Buch lesen: «Gegenwindschiff»

Schriftart:

Jaan Kross

Gegenwindschiff

Bernhard Schmidts

Roman

Aus dem Estnischen von

Cornelius Hasselblatt und

Maximilian Murmann

Mit einem Nachwort von

Cornelius Hasselblatt


Titel der Originalausgabe

Vastutuulelaev Tallinn: Eesti Raamat 1987 Copyright © Heirs of Jaan Kross

Die Arbeit der Übersetzer am vorliegenden Text

wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Der Verlag dankt dem Eesti Kultuurkapital

für die finanzielle Unterstützung

durch das Traducta-Programm.

Erste Auflage 2021

© der deutschsprachigen Ausgabe Osburg Verlag Hamburg 2021 www.osburgverlag.de Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Bernd Henninger, Heidelberg

Korrektorat: Mandy Kirchner, Weida

Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg

Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-95510-254-8

eISBN 978-3-95510-263-0

Inhalt

Vorwort des Autors

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Nachwort

Vorwort des Autors

Dieses Vorwort verfolgt drei Aufgaben: Zunächst soll es versuchen, das Genre des vorliegenden Buchs zu bestimmen. Zweitens soll darin mit einigen Zeilen auf die Entstehungsgeschichte eingegangen werden. Drittens soll darin zumindest den wichtigsten jener zahllosen Menschen gedankt werden, die mir beim Schreiben des Werks unter die Arme gegriffen haben.

Nun, das Buch, das Sie vor sich haben, ist keine Biografie Bernhard Schmidts im wissenschaftlichen oder populärwissenschaftlichen Sinn. Legt man den Begriff weit genug aus, könnte man das vorliegende Buch vielleicht als romanisierte Biografie bezeichnen. Aber nach Meinung des Autors handelt es sich trotzdem in erster Linie um einen Roman. Das bedeutet im Grunde, dass historische Fakten und Ausgedachtes zwischen den Buchdeckeln gleichermaßen real sind. Zum Beispiel sind meine Unterhaltungen mit den Menschen, die ich in der Bundesrepublik Deutschland getroffen habe (wo ich mit ihnen über Bernhard Schmidt sprach) genauso real wie meine Gespräche mit Erik Schmidt auf Mallorca (wohin zu reisen sich als zu kompliziert herausgestellt hatte, weshalb ich überhaupt nicht dort gewesen bin). Nebenbei hat der Gedankenaustausch mit Erik Schmidt zumindest teilweise auch außerhalb der Romanebene per Post oder Telefon stattgefunden.

Ein Roman also. An den ich mich nur dank gewisser Umstände gewagt habe. In einem Interview der Kulturzeitschrift »Sirp ja Vasar« aus dem Jahr 1980 wurde ich gefragt, ob es in der estnischen Kulturgeschichte noch viele Figuren gäbe, über die man einen Roman mit einem biographischen Ausgangspunkt schreiben könne. In meiner nicht ganz ernst gemeinten Antwort zählte ich zehn Namen auf, über deren Biografie man einen – oder warum nicht auch mehr als einen – Roman schreiben könnte oder gar sollte. An zehnter Stelle führte ich Schmidt an, »einen übersensitiven, einzelgängerischen Insulaner mit Erinnerungen an Kiesel und Quallen, der die 1920er und 30er Jahre mutterseelenallein in Deutschland verbrachte, allein in dem immer stärker tosenden Strudel jener Zeit, einzigartig durch seine wundersame Hand, mit der er unermüdlich, unablässig, unnachgiebig Linsen und Spiegel schliff, um den Sternen näherzukommen.«

