Hinter die Kulissen sehen

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J. Line Felice

Hinter die Kulissen sehen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Danksagungen

Prolog

Meine Geschichte

Impressum neobooks

Danksagungen
Hinter die Kulissen sehen

Ich lade dich ein mit mir auf eine Reise zu gehen,

auf der ich versuche

hinter die Kulissen

dieses Ganzen, dieses Wundervollen hier auf Erden zu sehen,

wo auch du und ich teil

für eine gewisse Zeit sein dürfen.

Nur leben wir diese Zeit hier und jetzt

auch wirklich bewusst?

Von: J. Line Felice

Meine Mam und ich hatten ein großes Geschenk,

uns Beide!

Ich widme dieses Buch Dir,

Danke für alles.

Was wäre mein Leben ohne zu liebende und ohne mich liebende Menschen?

Und an alle diese Menschen, die im Laufe meines Lebens mich begleiteten und mit mir einen Weg bestreiten, geht ein großes Dankeschön. Ich danke Euch für Euren ganz individuellen Reichtum mit dem Ihr mein Leben ergänzt, verschönert, Ihr mich haltet.

Ein dickes Dankeschön geht an die fleißigen Mithelfer, die mir zur Realisierung meines starken Wunsches, den Zauber eines wundervollen Menschen durch dieses Buch weiterzugeben, zur Seite standen. Vor allen Dingen dem besonderen Menschen an meiner Seite. Ohne sie würde mir vieles im Leben nicht so klar werden. Wie schon kurz nach unserem Kennenlernen vor 20 Jahren, gilt auch heute immer noch: „vom Fenster weg“. Du weißt was ich meine.

Jedes Mal

Jedes Mal wenn

wir uns

verabschiedeten

wusste ich

es hätte

das letzte Mal

sein können.

Und jedes Mal

verabschiedeten

wir uns ein bisschen mehr

in dem wir uns näher standen

als je zuvor.

sonja guerrera

Ich danke Dir für die Zeit, die Du mit uns auf Erden geteilt hast, Danke für dieses einmalige Geschenk, für die Erkenntnis, dass nur das Leben und die bedingungslose Liebe zählt, der Tod ist eine Lüge, denn die Liebe, die uns verbindet ist zeitlos, ist überall, sie ist für immer. In tiefer Dankbarkeit!

Prolog

In jener Nacht, wir lagen den unglaublichen Sternenhimmel bewundernd auf einer Insel im indischen Ozean. Ein Sternenfeld, wie man es nur selten Zuhause erleben kann. Gerade in solchen besonderen, fast magischen Momenten, wo der Alltag so fern und die Welt um uns herum so unglaublich, nicht in Worte zu fassen scheint, nahm unser Gespräch wieder einen besonderen Verlauf und führte mich zu Gedanken, die ich mir zuvor nicht erträumt hätte, dass ich diese denken könnte. So auch in jener Nacht. Wir kamen von Höckchen auf Stöckchen. Ich kann gar nicht mehr nachvollziehen, wie wir dann auf das Thema und ich auf den Wunsch kamen, den ich sehr stark in mir verspürte. Den innigen, aber unerfüllbaren Wunsch hinter die Kulissen dieses Ganzen um uns herum zu sehen, sozusagen Backstage zu schauen und dadurch besser zu verstehen. Dieser Gedanke ließ mich in jenem Moment nicht mehr los. Ich wurde richtig euphorisch.

Es war 2-3 Wochen später, das erste Jahr nach dem Unfall meiner Mam war verstrichen. Ich saß in Gedanken versunken im Auto unterwegs zu meinem Bruder. Es kam mir dieser magische Abend wieder ins Gedächtnis und viele Gedanken an einen wundervollen Menschen. Meine Mam. Ich verspürte in jenem Moment den starken Wunsch hinter die Fassade dieses wundervollen Menschen und ihr Leben schauen zu lassen. Ein Mensch der nicht nur mich verzaubert hatte, sondern nun auch vielleicht noch andere.

Meine Geschichte

*****

Was machen wir eigentlich hier? Warum dürfen wir hier auf diesen Planeten sein?

Dürfen wir uns hier aufhalten, weil wir alle unsere Aufgaben haben, ein Bindestück in diesem Ganzen sind? Aber was noch mehr?

