Misogynie

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Erst lange nach dem Ende der Altsteinzeit tauchte mit den Kelten eine vorklassische Kultur in Europa auf, die schriftliche Hinweise dafür lieferte, dass es eine matriarchalisch organisierte Gesellschaft gegeben haben könnte, bevor die Griechen und Römer der Geschichte ihren hegemonialen Stempel aufdrückten. Anhaltspunkte hierfür finden sich nicht nur in keltischen Mythen und Legenden, sondern auch in griechischen und römischen Schriften, in denen die empörenden Freiheiten kommentiert wurden, die Frauen in keltischen Kulturen genossen.

Sicher wäre es reizvoll, an die Existenz eines vergangenen Arkadien zu glauben, eines goldenen, aber verlorenen Zeitalters, in dem die Beziehung zwischen Frauen und Männern vollkommen harmonisch war; aber das ist illusionär. Bestenfalls könnte man – in Bezug auf die keltische Kultur zumindest – spekulieren, dass es einmal eine ausgewogenere Beziehung zwischen den Geschlechtern gegeben hat. In den folgenden Kapiteln wird gezeigt werden, dass diese Beziehung mit dem Aufstieg des griechischen und des römischen Reichs aus dem Gleichgewicht geriet, und wir werden den von Weininger benannten Dualismus unter die Lupe nehmen, den diese beiden Kulturen etablierten. In diesem Dualismus ist der Mann die These und die Frau die Antithese.

Im dualistischen Denken gibt es, anders als in der Dialektik, keine Synthese – der Konflikt zwischen den Geschlechtern ist auf ewig festgeschrieben. Frauen sahen sich mit einer Fülle philosophischer, wissenschaftlicher und juristischer Argumente konfrontiert, die dem Zweck dienten, ihre »naturgegebene Minderwertigkeit« gegenüber den Männern zu belegen und zu zementieren. Das Christentum fügte dem später noch sein theologisches Argument mit solchem Nachdruck hinzu, dass wir die Auswirkungen noch heute spüren.

Mit der Verbreitung der freiheitlichen Demokratie im Gefolge der Aufklärung nahm der lange Kampf um die politische und rechtliche Gleichstellung der Frauen seinen Anfang. Doch der institutionalisierte Frauenhass hat sich noch nie durch den Fortschritt aufhalten lassen. Als auf die politische und rechtliche Gleichstellung der Frauen in der westlichen Welt die sexuelle Revolution folgte, löste dies eine heftige Gegenreaktion fundamentalistischer Protestanten und konservativer Katholiken aus. In vielen Ländern der Dritten Welt bedrohte das Bestreben um die Durchsetzung von Frauenrechten tiefsitzende religiöse Überzeugungen und gesellschaftliche Konventionen. Die Entwicklung kulminierte im talibanregierten Afghanistan – einem Staat, der sich die Unterdrückung der Frau zum obersten Ziel gemacht hatte. Hier wurden Frauen per Gesetz aus dem öffentlichen Leben verbannt und ihrer Grundrechte beraubt – ähnlich den deutschen Juden im Nationalsozialismus, die durch die Nürnberger Gesetze zu Menschen zweiter Klasse erklärt wurden. Selten – wenn überhaupt je zuvor – hat sich das Wesen der Misogynie – die Entmenschlichung der Hälfte der Menschheit – so unverhüllt offenbart.

Frauenhass trifft uns wie kein anderer Hass, weil er auf unser tiefstes Inneres zielt. Er ist da angesiedelt, wo sich innere und äußere Welt überschneiden. Die Geschichte der Misogynie mag sich mit deren äußeren Folgen befassen, aber gleichzeitig zwingt sie uns, darüber nachzudenken, warum sich in der komplexen Beziehung des Mannes zur Frau ein solcher Hass breitmachen konnte. Am Ende sollte dieses Nachdenken die Menschen zu der Erkenntnis führen, dass die Gleichheit der Geschlechter der Boden ist, auf dessen Grundlage der Frauenhass überwunden und der ältesten Diskriminierung der Welt ein Ende gesetzt werden kann.

1 Tertullian, »De cultu feminarum« (»Über den weiblichen Putz«, deutsche Übersetzung von Heinrich Kellner), I.1, in: Private und katechetische Schriften, Reihe 1, Band 7, München, Kösel 1912

2 Otto Weininger, Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, Wien, Leipzig, Gustav Kiepenheuer Verlag und Wilhelm Braunmüller Verlag 1932, S. 373 f.

