemann auf einen Feldzug nach Germanien begleitet und eine seiner Legionen an der panischen Flucht gehindert, indem sie selbst das Kommando übernahm und eine wichtige Furt am Rhein so lange hielt, bis Germanicus mit seinem Heer von einer gefährlichen Expedition ins Landesinnere zurückkehrte. Nach dem (ungeklärten) Tod ihres Mannes wurde sie von Kaiser Tiberius, der ihre Machtbestrebungen fürchtete, auf die Insel Pandateria verbannt, wo sie 33 n. Chr. aus Protest durch Nahrungsverweigerung ihrem Leben ein Ende setzte. Zu diesem Zeitpunkt war ihre Tochter Julia Agrippina 18 Jahre alt.

Agrippina die Jüngere heiratete 49 n. Chr. in dritter Ehe ihren Onkel Claudius, nachdem eigens zu diesem Zweck eine Gesetzesänderung beschlossen worden war, die eine Eheschließung zwischen Nichte und Onkel möglich machte. Tacitus schreibt:

Umgewandelt war seitdem die Stadt, und alles gehorchte einer Frau, die nicht mutwillig, wie Messalina, ihre Launen am römischen Staatsleben ausließ. Straff und gleichsam männlich zog sie die Zügel der Sklaverei an; in der Öffentlichkeit zeigte sie Strenge und in der Regel Hochmut; in ihrem Haus gab es keine Sittenlosigkeit, außer wenn es ihrer Herrschsucht dienen konnte.71

Schon nach einem Jahr war Agrippina auf offiziellen Münzen neben ihrem neuen Gemahl abgebildet. Als erste Frau eines noch lebenden Kaisers durfte sie den Titel Augusta tragen. »Man kann die Aufwertung ihrer Stellung nicht hoch genug einschätzen«, schreibt der Historiker Anthony Barrett. »Mehr als alles andere vermittelte sie das Bild einer Kaiserin, nicht im tatsächlichen Sinne einer Person, die autorisiert ist, rechtlich bindende Entscheidungen zu treffen, aber in dem Sinne, dass sie den gleichen Anspruch auf alle Würden hatte, die das kaiserliche Amt mit sich bringt.«72

Als im Jahr 51 n. Chr. nach langen Kämpfen der britannische Fürst Caratacus in Ketten nach Rom gebracht wurde, nahm Julia Agrippina die siegreichen Legionen und ihre Gefangenen an der Seite ihres Mannes in Empfang. Tacitus beschreibt die Szene so:

Dann, der Fesseln ledig, bezeigten sie auch Agrippina, die nicht weit entfernt auf einer anderen Tribüne die Blicke auf sich zog, mit gleichem Lob und Dank wie dem Kaiser ihre Verehrung. Es war freilich etwas Neues und gegenüber den Sitten der Alten ungewöhnlich, dass eine Frau das Kommando über römische Truppen führte: aber sie selbst wollte als Mitinhaberin der von ihren Vorfahren geschaffenen Herrschaft auftreten.73

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