Diese etwas romantische Tirade wurde zufälligerweise gelesen von dem Mathematikdoktoranden Peeter Müürsepp aus Tartu, dessen größtes Verdienst darin besteht, Schmidt in populärwissenschaftlichen Publikationen bekannt zu machen. Er schrieb mir. Wann ich mit der Arbeit an dem Roman beginnen würde? Ich antwortete ausweichend. Er suchte mich auf und weckte mein Interesse für das Thema. Und legte mir mit seiner selbstlosen Manier über Jahre hinweg all das erforderliche Material, an das er gelangt war, auf den Tisch. Folglich möchte ich als Erstes Peeter Müürsepp danken. Nicht weniger danke ich der Gegenwindfamilie des Bergedorfer Observatoriums. Besonders Prof. Dr. Arthur A. Wachmann, der mir großzügigerweise Zugang zu seinen beachtlichen Schmidtiana gewährt hat. Und natürlich den Verwandten von Bernhard Schmidt, allen voran seinem Neffen Erik Schmidt für die bereits erwähnten Briefe und Telefonate, Bernhard Schmidts Nichte, Dagmar Siitam in Tartu, für die zahllosen Einblicke in die Familie, und den vielen älteren Bewohnern von der Insel Naissaar, zu Deutsch Nargen, für ihre Erinnerungen, die sie freundlicherweise mit mir teilten. Sowie Dutzenden von Menschen aus Tallinn, Hamburg, Helsinki und Tõravere, die sich die Mühe machten, meine Fragen zu beantworten und sich über kurz oder lang mit meinen Problemen beschäftigten. Dr. Seppo Kuusisto aus Helsinki danke ich für die herausragende Quellenkenntnis zu Bernhard Schmidts letzten Lebensjahren. Dem Physikdoktoranden Uno Veisman danke ich für die zahllosen Präzisierungen technischer Details, die sich in meinem Text finden. Sowie dem Wissenschaftler Jaan Einasto für die flüchtigen, aber im Verlauf meiner Arbeit essenziellen Ermutigungen.

J. K.

Tallinn, November 1986

1

Das ist nun zwei Jahre her – ich war gerade aus Lappland zurückgekehrt –, wir standen im Stadtpark unter den Glaskugeln, die ich dort in den Bäumen zweihundert Meter von den Fenstern meines Arbeitszimmers entfernt zur Kontrolle meiner Spiegel aufgehängt hatte (die Polizei hatte sich in den zehn Jahren seit Ende des Krieges an sie gewöhnt und ertrug sie nun). Wir standen da in der Dämmerung eines Juliabends, und ich nahm deine Hand in die meinige, deine glatte, weiche, für eine Frau kräftige und große, schicksalhaft mit mir verbundene Hand, die auf dem Handrücken – ich brauchte gar nicht mehr hinzuschauen und hätte ohnehin nichts mehr gesehen, weil die Dämmerung zu weit fortgeschritten war – ein kleines Mosaik von Sommersprossen hatte. Wie die Plejaden, wie das Siebengestirn, auf den ersten Blick sieht man zehn oder elf Sterne, aber bei sorgfältigem Hinschauen sieht man ein halbes Tausend. Ich nahm deine Hand in die meinige und sagte: Johanna, ich gehe jetzt nach Hamburg. Für immer. Und bevor du ausrufen konntest ›Meine Güte, dann packe ich meine Koffer und komme mit!‹, sagte ich: Aber komm nicht mit. (Nicht ›Komm vorerst nicht mit‹, sondern ›Komm nicht mit‹.) Bleib hier, in Mittweida.

Du zogst deine Hand aus meiner und sagtest ganz leise: Nun gut.

Das ist nun zwei Jahre her, und ich habe viel darüber nachgedacht. Du weißt, dass ich vielerlei Gründe hatte. Ich habe mich hundertmal gefragt, in welcher Proportion diese Gründe zueinander stehen. Manchmal überfällt mich diese Frage während der Arbeit. Dann sitze ich hier in dem kühlen Keller der Bergedorfer Sternwarte, trete die Pedale und lasse meine Hand über den sich drehenden Spiegel gleiten. In höchster Konzentration, äußerst aufmerksam. Vom Zentrum zum Rand und vom Rand wieder zum Zentrum. Bisweilen sind meine Augen aufs Äußerste angespannt, bisweilen ganz geschlossen. Um jeden hundertstel Millimeter Abweichung mit den Fingerspitzen zu erhaschen (schließlich sind es die einzigen Finger auf der ganzen Welt, die das können). Und dann frage ich mich plötzlich:

Warum habe ich ihr das angetan?