3 Rosalind Miles, Weltgeschichte der Frau, München, Piper 1993, S. 38 f.

4 Ebd., S. 40

1
Pandoras Töchter

Man kann den Zeitpunkt, an dem eine Diskriminierung beginnt, nur selten genau bestimmen. Aber wenn der Frauenhass einen Ursprung hat, dann irgendwann im 8. Jahrhundert v. Chr. irgendwo im östlichen Mittelmeerraum.

Um diese Zeit verbreiteten sich in Griechenland und Judäa Schöpfungsgeschichten von mythologischer Kraft, in denen vom Sündenfall des Menschen erzählt und die Schuld an allem daraus resultierenden Elend und Leiden den Frauen und ihrer Charakterschwäche angelastet wird. Beide Schöpfungsmythen sind fest im Weltbild der abendländischen Kulturen verankert, gespeist von ihren beiden einflussreichsten Quellen: In der jüdischen Tradition, wie sie in der Genesis erzählt (und zumindest in den Vereinigten Staaten von den meisten Menschen noch heute für wahr gehalten) wird5, ist Eva die Übeltäterin, bei den Griechen ist es Pandora.

Die Griechen sind die Gründungsväter unserer Geisteswelt. Ihre Vorstellung eines von Naturgesetzen bestimmten Universums, die der menschliche Geist erforschen und begreifen kann, ist das Fundament, das unserer Wissenschaft und Philosophie zugrunde liegt. Sie haben die erste Demokratie errichtet. Aber auch in der Geschichte des Frauenhasses nehmen sie eine herausragende Stellung als Wegbereiter eines negativen Frauenbildes ein, das sich bis in unsere Zeit gehalten hat und jede uns möglicherweise noch verbliebene Illusion, mit dem Aufstieg von Vernunft und Wissenschaft müsse zwangsläufig ein Niedergang von Vorurteilen und Hass einhergehen, zunichte macht.

Die erste schriftliche Überlieferung des Pandora-Mythos stammt von Hesiod, einem Bauern, der sich zum Dichter berufen fühlte und die Geschichte im 8. Jahrhundert v. Chr. in zwei epischen Dichtungen – Theogonie und Werke und Tage – aufschrieb. Seine als Bauer erworbenen Kenntnisse der Natur hinderten ihn nicht daran, in seinem Bericht von der Erschaffung der Menschheit einige grundlegende Tatsachen des Lebens zu ignorieren. Dem zufolge lebten die Männer nämlich, bevor die Frauen in Erscheinung traten, in seliger Selbstgenügsamkeit als Gefährten der Götter, »fern von Übeln, elender Mühsal und quälenden Leiden …«6. Wie in der biblischen Schöpfungsgeschichte ist die Frau nur ein nachträglicher Einfall. Aber in der griechischen Mythologie ist damit auch noch eine bösartige Absicht verbunden. Der Göttervater Zeus will die Männer bestrafen, indem er ihnen das Geheimnis des Feuers vorenthält, so dass sie das Fleisch roh essen müssen wie Tiere. Doch der Halbgott Prometheus, der die ersten Männer geschaffen hat, stiehlt das Feuer aus dem Himmel und bringt es auf die Erde. Wütend über diese Täuschung ersinnt Zeus eine beispiellose Gemeinheit in Form eines »Geschenks«: Er will den Männern »ein Übel geben, an dem jeder seine Herzensfreude haben und doch sein Unheil umarmen soll«: Pandora, das »Allgeschenk« – »weil alle Bewohner der olympischen Häuser ihr Gaben schenkten zum Leid der schaffenden Männer«7. Kalon Kakon, wie sie im Griechischen auch genannt wird, heißt »das schöne Übel«. Sie war so schön wie die Göttinnen selbst.

Von ihr kommt das schlimme Geschlecht und die Scharen der Weiber, ein großes Leid für die Menschen; sie wohnen bei den Männern, Gefährtinnen nicht in verderblicher Armut, sondern nur im Überfluss.8

Zeus weist die Götter an, Pandora einen »hündischen Sinn und verschlagene Art einzupflanzen«. Dann schickt er sie Epimetheus, dem jüngeren Bruder des Prometheus, als Geschenk. Der erliegt ihrem Zauber und nimmt sie zur Gemahlin. Pandora bringt ein großes versiegeltes Fass mit, das sie dem Willen der Götter nach niemals öffnen darf. Das Fass ist ein tönernes, bauchiges Gefäß, wie es als Vorratsbehälter für Wein und Olivenöl und in früherer Zeit auch als Sarg verwendet wurde.9 Pandora kann der Versuchung nicht widerstehen, einen Blick hineinzuwerfen:

Das Weib aber hob mit den Händen den mächtigen Deckel vom Fass, ließ alles heraus und schuf der Menschheit leidvolle Schmerzen.10

Seither, so die griechische Mythologie, sind die Menschen dazu verdammt, sich zu plagen, zu altern, Krankheit und qualvollen Tod zu erleiden.