Ein Kommen und Gehen herrscht hier diesseitig. Mit vielen, mit sehr vielen Gefühlen werden wir ausgestattet und müssen damit umgehen. Mit Freude beginnt ein Leben. Und mit Leid und Trauer verbunden wird es beendet. Es wird alles, was dieses Leben war, komplett ersetzt… immer und immer wieder, durch ständig wieder neugeborene Menschen.

Wenn ich so daran denke, dass du Mam ein ganzes Jahr schon nicht mehr Teil in meinem Leben bist, erschreckt mich die Tatsache, dass mir dies so machtlos wiederfahren war. Es ist so, weil es irgendwo so ‚vorbestimmt war‘ und Punkt! Ich soll es dann einfach so annehmen!

Menschen, Tiere, Gegenstände werden einem einfach im Leben ständig weggenommen, ohne dass man es beeinflussen kann. Sie werden einem für eine gewisse Zeit gegeben und dann wieder weggenommen. Selbst die eigene körperliche Hülle ist nur geliehen für eine gewisse Zeit: erst geschenkt, dann abgenutzt, nicht mehr zu gebrauchen, dann weggenommen.

Und warum ist das so? Warum soll man hier, erst nichts könnend in diese Welt reinwachsen, um dann in ihr ein Mini-Zahnrädchen zu sein, um zu funktionieren, um dann wie ein Auto, das nach seiner gedienten Zeit nicht mehr ordentlich fährt, wieder ersetzt zu werden.

Ein Leben. Dazu werden einem die Lebenszeit und verschiedene Menschen zur Seite gestellt. Schöne Dinge wie ein Frühling, ein Sonnenauf- oder -untergang, leiser fallender Schnee vom nächtlichen Himmel, eigene Kapazitäten, eigene Begabungen geschenkt, um seine Zeit hier angenehm zu verbringen und interessant zu gestalten.

Aber, warum bin ich diesmal ein Mensch und keine Ameise oder sonst was geworden? Denn auch die ist ein Mini-Zahnrädchen in diesem Ganzen hier. Wer entscheidet eigentlich, wer in welcher Funktion hier sein darf, was gerade zu einem bestimmten Zeitpunkt hier auf Erden fehlt und in Thüringen benötigt wurde? Wer hat entschieden, dass um 9:o3 Uhr am 15.10.1972 ein Menschenkind, ein Mädchen, etwas pummelig, mit Sommersprossen ausgestattet, benötigt wurde? Und wer hat entschieden, dass ich in diese körperliche Hülle kam, um darin ein Leben zu haben?

Was war und ist meine Bestimmung gerade in dieser Hülle zu stecken? Ich kam zu einem Paar, dass sich ein Mädchen nach zwei Jungs gewünscht hatte.

Man bekommt eine Familie zugeordnet, die man sich nicht aussuchen kann. Ich habe es ganz gut angetroffen. Mein Vater war im Rahmen seiner Möglichkeiten o.k. Er hätte es sicher anders gemacht, wenn er andere Erfahrungen mit seiner eigenen Familie gemacht hätte. Ich bekam eine Mutter und deren Mutter, mein Ömchen, an meine Seite gestellt, für die es keinen Vergleich gibt. Einfach zwei ganz besondere, außergewöhnliche Menschen, die man gerne zum Vorbild an Lebensmut und Hoffnung hat.

*****

Ein Jahr ist es nun her, seit dem du, liebe Mam, aus deiner kranken, körperlichen Hülle von uns hast gehen müssen. Ich wundere mich, wie fern sich dies heute schon manchmal anfühlt, diese unglaublich schwierig zu beschreibende Schwere um deinen Verlust. Der Schmerz um den Verlust eines wundervollen Menschen ist wieder ein Stück weit mehr von mir genommen. Ich bemerke, manchmal recht erstaunt und mich fast schon etwas schuldig fühlend, wie leicht ich mich nach einem Jahr in manchen Situationen wieder fühlen kann. In diesen Momenten fast schon so, als sei nichts passiert.

Natürlich weiß ich was passiert ist, doch lass ich nicht das letzte Ereignis, deinen tödlich verlaufenden Unfall, in mir einbrennen.

