Buch lesen: «Und dann lynch' ich deinen Hummer!»

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Izy Kusche

Und dann lynch’ ich
deinen Hummer!
Das Affenalbum

Roman


1. Auflage

© Edition Atelier, Wien 2012

www.editionatelier.at

Satz: Jorghi Poll

Umschlagillustrationen: Peter M. Hoffmann

Druck: Prime Rate Kft., Budapest

ISBN 9783902498601

Das Buch ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten, insbesondere für Übersetzungen, Nachdrucke, Vorträge sowie jegliche mediale Nutzung (Funk, Fernsehen, Internet). Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors reproduziert oder weiterverwendet werden.

Mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur und des Literaturreferats der Stadt Wien, MA7.

Inhalt

1. Der Ichauffeur

2. Dieser Affe fiel aus allen Wolken

3. Gastarbeit

4. Planet des Affen

5. Verlangen nach Zucker

6. Jeder hat etwas zu verbergen, abgesehen von mir und meinem … ehm … Selbst

7. Zu viel Affenbetrieb

8. Weißt du’s nicht, du musst den Affen schockieren?

9. Affeninseln (i bin reif, reif, reif …)

10. Aufzählaffe

11. Klappe zu, Affe …

12. Notizen, vom Schleifstein herab

13. Brass Monkey

Is it a crisis or a boring change?

PAVEMENT

1. Der Ichauffeur

Draußen standen die Neger. Sie wollten uns begleiten. Einer rief den seltsamen Namen einer Bar, die niemals schließe und stellte dort ein nicht endendes Fest in Aussicht. Die übrigen fielen in seine Werbung ein. Ebenso unerschöpflich wie die versprochene Party selbst schienen dabei immer neue Wörter in ihren Mündern zu entstehen, wie Einzeller, fähig zur ungeschlechtlichen Fortpflanzung, erstaunlich effizient, ausschwärmend und mit dem konsequent verfolgten Plan einer weiteren Vermehrung; so gab ein Wort von ihnen das nächste, und wenn auch ihre Rede insgesamt weitestgehend unverständlich blieb, so schien sie doch niemals zu versiegen, unerbittlich, mit dem Zweck, um uns zu werben, als würden wir irgendwann einlenken müssen, wobei es ihnen wohl eher auf sie als auf mich ankam, also – natürlich! – geschlechtliche Vermehrung, denn sie sah tatsächlich atemberaubend aus, und auch wenn die Neger denken mochten, sie hätten ein Leichtes mit mir – denn eigentlich wollten sie mich loswerden, was macht die mit dem alten Affen, werden sie sich gefragt haben –, doch ich ließ nicht nach, nein, ich nicht, nicht mit mir, diesmal nicht, so kurz vor dem Ziel, dachte ich, als unversehens ein einziger, sinnloser, aber bilingualer Ausruf des ersten Negers die anderen verstummen ließ: »The Wahrheit!«, wiederholte er daraufhin noch eine Weile, bis auch er schließlich still wurde und mit der flachen Hand über seinen muskulösen Oberkörper strich, der in einem T-Shirt mit folgender Aufschrift steckte: »Gott ist eine Pflanze!«

Nein. Wirklich nicht.

Wir hatten die Zeitmaschine gerade erst verlassen. Vom Tresen weg, durch den Keller, die Rollläden waren vorne längst runtergelassen, dem ersten Tageslicht entgegen, der Barmann tippte mit der Schuhsohle streng auf den Estrich vor der geöffneten Tür, ja, ja, weil wir zunächst WC und Hinterausgang verwechselt hatten, er wartete ungeduldig – wie es hagere Gestalten mitunter an sich haben – mit dem Schlüssel bereits im Schloss. Und dann raus. An den Negern vorbei.

Und dann.

Kurz.

Zum ersten Mal.

Ruhe.