Mythen haben die Funktion, Fragen zu beantworten, wie wir sie als Kinder gestellt haben, etwa in der Art von: »Warum leuchten die Sterne?« oder: »Warum ist der Großvater gestorben?«. Sie dienen aber auch dazu, die bestehende – natürliche und soziale – Ordnung der Dinge zu rechtfertigen und prägen Traditionen, Überzeugungen und Rollen in der Gesellschaft. Einer der zentralen Glaubenssätze der griechischen und später auch der judaisch-christlichen Kultur besagte, dass der sterbliche Mann von den Göttern beziehungsweise von Gott nicht zusammen mit den Tieren, sondern in einem eigenen Schöpfungsakt geschaffen wurde. Dieser Glaube, der sich unter konservativen Christen beharrlich gehalten hat, ist auch der Grund, warum Darwins Evolutionstheorie bis heute auf so erbitterten Widerstand stößt. Der Besitz des Feuers galt als Beweis dafür, dass sich der Mann von den Tieren unterschied und dass er in der Artenhierarchie höher stand als diese. Aber dadurch, dass sich der Mann in den Besitz des Feuers brachte, trat er den Göttern zu nahe. Für diesen Hochmut nun wurde er mit der Frau bestraft, die ihn daran erinnern sollte, dass der sterbliche Mensch, gleichgültig was seine Herkunft und seine höheren Ziele sein mögen, genauso in die Welt eintritt wie das niedrigste Tier. Heute wird diese ursprünglich verächtliche Sicht von einigen ins Gegenteil verkehrt: Sie preisen gerade diese, wie sie es sehen, engere Verbindung der Frau zur Natur. Die Griechen jedoch sahen in der Natur eine Bedrohung ihres höheren Selbst, und die Frau war für sie die mächtigste (weil verführerischste) Verkörperung der Natur. Sie musste ihres Menschseins beraubt werden, obwohl sie den Fortbestand der Menschheit sicherte. Ihr gebührte Verachtung, weil sie die Lust entfachte, die uns in den Kreislauf von Geburt und Tod führt, aus dem es kein Entrinnen gibt.

 

Die Griechen schoben nicht nur Pandora die Schuld für die Sterblichkeit des Menschen in die Schuhe, sie definierten darüber hinaus die Frau als die Antithese zur männlichen These, das »Andere«, das in festen Grenzen gehalten werden musste. Vor allem aber legten die Griechen das philosophisch-wissenschaftliche Fundament für eine dualistische Sicht der Wirklichkeit, in der Frauen auf ewig dazu verdammt waren, diese wandelbare und grundsätzlich verachtenswerte Welt zu repräsentieren. Das ist eines der Paradoxa, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen: dass einige der Werte, die uns am meisten bedeuten, in einer Gesellschaft geprägt wurden, in der Frauen erniedrigt, verunglimpft und geschmäht wurden. »Im Athen des Dunklen Zeitalters setzte sich eine auch dem heutigen Leser vertraute geschlechtsspezifische Rollenverteilung endgültig durch«11, schreibt die Historikerin Sarah Pomeroy. Das heißt, neben Platon und dem Parthenon verdanken wir Griechenland einige der billigsten geschlechtlichen Dichotomien wie die vom »guten« und vom »bösen« Mädchen.