Anfänglich war ich erleichtert, dass dieser plötzliche Unfall dich uns nicht sofort weggenommen hatte und wir nicht so abrupt auseinandergerissen wurden. Ich empfand ganz tiefe Dankbarkeit für die letzten geschenkten zwei Wochen im Krankenhaus, in denen alle nach banger Zeit voller Hoffnung und der dann bitteren Gewissheit die Chance erhielten, sich vor Ort oder aus der Ferne in Gedanken bewusst von dir zu verabschieden. Wir erhielten damit die Möglichkeit, dass am Unfalltag schon besiegelte Schicksal zu verstehen. Wir begriffen, dass deine Entscheidung aus der angeschlagenen körperlichen Hülle zu gehen, die beste war, um dich vor weiterem Leid zu beschützen. Wir konnten dich dadurch etwas leichter aus der körperlichen Hülle gehen lassen.

Ich fühlte mich nach dem du deine Hülle leer zurückgelassen hast, noch Stunden und Tage später so warm, wie von dir umarmt an, so, als ob du noch tief in mir geblieben bist. Ich fühlte mich so gestützt, getragen von dir.

*****

Nun war ich also da. Zu welchem Zweck aber kam ich zu diesen beiden Menschen? Zu einem Paar, das so glaube ich, schon seine schönsten gemeinsamen Jahre hinter sich hatte. Ich, recht goldig, war wie alle Kinder ein Magnet für die Erwachsenen. Jedoch war ich sehr früh auch schon sehr dickköpfig und kratzbürstig.

 

Ich frage mich, warum den Beiden durch mein manchmal sehr auffälliges, aggressives Verhalten nicht aufgefallen ist, dass was nicht stimmte, dass zwischen ihnen etwas nicht stimmte. Jedoch, wohl eher abgelenkt vom Alltag, dem stetigen ‚Überlebenskampf‘ und in einer Gesellschaft, in der Scheidung noch eher tabu war, brauchte es weitere viele Jahre, um sich endlich loszulassen.

Für meinen Vater war ich zunächst sein ‚Sonnenschein‘. Es hat ihm gefallen eine Tochter zu haben, es hat ihm gut getan. Dennoch sollte auch dieser ‚Sonnenschein‘ nicht ausreichen, die auf ihm stetig liegenden Schatten zu durchdrängen und zu erhellen und Halt in der Familie zu finden. Er bevorzugte lieber den Halt an der Flasche.

Für Mam waren wir drei Kinder wichtig, um sich von ihrem recht schwierigen, dominanten, auch jähzornigen Vater zu lösen. Mit 17 Jahren, kurz vor ihrer Volljährigkeit bekam sie ihren ersten Sohn und heiratete gleich nach ihrem 18. Geburtstag ihren Mann und zog aus. So kam sie von der einen seelischen Unterdrückung durch ihren Vater in die nächste durch ihren Mann. Aber bei ihm bzw. durch ihn sollte sie endlich lernen, was richtig im Leben ist, welchen Respekt man erwarten und sich gegebenenfalls einfordern und erkämpfen muss. Auch wenn es dafür viele Jahre benötigt hat. Ich sollte sie dabei immer sehr nah begleiten, hing als Kind vor allem körperlich sehr an ihr. Lange, noch als Erwachsene, gab und nahm ich mir viel Nähe, gaben wir uns viele haltende Umarmungen. Ich glaube, dass wir Kinder ihr ein wichtiger Halt, die ‚Luft zum Atmen‘ waren, damit sie die schwere Zeit bis zur Loslösung von meinem Vater ‚überstehen‘ konnte. Wir sollten ihr helfen ihren eigenen Weg zu finden, auch wenn sie durch uns, länger darauf warten musste. Man verlässt nicht mit drei heranwachsenden Kindern einfach mal so seinen Mann.

Für meine Brüder habe ich als Kind keine großartige Bedeutung gehabt. Wir waren mit 5 und 7 Jahren Altersunterschied recht weit auseinander. Der Sinn des Daseins meiner Brüder und mir lag wohl darin, die Eltern zusammenzuhalten. Sie stritten viel miteinander, wobei dies grundsätzlich von meinem Vater ausging, der uns alle an seinem eigenen Unglücklichsein teilhaben ließ.

Es herrschte Zuhause ein permanenter Druck. Heute kann ich es besser deuten und beschreiben. Wie unter einer Druckglocke befanden wir uns. Wir wussten nie, wann der nächste jähzornige Sturm meines Vaters wegen Nichtigkeiten oder gar grundlos losging. Es war ein ständiges Abtasten seiner Stimmungslage und um diese ein ständiger Eiertanz. Mit der Zeit wussten wir, wie wir uns am besten ihm gegenüber verhalten mussten, damit er ruhig blieb. Das funktionierte aber nicht immer.