Denn Stille lag ihr eigentlich nicht. Wie ich am Tresen saß. Und sie auf einmal neben mir stand. Und (wie die Neger) drauflosredete. Aus ihrem abrupt anhebenden Vortrag erkannte ich zunächst nur einzelne Vokabeln wie Verdienst, Lohn, Leistung, Wert. Ich konnte allerdings kaum wie jemand gewirkt haben, mit dem man ernsthaft über Arbeit sprechen wollte.

»Aber«, sagte sie, während sie einzelne Wörter gemeinsam mit dem Wein verschluckte, nämlich immer, wenn sie ihr Glas ansetzte und in kleinen, aber zahlreichen Schlucken trank, »warum? … Die verdienen nicht … sind sich zu … arbeiten … keine Leistung … Ich bin mir nicht … Sicher nicht. Wie finden Sie das, mein Herr?«

Ich hatte zunächst nur kurz in Richtung Fenster geblickt. Dann fiel mir die Tapete auf. Eine schwarze Fläche wurde überzogen von holzschnittartigen Kirschbäumen in einem schwachen Rotton mit etwas Weißanteil, ohne dabei allzu rosa zu wirken, dazu schlängelten sich längliche Blätter wie Schilf um ein vulkanartiges Gebirge in Hellbeige. Um diese zwar vereinfachten und schematischen Naturdarstellungen aber überhaupt zu erkennen, musste man sehr genau hinsehen, und wer hätte sich dazu noch imstande gesehen, hier, wo jegliche Analysetätigkeit mit Voranschreiten der Nacht eher nachließ; wenn man genauer hinsah, bemerkte man eine Art Metamuster, ein Gesamteindruck, der mit einigem Abstand – wobei es sich zumeist wohl um die Entfernung von der Theke zur Tapete handelte – betrachtet, Ähnlichkeit mit einer Korkstruktur aufwies. Diesen abstrakten Eindruck bewirkten die mit Folie abgedeckten Lampen, die direkt an der Wand befestigt waren und das Tapetenmuster lebendig erscheinen ließen. Die Mauern pulsierten orange oder vibrierten oder –

»Was soll das? Können Sie nicht sprechen, Sie Affe?«

Ihr Gesicht war plötzlich ganz nah an meinem. Sie hatte mich tatsächlich angesprochen. Ich bat um Entschuldigung, aber sie beruhigte sich kaum. Stattdessen wollte sie nun wissen, entweder aus tatsächlichem Interesse oder bloß aus Höflichkeit, ob ich denke, dass sie es nötig habe, irgendeinem Affen Vorträge zu halten, einem Affen, ergänzte sie, der offenkundig lieber in die Luft starre, als sich mit ihr zu unterhalten.

Es war die Tapete, präzisierte ich. Nicht Luft.

Sie fing an zu schreien, was ich mir einbilde. Ob ich nicht nur ein Affe, sondern auch noch ein Lackaffe, ein eingebildeter Lackaffe sei.

Ich wusste also bereits, dass sie leicht mal aus dem Häuschen geriet, als ich sie ungefähr ein Jahr später wieder die Zeitmaschine betreten sah, zunächst ohne mich zu beachten. Sie blieb erst einmal bei zwei Typen an der Bar, die sich für Neger hielten und sie bereits von der Türschwelle aus zu sich zogen, sofort das Gespräch mit ihr begannen und ganz nach Negerart auf sie einredeten, so, dass sich kaum einzelne Wörter voneinander unterscheiden ließen. Sie versuchte, beiden abwechselnd ins Gesicht zu schauen, schwankte dann leicht, hielt sich am Tresen fest und schrie, dass sie ihr Studium selbst finanziere und nicht angewiesen sei auf … Sie griff nach dem Glas von einem der beiden Ersatzneger und schluckte das Satzende mit dem fremden Getränk tief hinunter. Sie hatte Lippen wie ein Korallenriff. Es würde nun nicht mehr lange dauern, dachte ich.

Als wir die Bar verließen.

An den echten Negern vorbei. Die sie schon die ganze Zeit angestarrt hatten. Von draußen durch die Scheibe hindurch. Sie warteten dort so lange, bis wir rauskamen. Sie wollten mit uns gehen. Aber wir ließen sie stehen und gingen die wenigen Schritte zum Markt runter. So ist das bereits beim ersten Mal gewesen. Dachte ich.