Hesiod verfasste seine Schriften etwa fünf Jahrhunderte, nachdem die Stämme, aus denen später die Griechen wurden, als Eroberer in den Mittelmeerraum eingedrungen waren und neben dem griechischen Festland auch die umliegenden Inseln und die westlichen Küstengebiete Kleinasiens (die heutige Türkei) besetzt hatten. Im 6. Jahrhundert hatten sich die Griechen im Westen bis nach Sizilien, in die Küstenregionen Süditaliens und an die Südostküste Galliens (des heutigen Frankreich) ausgebreitet. Sie brachten ihr Pantheon kriegerischer Götter mit, deren Mächtigster Zeus mit dem Donnerkeil war. Nun ist eine Kultur noch nicht zwangsläufig frauenfeindlich, nur weil sie ein paar gewalttätige Kriegsgötter hat. Ältere Kulturgruppen, auf die die Griechen bei ihren Eroberungszügen stießen, wie die Ägypter oder die Babylonier beispielsweise, hatten Kriegsgötter in Hülle und Fülle, aber sie hatten nichts, was dem Mythos vom Sündenfall vergleichbar gewesen wäre. Im sumerischen Gilgamesch-Epos, das um 3000 v. Chr. in Mesopotamien entstand, gibt es einen Helden, der wie Prometheus die Götter herausfordert. Gilgamesch tut dies, indem er gleich ihnen Unsterblichkeit erlangen möchte; aber in diesem Fall wird keine Frau zum Instrument eines rachsüchtigen Gottes gemacht, der die Männer dafür bestraft, dass sie das Schicksal der Sterblichkeit nicht hinnehmen wollen. Gilgamesch macht auch nicht die Frauen für das »Los der Menschen« verantwortlich; daran, dass wir sterben müssen, sind die Götter schuld. Die Göttin, die über das Paradies herrscht, sagt zu Gilgamesch:

Gilgamesch, wohin läufst du? Das Leben, das du suchst, wirst du sicher nicht finden! Als die Götter die Menschheit erschufen, teilten den Tod sie der Menschheit zu, nahmen das Leben für sich in die Hand. Du, Gilgamesch – dein Bauch sei voll, ergötzen magst du dich Tag und Nacht! Feiere täglich ein Freudenfest! Tanz und spiel bei Tag und Nacht! Deine Kleidung sei rein, gewaschen dein Haupt, mit Wasser sollst du gebadet sein! Schau den Kleinen an deiner Hand, die Gattin freu’ sich auf deinem Schoß! Denn auch solcher Art ist des Menschen Los!12

In der nomadischen Kultur der Kelten, die sich etwas später in Nordwesteuropa ausbreitete, gab es zwar ebenfalls jede Menge Geschichten vom gefundenen und verlorenen Paradies, aber den Mythos vom Sündenfall sucht man auch hier vergebens. Wie die Sumerer stellten sich die Kelten das Paradies als blühenden Garten vor, in dem schöne Frauen herrschen und die Männer verführen, sich einem Leben in Glückseligkeit hinzugeben. Der einzige Konflikt, der daraus resultiert, ist der innere Zwiespalt des Mannes, der zwischen Heimweh und seinem Verlangen nach den Frauen des Gartens hin- und hergerissen ist. Hier gibt es die Lust, aber ganz ohne negative Folgen. Die Kelten kennen keine Entsprechung der Pandora oder der Eva.

Die Götter des Pantheon – der Überlieferung nach auf dem Olymp angesiedelt – wurden zu den Nationalgöttern Griechenlands und erhielten ein paar charakteristische Wesenszüge. Vier der fünf höheren Göttinnen sind entweder jungfräulich oder geschlechtslos. Die wichtigste von allen, Athene, ist so androgyn wie die Freiheitsstatue im Hafen von New York. Sie wird gewöhnlich mit Schild, Schwert und Helm dargestellt, gekleidet in ein langes, schweres Gewand, das ihre Körperformen verhüllt. Aphrodite, die Göttin der Liebe, verhält sich gelegentlich wie ein himmlischer Schwachkopf. Die Geschlechtslosigkeit der griechischen Göttinnen steht in eklatantem Gegensatz zur gewalttätigen Draufgängernatur ihrer männlichen Gegenparts. Und zu allem Überfluss steht dem griechischen Pantheon mit Zeus ein Serienvergewaltiger als Göttervater vor. Fast alle seine zahlreichen Nachfahren sind durch Vergewaltigung einer sterblichen Frau gezeugt, mit Ausnahme von Athene und Dionysos, die Zeus höchstpersönlich gebiert. Athene entspringt – in voller Rüstung, mit Schwert und Schild – dem Kopf des Zeus, Dionysos wird aus seinem Schenkel geboren.