Zu wie viel Prozent war mein Entschluss dadurch bedingt, dass Professor Schorr mir hier mehr oder weniger ausreichende Unabhängigkeit bot? Oder basierte er überhaupt nicht darauf? Natürlich nicht. Wie kann man nur so unlogisch denken! Wäre einzig Schorrs Angebot der Grund gewesen, hätte ich dich ja mitgenommen. Also: Zu wie viel Prozent basiert mein Entschluss auf dem Wunsch, von dir unabhängig zu sein? Um, sagen wir, mehr Raum zu haben für meine sogenannten großen Ideen, von denen insbesondere eine mein Lieblingsthema geworden war? Einzig und allein deswegen? Oder etwa, weil ich zwanzig Jahre älter bin als du? Oder zu zwanzig Prozent wegen unseres Altersunterschieds, weil ich im Vergleich zu dir relativ verschlissen bin, aber achtzig Prozent deswegen? Weil ich ein Invalide bin? Und es für dich höchste Zeit wird, einen Mann zu finden und ein Heim und eine Familie et cetera zu gründen? Einen solchen Mann zu finden, der dir wenigstens die Kohlensäcke in die Küche trägt (in Mittweida hattest du schließlich keinen Elektroherd) und den Kleiderschrank von der einen Wand an die andere rückt, wenn du es wünschst. Übrigens wäre ich damit durchaus fertiggeworden. Nur ein winziges technisches Problem. Filzstückchen unter die Schrankfüße. Eine Schlaufe aus dickem Draht mit drei Ansatzpunkten und der entsprechenden Form. In der Werkstatt eine Frage von Minuten. Und dann eine behutsame Schlittenfahrt über den Fußboden. Aber du brauchst doch einen Mann, der dich mit dem Auto herumkutschiert. Mit mir hättest du zeit deines Lebens selbst am Steuer sitzen müssen. Was du auch getan hast, nicht wahr? Mir machte das nichts aus. Ich stand vollkommen darüber. Es war sogar lustig. Du sahst einfach großartig aus an dem großen gelben Lenkrad meines alten klapprigen Opels.

Also warum nun wirklich? Um dich zu befreien? Oder um mich von dir zu befreien? Verzeih mir, dass ich das, nun, so direkt frage. Aber ich frage nicht dich, sondern mich. Und doch habe ich auf eine klare Frage keine klare Antwort. Unsere Spiegel spiegeln die Nebel ideal. Wir selbst spiegeln unsere Ideale ziemlich vernebelt. Siehst du, der höchst wortkarge Sonderling ist zu solchen Wortspielen in der Lage, wie man sie scharfsinniger kaum findet. Und weißt du was, Johanna, vor genau derselben Frage bin ich voriges Jahr auf die Philippinen geflohen. Um die Sonnenkorona zu fotografieren, das natürlich ebenfalls. Um das freundliche Angebot von Professor Schorr zu nutzen. Klar. Denn die Sonnenfotos, die ich in Lappland gemacht hatte, waren mittlerweile anerkannt als die besten, die je gemacht worden waren. Also fuhr ich nicht zuletzt deswegen auf die Philippinen. Aber gleichzeitig wegen dieser anderen Sache: um meiner eigenen klaren Frage zu entfliehen.

Denn ich glaubte, ich würde sie hier zurücklassen. Ich fahre weg, und sie bleibt hier. In meinem Arbeitszimmer im Keller. Wie ein mit der Fingerspitze in den Glasstaub der Schleifbank gezeichnetes Fragezeichen. Oder in meinem Junggesellenzimmer im Beamtenwohnhaus der Sternwarte. Wie ein Blatt weißes Papier, das unter den grünen Bezug des Zeichentisches geschoben worden ist. Worauf dein Profil gekritzelt ist: die schöne kleine griechische Nase, die vollen Lippen und das Haar, das auf der Stirn glatt ist und im Nacken gewellt. Oder dass ich diese verdammte Frage wenigstens hier im alten Restaurant »Land« zurücklassen kann. Wie einen überflüssigen Strich auf dem Pappstück in der Tresenschublade, auf dem ich meine Gläser verzeichne. Ich habe mit Herrn Land dasselbe System vereinbart wie bei Mutti Minna in Mittweida. Aber ich konnte meine Frage nirgendwo zurücklassen. Im Gegenteil. Ich hatte entsetzlich viel Zeit, über ihr zu brüten. Denn was für eine Seereise ist das schon mit den heutigen Dampfschiffen? Faulenzerei.