Als wir uns vor ungefähr einem Jahr begegnet waren.

Die Sonne ging auf, die ersten Händler, Verkaufsneger, wie sie sie im Vorbeigehen bezeichnete, öffneten gerade ihre Stände, es war noch nichts zu sehen vom täglichen Geschacher um Obst und Gemüse, von dessen anbiedernder Präsentation. So sahen wir uns auch von der entwürdigenden Notwendigkeit entbunden, die Verkaufsofferten immer wieder aufs Neue abzulehnen, und spazierten über den Markt wie durch einen Garten im August, vorbei die Blütezeit und seine Früchte noch nicht bereit. Munterer als die ersten Menschen liefen wir an den Händlern, die noch keine waren, vorbei wie durch eine Frühphase der Wonne, bis wir schließlich zu dem Laden, der nie schließt, gelangten. (Allerdings ein anderer, nicht der, von dem die Neger redeten.)

Ich bezahlte dort teuer für das, was wir wollten, weil in so einem Laden tatsächlich nichts billig zu haben war. Die Sonne ging immer noch auf und hinterließ atompilzartige Muster auf dem quadratischen Tischchen aus blassrosafarbenem Marmor, als sie direkt durch unsere gerade vom Ober gelieferten Getränke hindurchschien. Es waren zwei leuchtende Explosionswolken, die eingefasst wurden von einem dunklen, trichterförmigen Schatten. Ich sah, wie er auf der Steinplatte kreiselte, auf der unsere Gläser standen, als ich eines anhob und es am Stil leicht hin- und herbewegte.

»Hörst du mir überhaupt zu«, schrie sie plötzlich, »du Affe!«.

Ich entschuldigte mich und fragte, ob sie etwas gesagt habe.

»Natürlich habe ich.«

Ich entschuldigte mich erneut und korrigierte meine Frage dahingehend, was sie denn gesagt habe.

»Humor ist überhaupt das Größte.«

Ich verstand nicht recht, aber zum Beweis dessen, dass ich ihr diesmal aufmerksam zuhörte, begann ich, so ungekünstelt wie möglich zu kichern. Sie richtete sich auf. Ihre Augen hoben sich wie zwei zufällig freigelegte winzige Flecken auf einer Werbefläche hervor, von der sich jüngere Plakate, den äußeren Bedingungen nachgebend, langsam zu lösen begannen und nun im Wind flatterten, woraufhin unter den Schichten der Angebote von Elektronikkaufhäusern oder Schnellrestaurantketten zwei azurfarbene Punkte hindurchschimmerten, zwei Punkte eines Plakats, dessen Sinn überlagert wurde von neuerer Werbung, die mittlerweile aber dasselbe Schicksal wie die vorherige teilte. Erratisch zeugten diese zwei azurfarbenen Punkte von einer Art Reklame-Antike, die nun niemand mehr versteht. Ihre Augen betrachteten mich blicklos. Ich hatte keine Ahnung, was sie erwartete. Meine Reaktion zeigte deshalb insgesamt wohl zu viel Uneindeutigkeit, denn eigentlich kenne ich mich mit Menschen kaum aus. Sie begann zu weinen.

Nun ja, Humor sei sicherlich gut, überhaupt das Größte, wie sie sich ausdrückte, aber, versuchte ich sie zu beschwichtigen, er sollte eigentlich befreiend wirken und nicht Anlass zu Kummer geben, ob sie einem solchen beispielsweise zum Opfer gefallen sei, versuchte ich die Ursache ihrer Tränen zu erraten, aber, holte ich nun etwas weiter aus, in der Hoffnung, in ihren Augen nicht genau diese Sorte rücksichtslos aufmerksamkeitsheischender Spaßvögel (»selbstverständlich, ich würde töten für einen Lacher«, haha, das war ein guter Witz, Waschlappen) oder gar selbsternannter Zyniker (Typ einsamer Wolf, der seine verächtlichen Witze scheinbar reißt, um seine Autonomie unter Beweis zu stellen, in Wirklichkeit aber genauso nach Aufmerksamkeit heischend, nur eben nicht zustimmender, aber ohne (in wirklich supereinfach zu provozierende) entsetzte Blicke wäre er nackt wie ein Stück Seife) zu verkörpern, da sie weiterhin keine Regung zeigte; ob Spott und Humor überhaupt dasselbe seien, wagte ich zu bezweifeln, schließlich zeuge jener von Distanz, dieser eben gerade nicht. Und um den Satz nicht bloß im Symbolischen zu belassen, demonstrierte ich Nähe und rückte eng an sie heran.