Alle Religionen verlangen von uns, dass wir an das Unmögliche glauben. Im Schöpfungsmythos um Pandora, in dem Männer ohne weibliches Zutun das Licht der Welt erblicken können, drückt sich die männliche Wunschvorstellung von einer autarken, von Frauen gänzlich unabhängigen Existenz aus. Der unmögliche Wunsch gipfelt im griechischen Pantheon in dem männlichen Anspruch, Frauen ausgerechnet da für überflüssig zu erklären, wo sie tatsächlich unentbehrlich sind – bei der Fortpflanzung. So absurd der Mythos vom Göttervater, der zur Mutter der Götter wird, auch klingen mag, erhielt er doch Auftrieb durch Aristoteles’ Lehre, in der die Rolle der Mutter während der Schwangerschaft als eine rein nährende definiert ist. Er sah sie als passive Empfängerin des männlichen Samens, der außer der Umgebung alles enthält, was der Fötus zu seiner Entwicklung benötigt. Was immer die Frauen können, die Männer können es offenbar besser – auch wenn man noch von keinem griechischen Mann gehört hat, der sich darum gerissen hätte, Möglichkeiten seiner Befruchtung und Gebärfähigkeit zu erforschen.

Die Frauenfeindlichkeit breitete sich in Griechenland im 8. Jahrhundert v. Chr. genau zu der Zeit aus, als der Einfluss der Familiendynastien nachließ und die Macht auf den Staatskörper des Stadtstaates überging. Die Historikerin Susan Blundell schreibt:

Wo die politische Macht im Herrscherhaus wurzelte, waren die Grenzen zwischen familiären und politischen, zwischen privaten und öffentlichen Dingen nicht annähernd so scharf gezogen. Die Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen war fließend, und so kam es, dass eine Frau – in Abwesenheit ihres Mannes – politische Macht ausüben konnte.13

Bündnisse zwischen Adelsfamilien waren von großer Bedeutung, und die Frauen spielten beim Knüpfen solcher Bande eine entscheidende Rolle. Das spiegelt sich im Werk Homers, eines der begnadeteren Zeitgenossen Hesiods. In der Ilias, der Geschichte von der Belagerung Trojas, hat Menelaos von Sparta seiner Gattin Helena die Königswürde zu verdanken. Für ihn ist es nicht nur ihrer unvergleichlichen Schönheit wegen lebenswichtig, Helena wiederzubekommen, nachdem sie sich mit Paris nach Troja davongemacht hat, sondern vor allem deshalb, weil sein Thron davon abhängt.

In der Ilias und in der Odyssee greift Homer auf Geschichten aus der älteren dynastischen Zeit zurück. In diesem ursprünglichen Stoff sind Frauen im Allgemeinen positiv porträtiert: Sie sind komplexe, starke Charaktere und gehören zum Einprägsamsten, was die Literatur zu bieten hat. Das Ende dieser Periode ging einher mit dem Übergang von der Hirtenkultur zu einer arbeitsintensiveren Ackerbauwirtschaft, in der die Sicherung von Besitz ein wichtiges Anliegen war. Aber wie jede andere Form eines tiefsitzenden Hasses kann man die Frauenverachtung, die aus Hesiods Werken und überhaupt aus den noch existierenden Schriften des 8. Jahrhunderts spricht, nicht allein auf die Veränderungen der politischen und gesellschaftlichen Strukturen zurückführen. Sie schufen lediglich den Rahmen, der es Männern leicht machte, sich als Frauenhasser zu profilieren.14 Die Frau, gegen die sich dieser Hass am vehementesten Bahn brechen konnte, war eine Erfindung des 8. Jahrhunderts: Helena von Troja, Playmate der griechischen Misogynie, das Gesicht, »das tausend Schiffe trieb, [das] Trojas Feste hat in Brand gesteckt«15.

Helenas Mutter Leda war eines von Zeus’ Vergewaltigungsopfern, sie wurde von ihm in Gestalt eines Schwans heimgesucht. Aber in ihrer bemerkenswerten Rolle als vielschichtige Ikone, die sowohl Lust als auch Abscheu erregt, ist Helena in Wahrheit eher eine Tochter der Pandora. Wie bei dieser ist ihre Schönheit eine Falle. Sie weckt ein ungeheures Verlangen in den Männern. Aber wer dem Verlangen nachgibt, öffnet die Schleusen der blutigen Zerstörung. In der Ilias schmäht Helena sich selbst als »schnödes, unheilstiftendes und schändliches Weib« und wiederholt damit die Charakterisierung der Pandora.16 Auf der Höhe der griechischen Klassik wird der Selbsthass zu einem Wesenszug der Frauenfiguren in manchen der großen Dramen, und Helena wird zum zentralen Objekt der Misogynie. Sie ist die Schlächterin und der Fluch der Männer, Hure und Vampir, Zerstörerin von Städten, vergifteter Kelch und Männerfresserin – so ziemlich jedes frauenfeindliche Klischee wird ihr übergestülpt. In Euripides’ Die Troerinnen warnt Hekabe, die Witwe des Priamos, den siegreichen spartanischen König Menelaos:

O töte sie, ich preise dich darum!