Ich erinnere mich, wie wir neben all den anderen Seefahrten in meiner Kindheit jeden Herbst, im September, mit Vaters Lotsenboot von Naissaar nach Aksi zum Geburtstag einer Großtante segelten – Vater oder später Onkel Frans, Mutter und August, und manchmal auch die Mädchen. Sobald ich etwas älter war, ging ich als echter Segelsetzer durch. Bis zu meinem Unfall. Manchmal war die See herbstlich rau. Wenn dann bei hartem Nordwest auf einem offenen Segelboot das Wasser spritzte, dass einem der Atem stockte, die Wellen zehn Fuß hoch über Deck schlugen und unter dem Bug zeitweise eine entsetzliche Höhle klaffte (und unter den Herzen der Männer ebenso) – dann war das eine Seefahrt. Diese dreißig oder vierzig Kilometer waren jedenfalls eine deutlich maritimere Angelegenheit als meine jetzige Reise um die halbe Welt.

Ich sage: Faulenzerei. Da schwimmt so ein schläfriges, brummendes Siebentausend-Tonnen-Hotel umher. Gibraltar, Port Said, Aden, Colombo. Unsere »Münsterland« war zum Glück in erster Linie ein Frachtschiff. Trotzdem gab es zwei Dutzend Reisende an Bord. Nebst Baade und mir. Das Ziel unserer Expedition war diesmal so weit weg, dass das Geld nur für zwei Mann reichte. Im Vergleich dazu war Lappland von Hamburg aus praktisch um die Ecke, dort waren wir vor zwei Jahren zu acht gewesen. Aber ans andere Ende der Welt wurden nur zwei geschickt. Also sagte ich zu Baade – gut, ich verstehe, alles ist relativ. Deutschland schickte acht Leute nach Lappland, Estland drei, Öpik, Livländer, Simberg. Auf die Philippinen fuhren von Deutschland aus zwei Männer, aber aus Estland kein einziger. In Estland kam man wahrscheinlich gar nicht auf die Idee, jemanden so weit wegzuschicken –, trotzdem sagte ich zu Baade: Weil Deutschland so arm ist, verfügt unsere diesjährige Expedition nicht einmal über einen kompletten Affen, statt vier Händen haben wir drei!

Glücklicherweise gab es nicht so viele Reisende. Baade und ich bekamen im Speisesaal einen Zwei-Personen-Tisch. Mir gelang es also, während der ganzen Reise praktisch mit niemandem Bekanntschaft zu schließen, zu plaudern oder Höflichkeiten austauschen zu müssen. Bloß, was hatte das für einen Nutzen?! Wir waren unterwegs. Die Instrumente waren verpackt. Man konnte keinerlei Beobachtungen oder Messungen durchführen. Man stelle sich vor – zweimal anderthalb Monate. Arbeiten konnte man in der Kajüte auch nicht richtig. Ein bisschen rumkritzeln. Rechnen. Ansonsten ein entsetzlich geistloses Herumhängen in den Gängen und an Deck. Ins Kielwasser starren, als würde das dem Schiff helfen, schneller voranzukommen. Auf der Hinfahrt hatten wir, als wären Langeweile und Hitze nicht genug gewesen, zu allem Überfluss noch Sturm von Ceylon bis Penang. Baade lag drei oder vier Tage flach. Ich war nicht seekrank und begab mich regelmäßig zu den Mahlzeiten in den weitgehend leeren Speisesaal. Trotzdem konnte man sich wegen des Schwankens nur mühselig fortbewegen, Suppe wurde zum Essen nicht serviert, und die Teller mit dem Hauptgericht drohten über die Tischkante zu rutschen, obwohl es Vertiefungen in den Tischen gab, die sie fixieren sollten. In der Zwischenzeit lag ich einfach in meiner Koje und las, wozu ich sonst kaum komme. Ein paar Dinge aus der Schiffsbücherei, Wells’ Zeitmaschine und was weiß ich noch. Doch jedes Mal, wenn ich das Buch in die Nachttischschublade stopfte (denn vom Nachttisch wäre es heruntergefallen), fiel mir meine Frage, das heißt deine Frage, wieder ein. Hatte ich dich so behandeln dürfen, wie ich es getan habe? Es war eine völlig hoffnungslose Frage, im Bergedorfer Keller genauso wie auf dem Indischen Ozean. Von deinem Standpunkt aus betrachtet (mit meinen Augen) hatte ich einerseits so eine Art, hol’s der Teufel, Heldentat begangen. Andererseits eine große egoistische Sauerei. Von der Arbeit aus betrachtet – ach, weiß der Teufel. Aber eine Idee schoss mir durch den Kopf, als wir irgendwo zwischen der Andamanensee und der Straße von Malakka im Sturm schaukelten.