Sie senkte ihren Blick und verfolgte ohne weitere Anteilnahme ihre vergeblichen Versuche, sich Feuer zu geben. Nachdem ihr das dritte Streichholz zerbrach, nahm ich ihr behutsam die Schachtel aus der Hand, die zitterte wie ein sterbendes Insekt auf einem Blatt Sonnentau (Drosera), entzündete ein viertes und hielt ihr das Flämmchen weit entgegen. Sie verfehlte es dennoch mit ihrer Zigarette. Ich korrigierte die Position des Feuers. Nachdem sie endlich den Rauch ihres ersten Zugs ausblies, nahm sie wie zum Dank meine Finger, die noch das versengte Hölzchen hielten, umfasste sie mit beiden Händen, führte sie zu ihrem Mund und küsste sie zweimal, zunächst ganz kurz und kaum spürbar, worauf ich das Streichholz schnell fallen ließ, dann lang anhaltend, aber immer noch behutsam und kaum merklich, die brennende Zigarette in ihrer Hand dabei völlig außer Acht lassend. Sie schien bereits mit ihren Lippen auf meinen Fingern ruhend eingeschlafen zu sein, als sie plötzlich ihren Kopf hob und versuchte, mir direkt ins Gesicht zu blicken. Ich hatte versucht, sie anzusprechen. Vermutlich verstand sie nicht.

»Du hast urschöne Augen«, sagte sie auf einmal, »wirklich, urschöne Augen.«

Nach dieser aufbauenden Ansprache wechselte sie jedoch leider das Thema und sprach nun von Kommilitonen, die nämlich ihre Kunst nicht verstünden, weil sie keine großen Bilder male, sondern nur kleine Strichmännchen. Ihr Professor hingegen wisse ihre Arbeit zu würdigen, das allein sei ihr ein Verdienst, wenn er den Wert ihrer Leistung schätze.

»Ich bin nämlich in der Klasse von …«, an dieser Stelle nannte sie den Namen des berühmten und derzeit zweitteuersten Malers des Landes, »und …«, sie wiederholte den Namen, »versteht mich, ich studier nämlich bei …«, sie nannte ihren Lehrer erneut. »Die übrigen Kommilitonen«, so fuhr sie fort, »denken überhaupt ganz lange nach, was große und ernste Kunst ist, dann fangen sie erst an zu malen. Große Bilder nennen sie«, an dieser Stelle zog sie mit dem rechten Zeigefinger ihr unteres Lid auf derselben Seite herunter, so dass die Rundung ihres Augapfels sichtbar wurde, wobei sie eine Quarte pfiff, bevor sie den Begriff nannte, den sie mit ihrer Geste in sein Gegenteil verkehrte: »ernsthafte Kunst.« Je lebhafter sie von ihren Kommilitonen erzählte, desto kürzer wurden nun die Abstände ihrer Schlucke. »Dabei … rückschrittlich, konservativ, … weil …, ich mach kleine Zeichnungen …, damit ein veränderter Blick … nämlich Strichmännchen … weniger die Intentionalität … als deren Aussetzen, weniger der bewusste Wille als das Begehren, weniger das Ich als das Subjekt des Unbewussten … experimentell … künstlerisch risikobereit … Konventionen brechen … Fortschritt der Ästhetik …« Plötzlich setzte sie das Glas ab und hielt es mit beiden Händen, wie um sich, zumindest hatte es den Anschein, auf es zu stützen oder besser auf folgende Schilderung konzentrieren zu können: »Sie stehen vor ihren Bildern und betrachten sie mit einem«, sie wiederholte die Geste mitsamt den zwei gepfiffenen Tönen, »ernsthaftem Blick. Haare aus der Stirn nach hinten gekämmt, an den Seiten kurz, Ohren frei, dünner Schnauzer über den Wangen, löchriger Bartwuchs, ein kariertes Tuch um den Hals geschlungen, dunkler Blaser.« Sie wirkte wieder so, als würde sie mir direkt ins Gesicht blicken wollen, diesmal wie um ihrer Rede eine rhetorische Frage hinzuzufügen. Deren Formulierung überließ sie anscheinend allerdings mir selbst: Sie zog ihre Kunstpause in die Länge, als habe sich die Außentemperatur nur für sie merklich geändert, so verfiel sie in eine amphibienhafte Starre, verharrte reglos mit offenen Augen, bis irgendwas die Gradzahl im Raum rückregulierte, sie unvermittelt rief und gleichzeitig mit einer Armbewegung ihre Äußerung unterstrich, als würde nun eine Bilanz erfolgen: »Der junge Stalin!«