Das Schönste in meiner Kindheit war, wenn mein Vater nicht da war. Er arbeitete im Schichtdienst. So waren wir sogar das ein oder andere Wochenende tagsüber oder Abende für uns allein. Fern von allen Reglementierungen, die von ihm ausgingen und unseren Tagesrhythmus bestimmten. Dies waren z.B. feste Aufsteh- und Essenszeiten und vor allem das was gegessen wurde. Wehe das Essen war nicht fertig oder entsprach nicht seinen Vorstellungen. Ich liebte Mamas Kochkunst bis zu ihrem Fortgang. Jedoch, mein Vater meinte es wohl anders einschätzen zu müssen. Entweder war das Essen zu warm oder zu kalt, der Braten nicht schmackhaft, der Kloß zu weich, die Kartoffel zu hart, zu wenig oder zu viel gewürzt. Alles unglaublich, dämliche Einschätzungen von ihm. Zur Essenzeit war es immer Mucks-Mäuschen still, bis zu dem Moment, bis er das Essen ‚abgesegnet‘ hatte und er ruhig blieb und weiter aß. Oder aber plötzlich jähzornig gegen meine Mam schimpfte, sie demütigte. Dabei war es ihm egal, wer dann mit am Tisch saß und er das Essen auf seine ganz persönliche Art entsorgte. Da flogen nicht selten die Speisen auch schon mal quer über den Tisch oder durch die Gegend.

Was haben wir die Zeit ohne ihn genossen!

Einen Samstag- oder Sonntagmorgen nur für uns hieß, einfach nur ausschlafen, in Ruhe aufstehen, das Frühstück ganz entspannt vorbereiten, um dann bis in die Mittagsstunden gemütlich zu frühstücken. Wir waren albern, lachten viel oder genossen auch ab Ende der 80-iger im Sommer den ZDF-Fernsehgarten und spielten eine Runde ‚Halma‘, oder ‚Dame‘. Das war einfach nur schön. Oder bei seiner Nachtschicht, die freien Abende ohne ihn, die wir dann voller Harmonie und Frieden zelebrierten. Ich denke gerne an den heißen Kakao, an die Abendbrotzeiten, wo wir einfach essen konnten, worauf wir Lust hatten. Es war dann so anders, so friedlich. Was hatten wir einen Spaß. Mam wirkte dann so gelöst, ohne ihn im Nacken. Sie genoss dann sehr die Zeit des Einklangs und der Ausgeglichenheit. Wir spielten viel Karten, Rommé, Canasta, Passion. Sie lud das ein oder andere Mal Freundinnen ein oder wir gingen sie besuchen. Sie war dann einfach nur entspannt, glücklich und lachte viel. Ich teilte diese Zeit oft auch allein mit ihr, da meine Brüder schon älter waren und ihre eigenen Wege gingen. Ich genoss die Zeit mit ihr zusammen sehr. Es war schön, Mam dann so frei, so anders zu erleben. Sie blühte in diesen kurzen, flüchtigen Augenblicken richtig auf.

Aber, sie war auch immer auf der Hut. Zwar ließ sie sich nichts von ihm verbieten, wog aber immer ihre Entscheidungen ab, ob sich das Risiko eines eventuell unberechenbaren, aufkommenden Sturmes lohnte. Auch tat sie Dinge lieber mal nicht, sagte Termine mit Freunden des lieben Friedens wegen ab oder bat sie umgehend zu gehen, wenn Vater im Anmarsch war. Mein Vater mochte nur selten Freunde meiner Mam.

Er war kein Kind von Traurigkeit, mochte gesellige Abende, zum Beispiel Kartenspielen mit Freunden oder im Sommer grillen. Die Zeit mit ihm war dann angenehm. Er wirkte ruhiger, mehr im Einklang mit sich selber. In angenehmer Stimmung konnte man ihn am Besten in seinem Reich, seinem Keller, in dem er sich eine kleine Werkstatt eingerichtet hatte, vorfinden. Das war sein Rückzugsort, in dem er gerne und auch lange war. Er hat alles irgendwie selber gebaut, in der Wohnung, später am Auto und im Garten. Er war handwerklich wirklich sehr begabt. Meine bewusst gespeicherten Begegnungen mit ihm waren, wenn mal wieder das Fahrrad einen platten Reifen hatte oder sonst was kaputt war, was er mir wie mit Zauberhand wieder reparierte. Später versuchte ich alles selber zu machen. Warum eigentlich? War er dann noch mehr in seiner eigenen ‚Welt‘ gefangen? Für mich nicht erreichbar?