Wir reisten möglichst preiswert, weswegen sich unsere Kajüten auf dem untersten Deck befanden. Das heißt direkt über den Frachträumen, in denen die zweiundfünfzig eisenbeschlagenen Kisten mit unserer Expeditionsausrüstung ruhten. Das war im Übrigen ein derartiger Ballast, dass ich mir die ganze Zeit Sorgen darüber machte, wie wir damit in Manila und auf Cebu fertigwerden würden. Gewiss, in den Häfen wird es Träger geben, fragt sich bloß, wie vorsichtig die sind, aber wir werden ein Auge auf sie haben, und es wird schon klappen. Aber an unserem Bestimmungsort werden wir kaum sofort Hilfskräfte zur Hand haben. Wie wir dann in unserer Dreiviertel-Orang-Utan-Zusammensetzung zurande kommen …, nun, das wird sich zeigen.

Jedenfalls befanden sich unsere Kajüten an Steuerbord so niedrig über der Wasserlinie, dass bei Südsturm die Wellen beinahe regelmäßig über mein Bullauge schwappten. So war es in meiner Kajüte abwechselnd halbdunkel und hell, halbdunkel und hell, halbdunkel und hell. Das Halbdunkel dauerte ungefähr sieben Sekunden, die Helligkeit ungefähr fünf Sekunden. Der senkrecht auf die Schiffsseiten aufschlagende Wind war so stark, dass die Wassertropfen auf dem Glas des nassen Bullauges, sobald es auftauchte, auseinanderflossen und für einen Augenblick am Innenrand des Fensterrahmens eine Art Verdickung des Fensterglases bildeten, ehe sie in der Luft verschwanden. Währenddessen schien sich das Glas des Bullauges zu einem gewissen Grade Richtung Kajüte zu wölben. In Wirklichkeit bewegte sich das fünfundzwanzig Millimeter dicke Glas natürlich kein bisschen. Jedenfalls schoss mir plötzlich ins Bewusstsein, welche Form eine Korrekturlinse haben müsste, die den größten Nachteil eines Teleskops beheben würde – seine sphärische Aberration. Ich sagte, es schoss mir in den Kopf. Zufällig. Nun, natürlich nicht völlig zufällig, denn ich hatte schließlich monatelang darüber nachgedacht. Jeden Tag in den Stunden, in denen ich am frischsten war, vor den laufenden Arbeiten. Sowie während der laufenden Arbeiten. Und nachts, wenn ich schlief, sowieso, entsprechend dem tagsüber erteilten Auftrag. So gesehen hätte jedes kreisförmige Glas meinen Gedanken den notwendigen Anstoß geben können. Ich begriff natürlich sofort, dass die Linse, die ich brauchte, deutlich dünner sein müsste als das Glas meines Bullauges, aber mir war plötzlich klar geworden, wie das Profil seiner spiegelseitigen Oberfläche beschaffen sein müsste. Du kannst dir denken, du kannst dir aus eigener Erfahrung denken, dass ich wie auf glühenden Kohlen saß, bis ich die Möglichkeit erhielt, meine Idee zu überprüfen. Denn das war vor meiner Rückkehr nach Hamburg vollkommen unmöglich. Ich musste also gute Miene zu einem höchst widerwärtigen und zermürbenden Spiel machen und weiter Richtung Manila tuckern und mir Baade anhören, der mir erklärte, sobald er von seiner Seekrankheit genesen war, wie sehr er sich um seine halbfertigen Arbeiten Sorgen mache, und wie großartig ich gegen derartige Sorgen durch mein estnisches Phlegma gefeit sei.

Am Morgen des 28. März trafen wir in Manila ein.

Der große Ozeanhafen liegt an einer großartigen Bucht und gleichzeitig in der Mündung des Pasig sowie wundersamerweise mitten im Zentrum dieser zu einem Viertel europäischen und zu drei Vierteln asiatischen Stadt. Jedenfalls reicht der Wirrwarr der Läden, Autos, Rikschas und Fahrräder bis an die Füße der immensen Hafenkräne. Ein paar Herrschaften vom deutschen Konsulat und einige Herren der Wetterstation von Manila holten uns am Hafen ab. Es stellte sich heraus, dass unsere Ausrüstung auf einen Küstendampfer umgeladen werden musste, der ebenfalls in der Mündung des Pasig lag, aber im zwei Kilometer entfernten Südhafen, der über die Landungsbrücken zu erreichen war. Die Leute vom Konsulat und die Herren von der Wetterstation wollten uns zunächst ins Hotel bringen. Sie hielten es für normal, dass wir uns erst mal ein paar Tage die Stadt anschauen würden und so weiter. Denn bis zur Sonnenfinsternis sei ihrer Meinung nach noch so viel Zeit. Kurzum, sie schlugen uns vor, unsere Ausrüstung im Hafen einzulagern und erst in einer Woche nach Cebu weiterzureisen. Dann würde das kleine Dampfschiff »Mactan« seine nächste Linienfahrt dorthin unternehmen. Nun würde es bereits übermorgen ablegen, und das würden wir ohnehin nicht schaffen.