Schau sie nicht an, sie weckt die alte Glut!

Sie fängt die Männer, sie zerstört die Stadt,

Verbrennt die Häuser mit dem Zauberblick,

Wir alle kennen ihn zu unserm Leid.17

Hekabes mahnende Worte sind vergebens. Menelaos braucht Helena so sehr und so groß ist sein Verlangen nach ihr, dass er es nicht über sich bringt, sie zu bestrafen. Er nimmt sie mit nach Sparta zurück, wo sie ihr Eheleben fröhlich wieder aufnehmen, während den anderen Frauen nichts bleibt als ein Leben in Sklaverei und Wehklagen um ihre verlorenen Ehemänner, Väter und Söhne.

Die Geschichte der Helena ist wie die der Pandora eine Allegorie, in der körperliches Begehren und Tod untrennbar miteinander verbunden sind. Mit dem Verlust ihrer Jungfräulichkeit – dem Öffnen des Fasses – bringt Pandora den Tod in die Welt, so wie Paris’ Verlangen nach Helena den Krieg mit allen seinen Schrecken entfesselt. Allegorien dieser Art sind Ausdruck dessen, was Sigmund Freud als den ewigen Kampf zwischen Eros und dem Destruktions- oder Todestrieb – Thanatos – beschreibt.18 In einer frauenverachtenden Kultur lernen Frauen, schwere Schuldgefühle zu empfinden, weil ihre Schönheit Begierde weckt und so den Kreislauf von Leben und Tod initiiert.

Dieser komplizierte Tanz von Eros und Thanatos spielt auch in anderen Kulturen und Mythologien eine Rolle, hier aber vor allem als unausweichlicher Teil des Lebens. Mit den Göttinnen der keltischen Mythologie wird das Prinzip des Lebens wie des Todes assoziiert. Diese Doppelrolle wird jedoch nicht dualistisch, also als zwei ständig miteinander im Kampf liegende Prinzipien, interpretiert. Die Kelten sehen ihre Göttinnen als diejenigen, die unbefangen die Kräfte des Lebens und des Todes miteinander versöhnen, so wie es jede Mutter in Wirklichkeit tut: Indem sie Leben in die Welt setzt, bringt sie auch den Tod. Im Verständnis der Kelten ist diese Versöhnung von Leben und Tod kein Grund für Schuldzuweisungen und Vorwürfe, sondern sie liegt einfach in der Natur der Dinge. Aber in der dualistischen Weltsicht der Griechen verkörpert die Natur die Schwächen und Grenzen des Menschen, und die Frau verkörpert die Natur. Das macht sie für den Mann zur verhassten, Fleisch gewordenen Mahnung, die ihn permanent an seine Schwächen erinnert. Das ist die Sünde der Pandora und ihrer Töchter, für die das Patriarchat, von seinen Märchen bis zu seinen philosophischen Lehren, alle Frauen bestrafen will.

»Ein durchgängiges Prinzip der Mythologie lautet: In dem, was bei den Göttern dort oben geschieht, spiegeln sich immer Ereignisse auf der Erde«19, schreibt der britische Dichter Robert Graves. Beziehungs- und Verhaltensmuster, die ihre Legitimation in der Mythologie finden, schlagen sich in der Regel im Gesetzeswerk und in gesellschaftlichen Konventionen nieder. Im 6. Jahrhundert v. Chr. offenbarte sich dies in den neu entstandenen Demokratien und Stadtstaaten wie beispielsweise Athen, wo sehr schnell ein restriktiver Verhaltenskodex für Frauen entwickelt wurde.

 

Einem modern denkenden Menschen mag die Vorstellung, dass der gesellschaftliche Status der Frauen mit dem Aufkommen der Demokratie niedriger wurde, als eklatanter Widerspruch erscheinen. Aber Gleichberechtigung und allgemeines Wahlrecht waren nicht das ideologische Fundament, auf der die griechische und die römische Demokratie errichtet wurden. Beides waren Sklavenhaltergesellschaften, in denen demokratische Rechte nur für die erwachsenen männlichen Bürger galten. In einer Sklavenhaltergesellschaft hätte die Prämisse, dass alle Menschen gleich geboren werden, in einem offensichtlichen Widerspruch zu einer ebenso eigennützigen wie allgemeingültigen Wirklichkeit gestanden. Sklaverei war das »natürliche« Produkt systemimmanenter Ungleichheiten. In einer Gesellschaft, in der bereits eine Form der Ungleichheit institutionalisiert ist, hat es eine andere nicht schwer, sich durchzusetzen.