Noch ein wichtiger Rückzugsort für meinen Vater, wo er scheinbar seinen Frieden fand, war sein Garten. Wenn wir den Garten mal über das Wochenende selbst nutzten, weil er nicht an Gäste vermietet war, dann war das für mich wie Urlaub. Alle, selbst mein Vater, waren sehr entspannt. Es fühlte sich richtig gut, harmonisch an. In diesen Momenten wirkte er liebevoll.

Mein Vater war sehr geprägt durch seine eigene Kindheit und fand dadurch nur selten seinen Seelenfrieden. Er trug seine kühle Erziehung stetig offen mit sich, die auch meine warmherzige Mam und auch wir Kinder nur selten durchbrechen konnten. Immer nur gefühlte, kurze Momente ließ er es zu und verschloss sich gleich wieder. Er schaffte es sein Leben lang nicht, diese Kühle, diese äußerliche Distanz zum Leben und zu uns abzulegen. Er behielt eine Art Bitternis, eine gewisse Unzufriedenheit, als würde er mit dem Leben ewig auf Kriegsfuß stehen.

Unsere Erziehung erhielten wir nicht von unserem Vater, darum hat sich Mam gekümmert. Seine erzieherische Teilnahme lag höchstens in handgreiflichem Einmischen bei den Jungs. Bei mir, seiner Tochter, glitt ihm nur einmal, weil ich zu spät nach Hause kam, die Hand aus. Man sagte mir oft, ich sei das Liebste für ihn gewesen.

*****

Interessanterweise spürte ich dann diese Dankbarkeit, dieses warme Wohlgefühl kurz nach deinem Fortgang aufgrund deiner weiteren vorhandene ‚Präsenz‘. Ich war aber auch immer auf der Hut, hatte Angst, ich könnte jeden Moment kippen und zur heulenden, zusammenbrechenden Tochter werden, die ich erwartet hätte. Ich hatte ein merkwürdiges, dennoch nicht so schlechtfühlendes, eher ein positives inneres Gefühl in mir. Ein positives Erscheinungsbild, welches ich aber nur dezent nach außen lies, damit ich niemanden, der anders fühlte, irritierte.

Diese gespürte und mich tragende Dankbarkeit beruhte darauf, dass mir bewusst war, dass du all das, was da in den nächsten Monaten, Jahren vermutlich auf dich zugekommen wäre, nicht mehr erleben brauchtest. Du solltest nicht mehr mitbekommen, wie der Krebs dich weiter von innen aufgefressen hätte. Du solltest nicht mehr erfahren müssen, wie deine von dir bewohnte körperliche Hülle allmählich oder bedingt durch den Unfall sehr abrupt dann nicht mehr funktioniert hätte. Es sollte dir die dann voraussichtlich eingetretene schwere Beeinträchtigung erspart bleiben.

Nach drei Wochen fremdgesteuert, nach einem vorgegebenen Rhythmus leben, den achterbahnfahrtmäßigen Krankenhaustagen und dann Beerdigungsorganisation, fühlte ich auf einmal, eine Woche nach Deinem Fortgang, MICH endlich mal wieder bewusst.

Stark in mir gefühlte Liebe für dich trug mich, stützte mich gerade in jenen ersten Tagen.

*****

Ein interessanter Ansatz kam gestern, als ich dich auf dem Friedhof besuchte. Ich fragte mich, ob du Mam, auch wenn du körperlich nicht mehr anwesend bist, wohl dennoch in Verbindung zu uns stehst? Wir meinen doch manchmal hier zu spüren, dass uns eine unsichtbare Hand begleitet, stützt. Einen innerlichen Stups zu spüren, Fragen innerlich beantwortet zu bekommen, Ratschläge wie von jemand anderem, einem in dem Moment nicht anwesenden Menschen zu erhalten. Wirst du umgekehrt auch unsere Liebe, du unsere Gedanken, unsere besten Wünsche und die Hoffnung, dass es dir da, wo du jetzt bist immer gut geht, spüren? Ist es vielleicht so oder ähnlich, nur dürfen wir es gegenseitig nicht voneinander wissen? Haben wir nicht so oft schon diese Situation erlebt, wo wir eine andere Person lange nicht gehört und gesehen haben? Aber diese Person denkt an dich und man spürt es, genauso auch umgekehrt. Oder man denkt an die Person, fände es schön sie zu hören prompt klingelt das Telefon und sie ist dran? Warum sollte dies also nicht auch über diese unbekannte Grenze funktionieren? Warum eigentlich nicht? Auch, wenn wir es nicht wissen dürfen, nicht voneinander wissen sollen.