Baade war einverstanden mit diesem Vorschlag, aber ich protestierte. Ich bildete mir ein, meine Wartezeit bis zur Rückkehr nach Hamburg abkürzen zu können, wenn wir uns beeilten. Ich argumentierte Baade gegenüber – und das übrigens direkt an Ort und Stelle im Beisein der örtlichen Herrschaften (was, wie mir später schien, nicht gerade taktvoll war) –, dass er sich gar keine Vorstellung davon mache, in was für einem Land wir seien und was für unerwartete Verzögerungen auf dem Wege sowie was für zeitraubende und unvorhersehbare Arbeiten am Zielpunkt beim Aufbau unserer Apparatur auftreten könnten. Sodass am Ende alle nachgaben. Wir beschlossen, auf dem Schiff zu übernachten. Die Herren vom meteorologischen Dienst besorgten einen Lastwagen. Aus dem Nichts tauchten Packer auf, nette tagalische Jungen mit gelben Gesichtern und blitzenden Augen, die Winden fingen an zu knirschen, und unsere Kisten wurden teils auf den Kai, teils direkt aufs Auto gewuchtet. Ich weiß nicht, wie viel Baade für den Transport zahlen musste, denn ich hatte darum gebeten, mich mit Geldangelegenheiten zu verschonen. Damit befasse ich mich nur, wenn es unumgänglich ist, also wenn es meine eigenen Geldangelegenheiten sind.

Jedenfalls fuhr ich am gleichen Tag mit diesem Auto dreimal, am folgenden Tag sechsmal über die Uferkais und Straßen einen Kilometer hinauf und über die von den Spaniern gebaute Steinbrücke und über das Nordufer zum Landungshafen, wo unsere »Mactan« lag. Das Auto war ein Renault aus dem Weltkrieg mit steinharten Vollgummireifen und donnerte wie ein Wildschwein über den hubbeligen Asphalt. Bei der »Mactan« wurden unsere Kisten mit der Winde an Deck gehievt, und nachdem ich die Packer auf Englisch, Deutsch, Schwedisch, Russisch und Estnisch ordentlich herumkommandiert hatte, konnte man hoffen, dass unser Zeug mehr oder weniger heil an Bord war.

Am Nachmittag spazierte ich ein wenig durch die Stadt. Ich war auf der spanischen und auf der chinesischen Seite. In diesen Stadtteilen kann man ganz klar sehen, wie der neue, um sich greifende amerikanische Stil beide vollkommen durchdringt und überwuchert. Wenn dann noch genug vom Genius Loci dazukommt, bildet sich, wer weiß, vielleicht so etwas heraus, was künftig als philippinischer Stil bezeichnet wird. Natürlich war so ein eiliger Spaziergang kaum informativer als etwa das Durchblättern eines Bildbandes mit Stadtansichten. Ich gebe also gerne zu: Sollte ich Anwandlungen bekommen, etwas Geistreiches über die Philippinen von mir zu geben, so geschieht das gegen meinen inneren Willen. Denn ich weiß nichts über sie. Auf solch Journalistenwissen, bei dem leeres Stroh gedroschen wird, kann man verzichten. Wenn ich überhaupt von irgendeinem Land etwas weiß, dann von Deutschland, wo ich über zwanzig Jahre beinahe ununterbrochen gelebt habe. Und von Naissaar natürlich. Dessen Produkt ich in chemischer wie in traditioneller Hinsicht bin. Was aber die Philippinen betrifft, so muss ich sagen, dass ich durch die paar Bücher, die ich mir vor unserer Reise in Hamburg durchgelesen hatte, mehr gelernt habe als an Ort und Stelle von den dunkelgrauen Mauern der spanischen Altstadt und dem Bratölgeruch der winzigen Speisehütten auf der chinesischen Seite.