Gesetze, die vorschrieben, wie Frauen sich zu verhalten hatten und welche Möglichkeiten der Entfaltung sie genossen, belegen aufs anschaulichste und drastischste, wie Hesiods Allegorie der Frauenfeindlichkeit zu einem gesellschaftlichen Faktum wurde. Rechtlich gesehen standen Frauen in Athen auf der Stufe eines Kindes und blieben ihr Leben lang unter der Vormundschaft eines Mannes. Eine Frau durfte das Haus nur in Begleitung eines Aufpassers verlassen. Sie wurde selten mit ihrem Mann zu Tisch geladen und wohnte in einem abgetrennten Bereich des Hauses. Offizielle Bildungswege blieben ihr verschlossen. »Ein Weib soll sich nicht im Denken üben. Denn das wäre arg«, wusste der Philosoph Demokrit dazu zu sagen. Frauen wurden verheiratet, wenn sie die Pubertät erreichten, nicht selten mit einem Mann, der doppelt so alt war wie sie selbst. Der Altersunterschied und das geringere Maß an Lebenserfahrung und Bildung stärkten die Vorstellung von der naturgegebenen Minderwertigkeit der Frau. Den Ehemännern zur Warnung legt Menander einer Figur in einem seiner Lustspiele die Worte in den Mund: »Wer seine Frau das Schreiben lehrt, ist schlecht beraten: Er gibt einer Schlange noch zusätzliches Gift.«20

Ehebruch des Mannes galt nicht als Scheidungsgrund. (Dieser Grundsatz hielt sich in England noch bis 1923, ein Beleg dafür, wie stark die britische Oberschicht vom Geist der griechischen Klassik durchdrungen war.) Wenn aber eine Frau Ehebruch beging oder vergewaltigt wurde, musste ihr Mann sie verstoßen, sonst wurden ihm seine Bürgerrechte aberkannt. So gesehen waren die Frauen in der ersten Demokratie der Welt schlimmer dran als im autokratisch regierten Babylon. Unter dem 1750 v. Chr. von König Hammurabi entworfenen Gesetzeswerk hatte ein Ehemann, dessen Frau des Ehebruchs überführt worden war, immerhin das Recht, diese zu begnadigen.

Einvernehmlicher Geschlechtsverkehr mit der Ehefrau eines anderen war in Griechenland ein schwereres Vergehen als die Vergewaltigung derselben. Im Prozess gegen einen Mann, der beschuldigt wird, den Liebhaber seiner Frau ermordet zu haben, liest der Anwalt der Verteidigung aus den Gesetzestexten des Solon aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. eine Passage vor, in der es um Vergewaltigung geht:

Daher also, hohes Gericht, war der Gesetzgeber der Meinung, dass der Vergewaltiger eine niedrigere Strafe verdiene als der Verführer: Für Letzteren hat er die Todesstrafe vorgesehen, für Ersteren nur eine Geldstrafe. Er ging davon aus, dass diejenigen, die Gewalt anwenden, von den Personen, gegen die sich diese Gewalt richtet, gehasst werden, während diejenigen, die ihr Ziel mit schmeichelnden Worten erreichen, sich so im Denken der Frauen einnisten, dass die Ehefrauen anderer Männer sich ihnen stärker verbunden fühlen als ihrem eigenen Gatten, so dass der ganze Haushalt in ihrer Gewalt ist und nicht mehr mit Sicherheit gesagt werden kann, ob der Vater der Kinder der Ehemann oder der Liebhaber ist.21

Der Ehemann verteidigte sich mit dem Argument, es sei sein gutes Recht gewesen, den Liebhaber seiner Frau zu töten, weil er die beiden in flagranti erwischt habe. Wurde eine Frau Opfer einer Vergewaltigung, so hatte sie mit der gleichen Strafe zu rechnen wie eine Ehebrecherin, durfte nicht mehr an öffentlichen Feiern teilnehmen und keinen Schmuck mehr tragen. Wie in fundamentalistischen muslimischen Kreisen unserer Zeit wurde dem Opfer die Schuld für die Vergewaltigung zugeschoben. Sie wurde mit gesellschaftlicher Ächtung bestraft, ein furchtbares Los in einem so eng gefügten Gemeinwesen wie dem Stadtstaat.22