*****

Auch wenn er es nicht zeigen konnte, schien es meinem Vater glücklich zu machen, eine Tochter zu haben. Es klingen noch vage Äußerungen von anderen in mir, die mich das annehmen lassen. Nur ich blieb nicht diese geliebte Tochter. Ich muss irgendwann unbewusst begriffen haben, was bei uns offensichtlich nicht stimmte. Ich muss wohl angefangen haben, den ‚frostig herrschenden Wind‘, wenn mein Vater da war, mit der harmonischen, warmherzigen Atmosphäre, wenn wir ohne ihn waren, zu vergleichen. Ich wurde stiller und distanzierter, auch immer frecher ihm gegenüber, trotzig und rebellierend. Ich ignorierte ihn mehr und mehr und akzeptierte ihn immer weniger. Dies hatte natürlich auch Auswirkungen, seine Reaktion blieb nicht aus. Ab da hieß es dann immer von ihm ‚deine Tochter‘, als er sich mal wieder über mein Verhalten bei Mam beschwerte.

Das Familienleben mit meinem Vater ging weiter den Bach herunter. In seinem Leben stellte sich nun auch noch seine Tochter gegen ihn. Statt aktiv an einem intakten Zuhause zu arbeiten, suchte er noch lieber den Halt an der Flasche, verschwand mehr und mehr im Keller oder im Garten. Die Stimmung Zuhause wurde entweder knisternd still oder laut aggressiv. Interessanterweise mag ich bis heute keine laut sprechenden Personen. Da spannt sich in mir gleich alles an. Ich assoziiere dies wohl noch immer mit der häuslichen Aggression.

Ich schloss meinen Vater immer mehr aus meinem Leben aus, kehrte mehr in mich, fand aber tiefen Halt bei meiner Mam. Mam und ich verständigten uns wortlos, da normal gefallene Worte Zündstoff sein und zu schnellen Überreaktionen meines Vaters führen konnten. Wir fingen an, über die Augen zu kommunizieren. Wir lernten ohne Worte über die Augen zu verstehen, wie es der Seele der anderen ging.

*****

Nur zwei Wochen später nach deinem Fortgang, erwachten plötzlich in mir interessante Gedanken, die mich verändern wollten oder sogar sollten? Stand ein Umbruch in mir an? Jetzt, wo ich durch die fehlende Hülle von dir nicht mehr ortsmäßig abhängig war, sondern mit dir nun überall hingehen könnte, vielleicht ein erneuter Ortswechsel? Ich kehrte vor Jahren aus Mailand in diese Stadt zurück, zuerst wegen meines Patenkindes, das ich aufwachsen sehen wollte. Dann habe ich mich bewusst zum Bleiben entschieden, auch um unsere noch gemeinsame, vorhandene Zeit hier genießen zu können. Nur war diese neue Heimat nie unbedingt meine Stadt, ich finde andere Orte viel schöner.

 

Der Veränderungsgedanke sollte mich nicht mehr in Ruhe lassen. Er sollte komplett durchdacht werden. Dabei fiel mir bewusst auf, dass nicht nur Mam allein mir den Grund zum Bleiben in der Vergangenheit gegeben hatte. Zu meinem Wohlgefühl, auch in einer Stadt die nicht unbedingt meine bevorzugte ist, trägt generell unsere Familie bei. Sollte ich wirklich wieder wegziehen, um allein etwas Neues an einem Ort meiner Wahl aufzubauen? Ohne meine Familie und ohne altbewährte Freunde? Nein, das wollte ich nicht. Ich bemerkte, dass dies mein Leben ausmachte, egal wo ich meine Wohnung hatte, einer Arbeit nachging. Ich brauche meine Familie und meine Freunde um mich. Diese machen das stützende Korsett meines Lebens aus, gerade jetzt ohne dich!

Mein Veränderungswunsch wurde durch einen Wohnungswechsel gestillt. Ich entschied mich für eine neue Wohnung, die dann, vor allem räumlich gesehen, auch mehr ein Zuhause für meine Familie sein sollte.