1898 jagten die Philippiner unter Ausnutzung des wegen Kuba ausgebrochenen Krieges zwischen den Vereinigten Staaten und Spanien die Spanier mit amerikanischer Hilfe davon. Das bedeutete das Ende einer vierhundertjährigen Kolonialherrschaft. Aber sofort stellte sich heraus, dass die Yankees den Philippinern keinesfalls wegen ihrer schönen schwarzen Augen geholfen hatten. Die Vereinigten Staaten benötigten in diesem Teil des Ozeans Flottenstützpunkte und pflanzten sich nun anstelle der Spanier den Philippinern – wie Onkel Frans auf Naissaar es ausdrücken würde – mit dem Arsch ins Gesicht. Vor der Weltöffentlichkeit wirkte das überdies beinahe normal: Schließlich waren die Filipinos bislang immer unter jemandes Herrschaft gewesen (ihre ein paar Wochen währende Republik von 1898 war ja nicht der Rede wert), sie würden gewiss auch in Zukunft jemanden brauchen, der sie anstelle ihrer selbst beherrschte. Gleichzeitig trat das von den Vereinigten Staaten besiegte Spanien die Inselgruppe in einem Friedensvertrag explizit an die Sieger ab.

Selbstverständlich fanden die Amerikaner unter dem einheimischen Bürgertum Anhänger. Wie Geld es immer tut. Trotz aller Aufstände blieben sie da. Bis heute. Obwohl sie ihre neue Kolonialherrschaft mit einer Beinahe-Autonomie verschleiert haben. Sodass, wie Herr Heckermann von der hiesigen Wetterstation versicherte, der Herr Senatspräsident Manuel Quezón von den Amerikanern sogar die baldige Ernennung zum Staatspräsidenten erwarten konnte. Warum auch nicht. Mitarbeiter einer Wetterstation sind schließlich Spezialisten in Vorhersagen.

Am Abend des 29. war ich gezwungen, mich den gesellschaftlichen Gepflogenheiten zu beugen, und saß mit Baade und den anderen Herren in einem chinesischen Restaurant in der La Escolta-Straße, aß Trepangsuppe und trank Reiswein. Als ich dann Herrn Heckermann, einen kleinen Mann mit schwarzem Schnurrbart, der einen niederländischen Vater und eine Visaya-Mutter hatte, fragte, was für Wetter er uns für den 9. Mai vorhersagt, antwortete er durch das Geklingel einer Tamburinkapelle hindurch:

»Zweite Woche Mai an der Ostküste von Cebu – ui, ui, ui … Ich sage Ihnen: Völlig unmöglich, da etwas zu sagen. Alles ist möglich. Noch schönes klares Frühlingswetter. Nordostwind. Fünfunddreißig Grad. Oder bereits Sommerwetter. Südwestwind. Vierunddreißig Grad. Aber Wolken bis zur Erde und peitschender Platzregen. Aber es könnte ebenso gerade der erste Taifun kommen, der den Frühling ablöst und den Sommer einläutet. Am neunten Mai ist an der Ostküste von Cebu alles möglich.«

»Aber die Wahrscheinlichkeit, Herr Heckermann? Die statistische Wahrscheinlichkeit Ihrer Erfahrung nach?!«

»Dreimal dreiunddreißig Komma drei, Herr Professor.«

Dieses »Herr Professor« war wieder so ein alberner Bluff, ein aufs Geratewohl verliehener Titel, der mir seit Langem und in letzter Zeit immer häufiger angehängt wird, sodass das jedes Mal zwar nicht bei mir, aber in der Atmosphäre um mich herum einen Schub Peinlichkeit, Enttäuschung, Scham und Proletarierstolz durcheinander erzeugt. Weil sie nicht darauf kommen, dass ein einhändiger Mann, wie ich es bin, ein Handwerker sein kann – der ich bin. Er muss Professor sein!

Für die Nacht begaben wir uns auf die »Mactan«, und früh am Morgen fuhren wir ab.