Solon beschnitt die Freiheit der Frauen noch auf anderen Gebieten: Ihr öffentliches Auftreten bei Beerdigungen, wo ihnen eine Rolle als bezahlte Klageweiber zugestanden wurde, und an Feiertagen wurde gesetzlich geregelt, die Möglichkeit, privaten Reichtum zur Schau zu stellen, eingeschränkt. Sie durften Land weder kaufen noch verkaufen und mussten, wenn sie noch unverheiratet waren und keine Brüder hatten, beim Tod des Vaters dessen nächsten männlichen Verwandten ehelichen. Söhne, die aus dieser Ehe hervorgingen, erbten allen vorhandenen Landbesitz. Auf diese Weise wurden die Frauen zum »Vehikel, durch das der Besitz in der Familie gehalten werden konnte«23. Selbst nach der Eheschließung stand die Frau weiterhin unter dem Einfluss ihres Vaters, der das Recht für sich in Anspruch nehmen konnte, ihre Ehe zu annullieren und sie mit einem anderen Mann zu verheiraten, wenn ihm das vorteilhaft erschien. Einem anderen, ebenfalls Solon zugeschriebenen Gesetz zufolge durfte kein Bürger von Athen einen anderen freien Bürger versklaven (auf Personen, die nicht das Stadtbürgerrecht besaßen, traf das Gesetz nicht zu), mit einer Ausnahme: Ein Vater oder Haushaltsvorstand durfte die unverheiratete Tochter des Hauses in die Sklaverei verkaufen, wenn sie vor der Ehe ihre Unschuld verloren hatte.

Um die Unschuld der »braven« Mädchen vor Aufdringlichkeiten zu schützen, mussten »böse« Mädchen her, die die sexuellen Bedürfnisse der Männer befriedigten. Die Legalisierung staatlicher Bordelle, die mit Sklavinnen und Ausländerinnen besetzt wurden, waren die Folge. Während die braven Mädchen nur einer Kategorie (Ehefrau/Mutter) zuzuordnen waren, gab es bei den bösen Mädchen Abstufungen von der umsorgten Hetäre – der antiken Entsprechung der Kurtisane – bis zur einfachen Hure, die jeder gegen einen geringen Obolus auf dem Straßenstrich in der Nähe der Müllplätze, wo die Menschen ihre Notdurft verrichteten, aufgabeln konnte. Die Sexualität der Prostituierten war eine öffentliche Dienstleistung; sie hatte den Stellenwert einer Kanalisation, über die die körperlichen Begierden der Männer abgeleitet wurden.24

»Wir heiraten das Weib, um eheliche Kinder zu erhalten und im Hause eine treue Wächterin zu besitzen; wir halten Beischläferinnen zu unserer Bedienung und täglichen Pflege, die Hetären zum Genuss der Liebe«, soll Demosthenes, der bedeutendste Redner des antiken Athen, einmal gesagt haben. Diese Abgrenzung, die weibliche Tugend mit Asexualität gleichsetzt, wird bis heute dazu benutzt, Frauen zu entmenschlichen.

Angesichts der Vielzahl der Grenzen, die den Frauen gesetzt waren, verwundert es nicht, dass unter den Männern die Beschäftigung mit dem Thema Grenzüberschreitung durch Frauen fast obsessive Züge annahm. Symptomatisch für diese Obsession war die Faszination der Griechen für die Amazonen, dieses legendäre Volk von Frauen, das die männlichste aller Domänen, nämlich die organisierte Kriegsführung, für sich erobert hatte. Zum ersten Mal im 5. Jahrhundert bei Herodot (dem Vater der Geschichtsschreibung) erwähnt, tauchen die Amazonen in der griechischen Kunst und Literatur immer wieder auf, und das Thema hat sich bis heute gehalten. Der griechischen Überlieferung zufolge lebten die Amazonen an den Grenzen der Zivilisation und widmeten sich ausschließlich ihren kriegerischen Ambitionen. Männer ließen sie nur in ihre Nähe, wenn sie sich paaren wollten, von den Sprösslingen dieser Begegnungen zogen sie nur die weiblichen auf, die männlichen Kinder wurden ausgesetzt. Die Amazonenkultur ist das Spiegelbild des patriarchalen Athen. In der Amazone trifft die männliche Fantasie vom autarken Mann auf ihr alptraumhaftes Gegenteil, die autarke Frau.