Auch an deinem Beerdigungstag ging es mir gut. Ich war stabil. Es schien, als ob du es wie verrückt schneien ließt, um uns einen unvergesslichen Tag zu bescheren. Du verzaubertest den Friedhof in eine unglaubliche Winterlandschaft. Nichts ließ auf einen Friedhof schließen. Alles, wirklich alles war im zarten weiß eingehüllt. Schnee. Dein Element, überall war Schnee, wo man nur hinsah. Ein unbeschreibliches Spektakel, auch wenn es deine Beerdigung war.

Eine Vermutung, dass es dir mit deiner Entscheidung zu gehen, sicherlich besser geht, half ungemein.

*****

Leider kann ich mich ja nur an einige, wenige Bruchstücke aus der Kindheit erinnern. Nur so viel weiß ich ganz sicher, dass ich ungern ohne meine Mam war. Ich war sehr mutterfixiert, sie war meine Bezugsperson. Längere Zeiten ohne sie, wenn sie z.B. wegen ihres Haut-Ekzems 6 Wochen zur Kur war, und wir Kinder in dieser Zeit auf Verwandte verteilt wurden, waren für mich schwere Zeiten. Die Sehnsucht lag mir enorm auf dem Herzen. Selbst, wenn ich bei meinen Großeltern mütterlicherseits, bei meinem geliebten Ömchen oder bei meinem Cousinchen, mit der ich mich gut verstanden habe, war, konnte ich die Schwere der Sehnsucht nicht ganz loswerden. Immens schwer war vor allem die Zeit, wenn ich bei meiner Oma väterlicher Seite sein musste. Sie trug nur wenig Wärme in sich und wusste mit Kindern nicht so wirklich etwas anzufangen. Diese Zeit empfand ich immer als unerträglich und schwer. Es machte mich sehr traurig. Vertrautheit, Wärme fehlte mir so sehr. Ich suchte sie immer bei meiner Mam, in meiner gewohnten Umgebung, die aber zu jenem Zeitpunkt nicht da sein konnte. Außerdem gab das Dorfleben einfach für mich nichts her. Zudem war ich auch noch ein sehr verschlossenes Kind, was nicht auf fremde Kinder zugehen konnte. So stand ich als kleines Wesen dem übermächtigen Gefühl der Sehnsucht ohnmächtig und wehrlos gegenüber. Die Zeit bei meinem Ömchen oder meiner Tante war zum Glück durch deren Wärme nicht ganz so von diesem starken Sehnsuchtsgefühl geprägt. Da wurde ich anders beschäftigt und somit abgelenkt. Dort fiel es mir leichter ohne Mam zu sein.

*****

Die darauffolgenden Wochen, es waren fast zwei Monate ohne dich vergangen, wirkten wie ewige Achterbahnfahrten der Gefühle. Starke Schwankungen in meinem Gefühlsleben. Statt wie normal, nach einem super vorangekommenen Tag bezüglich des anstehenden Umzuges, Freude und Glück zu spüren, fiel ich in ein Loch. Schwermut machte sich breit. Ein Loch voller Wehmut und Traurigkeit tat sich auf. Und du Mam, du lagst mir in ganz plötzlich eintretenden Situationen, als ich z.B. dein altes Rezeptbuch beim Umzugskarton packen in die Hand bekam, wie Blei auf meiner Brust. Du fehltest mir, so unbeschreiblich, unerträglich stark in solchen Momenten.

Die Ablenkung durch den Stress und die Organisation des Umzuges wurde mit der Zeit immer weniger und ich verlor mich immer mehr. Mein Glas sprudelte schon lange nicht mehr über. Nein noch schlimmer, es war nun fast leer und dadurch war ich sehr dünnhäutig und weinerlich geworden. Ich musste so viel an dich denken Mam und konnte dabei nur selten nicht weinen.

Ich verlor mich immer mehr. Mein „Ich-fühle-mich-glücklich-Gefühl“ rückte immer weiter weg, wirkte nur noch schwer greifbar. Ich fühlte weder Dankbarkeit über den guten Verlauf des Umzuges oder über die Menschen um mich herum, die mir halfen, noch überhaupt ein Gefühl in mir. Ich dachte und wirkte negativ. Ich sah nicht das tolle Vorankommen, sondern nur alles ‚schwarz’ und pessimistisch und zog mit meiner merkwürdigen Stimmung dann noch mehr Dinge die nicht klappten, launische Menschen, negative Situationen an. Durch meine negative Laune beeinflusst, lief vieles nicht wirklich gut und rund zu jener Zeit. Vieles drohte schiefzulaufen. Ich musste sehr viel Mühe aufwenden, damit dies nicht geschah. Auch musste ich sehr aufpassen, dass ich mit meiner Stimmung anderen gegenüber nicht verletzend auftrat. Ich war alles andere als in meiner üblichen inneren Balance.