Ich muss zugeben, dass ich ein wahres Bild dessen, wie grenzenlos groß diese kleine eigene Welt, die Philippinen, tatsächlich ist, auf dieser Reise durchaus bekam. Es mag sein, dass ich eine, wie soll ich es sagen, Annäherung an entfernte Größen berufsbedingt relativ intensiv erfahre. Jedenfalls habe ich nicht nur angesichts astronomischer, sondern auch bei irdischen Dingen häufig das Gefühl, dass sie sich vor dem, der sich ihnen nähert, wundersam öffnen und den Detailreichtum und die Weite einer Welt für sich annehmen. Das ist nicht nur bei Naissaar der Fall. Da natürlich sowieso. Denn Naissaar ist auf gewisse Weise (auf eine lächerliche Weise, deren Lächerlichkeit ich deutlich verspüre, sodass ich doppelt schmunzeln muss) Maßstab für alle anderen Welten. Nicht nur die Insel als solche. Sondern auch zum Beispiel eine durchsichtige Qualle, die in den Küstengewässern der Insel zwischen den Steinen der Kapellenlandzunge im kühlen Augustwasser liegt. Mit ihrer sternförmigen lila Äderung geradezu wie ein Spiralnebel, der zur Größe der Milchstraße anschwillt, wenn man mit dem entsprechenden Mikroskop in ihn eindringt.

Und jetzt drangen wir auf unserer »Mactan« in einen siebentausendinseligen Archipel ein.

Johanna, ich wäre ein Narr, wenn ich dir das jetzt alles detailliert beschreiben wollte. Erstens weißt du, wie wenig mir an Beschreibungen liegt. Zweitens könnte ich es dir gar nicht beschreiben – denn ich bin in Hamburg, und du in Mittweida. Ich bin gerade aus der »Ollen Klinke« nach draußen getreten und habe auf der Uferbank am Schleusengraben Platz genommen, und ich betrachte das schwarze Wasser und den Schimmer Hamburgs am Horizont, der uns in letzter Zeit die Fotos verdirbt, sowie den völlig bewölkten Himmel, der morgen noch zugezogen zu sein verspricht, sodass jedwedes Fotografieren der Sonne oder der Sterne nachts wie tags unmöglich sein wird. Mit einem Wort, während ich hier bin, du aber dort. Selbst wenn wir die Distanz eben vergessen. Sie ist völlig egal. Ein Krümchen, wie man auf Naissaar sagt. Luftlinie dreihundertfünfzig Kilometer. In Lichtjahren – beinahe eine glatte Null. Moment, rechnen wir es aus. Ein Lichtjahr, das brauchen wir nicht auszurechnen, das haben wir im Kopf, sind 9,46 × 1012 Kilometer. Nun müssen wir diese verfluchten 350 Kilometer durch diese Zahl dividieren. Das ist dann 0, und ans Ende kommt unsere wuuuunderschöne runde Zahl 37. Und zwischen das Komma und die siebenunddreißig – eins, zwei, drei, vier, fünf – ja, zehn Nullen. Meine Entfernung von dir beträgt 0,000000000037 Lichtjahre. Verzeih mir, so eine Rechnerei, das ist mir schon klar, ist einfach ein bisschen schwachsinnig. Das hast du mir so manches Mal gesagt. Ich erinnere mich nicht mehr daran, was ich dir daraufhin geantwortet habe, aber jetzt antworte ich: Verzeih mir, aber so eine Rechnerei macht mir einfach Spaß, weil sie mir mit solch schwachsinniger Leichtigkeit gelingt. Wahrscheinlich noch besser als dem Hannes von Uude. Wer das war? Der Neffe meiner Großmutter, Johannes Klamas. Aus Estland. Von der Insel Aksi. Geboren 1847. Das Todesjahr weiß ich leider nicht. Ein einfacher Fischer. Den man vor lauter Schlauheit für verrückt hielt. Denn er wusste aus dem Kopf, wie viele Pfosten jemand in seinem Zaun und Balken in der Wand und Dielen auf dem Zimmerboden hatte. Und wie häufig auf welcher Seite der Bibel »ja« und wie häufig »nein« stand. All diese Zahlen und noch viele andere hatte er fehlerfrei miteinander multipliziert und durcheinander geteilt. Es ist bei uns also eine Familienkrankheit, und in Lichtjahren bist du praktisch neben mir. Noch näher als neben mir. Aber welchen Nutzen hat das, wenn du inzwischen vermutlich Frau Brandt bist? Die Gattin des ehrlichen und gewissenhaften und strebsamen Buchhändlers Werner Brandt. Die zu werden, glaube ich, in einer entscheidenden Minute dein wahres Lebensglück zu sein schien.

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