Ich empfand trotz sehr gut gelaufenen Umzuges in eine schöne Wohnung, in der ich mich hätte wohlfühlen müssen, kein tiefes Glück, kein tiefes Gefühl der Freude in mir. Ich fühlte mich leer, so fade. Mein Glas hatte nicht einmal mehr einen Glasboden. Wirklich alles, so mühsam erarbeitete Positive fiel einfach durch. Das Positive, dass ich immer aus allem schöpfen konnte, wie ein toller Sonnentag, der Frühling der langsam erwachte, die Vögel, die mich auf der Terrasse besuchten, blieb bei mir unbemerkt und ungefühlt. Eine Blockade auf meiner Brust ließ keine Gefühle mehr rein und auch keine mehr heraus. Es war so merkwürdig mich so negativ, nichts fühlend und so machtlos dem gegenüberstehend zu sehen.

*****

Zuhause habe ich die extremen Situationen durch meinen Vater mit übersteigertem Essverhalten kompensiert. Ich habe alles und immer gegessen und kannte den Stoppknopf fürs Essen überhaupt nicht. Es ging immer und immer noch was rein. Ich stand sogar nachts auf, um heimlich an den Kühlschrank zu gehen und das vorgekochte Essen, z.B. das leckere Gulasch meines Vaters, zu verputzen. Trotz der Angst erwischt zu werden und mir dadurch Ärger einzuhandeln. Essen gab mir ein sehr gutes Gefühl. Fatal waren dann die Besuche bei meiner Oma väterlicherseits, wo mein Essverhalten noch extremer wurde und ich nicht so zurückkam, wie ich hinfuhr. Ich war zwar überglücklich, weil ich endlich wieder Zuhause sein durfte, aber war auch um einige Kilo schwerer frustangefuttert.

Ach, was war es ein Drama, wenn Mam für mich die schönsten Klamotten aus dem Westen geschickt oder mitgebracht bekam. Ein Leuchten immer in unseren Augen, wenn ein Westpaket ankam. Nur war das Problem, dass mein Körper nicht reinpasste, vor allem nicht in die Hosen. Die Hosen waren zu klein, zu eng und Kleider waren nicht mein Ding. Diese Situation, das enttäuschte Gesicht meiner Mam, die Sprüche der Anderen, fand ich nicht prickelnd. Da half auch die darauf folgende 100ste Diät nichts. So wiederholte sich dieses Schauspiel an den Geschenktagen oder wenn wieder einmal ein Westpaket ankam. Ich war schon froh, wenn es keine Kleidung für mich gab. Ich hoffte es sogar inständig.

Zu meinen Fressattacken kam hinzu, dass ich lange Zeit, oft aggressiv war. Ich biss viel oder schubste schnell die anderen Kinder in der Kinderkrippe und im Kindergarten. Mam musste öfter wegen meines kratzbürstigen, trotzigen, unkontrollierten Verhaltens antanzen und sich anhören, dass ich andere Kinder verletzt hatte. Ich muss ein solch dickköpfiges Kind gewesen sein, dass ich, als ich gerade mal 2-3 Schrittchen selber laufen konnte, so trotzig und eigensinnig mit dem Fuß aufgestampft habe, dass ich mir den Fuß oder das Beinchen brach und mich schon früh mit einem Gips schmückte.

Ansonsten war ich eher der ‚Kumpeltyp‘. Man konnte mit mir jeden Blödsinn machen, die sogenannten Pferde mit mir stehlen. Ich war sehr lange einen Kopf größer, als die anderen Kinder meines Alters und auch nicht gerade die Zierlichste. Ich bemerkte recht schnell, dass dieses kräftige Auftreten imponierte, mir zu mindestens Respekt einbrachte. Vielleicht war es auch nur pure Angst. Ich glaube sogar, dass man mit mir daher eher keinen Streit anfangen wollte. Meine mit der Zeit weniger werdenden Wutausbrüche, verbunden mit Schlägen, Beißen oder Treten, waren schon nicht ohne gewesen. Diese Ausbrüche wurden mit der Zeit seltener und ich konnte sie besser kontrollieren.

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