Nun war es an mir, sie fragend anzusehen. Ihr Ausruf blieb mir unverständlich wie eine Negerrede.

»Glotzt du in meinen Ausschnitt?«

Stalin? fragte ich mit einem möglichst wissenden Ausdruck.

»Mode-Stalinisten. Ich nehm die gar nicht ernst.« Sie erhöhte wieder die Frequenz ihrer Schlucke. »Ich bin nämlich überzeugt von … Man muss hinter … stehen … Wenn nicht …, dass ich die beste Künstlerin überhaupt bin, dann … alles keinen Sinn. Ich bin in der Klasse von …«, sie nannte an dieser Stelle wieder den berühmten Namen ihres Professors, »und der unterstützt mich voll, … meine Strichmännchen … die besten Strichmännchen überhaupt!«

Sie blickte beim Sprechen auf immer neue Zigaretten, die sie von der linken in die rechte Hand wechselte und umgekehrt, nachdem sie sie aus meiner Schachtel zog und ich sie ihr anzündete, woraufhin sie jedes Mal nach meinen Händen griff, sie küsste und zwischendurch immer wieder bemerkte, ich habe urschöne Augen. Sie blinzelte dabei, als sie das sagte, so als hätte sie eigentlich Schwierigkeiten, meine Augen überhaupt zu erkennen.

Nur zu gern hätte ich ihr geglaubt. Denn sie war ein absolut steiler Zahn. Ihr langes, glattes, blondes Haar fiel an den Schultern auf ein vornehmes schwarzes Kleid, das aussah wie von Varnadi, dazu trug sie ebenfalls schwarze, nichttransparente Strümpfe und rote Stiefeletten von Cizado (da war ich mir sicher) passend zu ihrem roten Barett (vermutlich vom Flohmarkt). In der Bar, in der wir uns begegneten und wo gewöhnlich eher betont nachlässig und, ihres Erachtens, wie der junge Stalin gekleidete Kunststudenten verkehrten, wirkte sie kaum, als gehörte sie dazu. Was tatsächlich an ihr auffiel, war ihre klassische Schönheit, wie von Vermeer porträtiert, ein gleichmäßig proportioniertes Gesicht, ebene Wangen, geschwungene Lippen, eine zierliche Nase, Brauen wie zwei leichte Federn. Dass allerdings auch ihre Augen gemalt wirkten, irritierte leicht. Denn sie blinzelte nie. Die dünnen Lider verliehen ihren Iriden den Eindruck einer flachen Schwere, die eine Spannung erzeugte, als würden in ihnen jeden Moment zwei Töpfchen Azur umkippen können, sich gleichmäßig ergießen und als bliebe die Farbe dann irgendwo: auf dem Tisch, an den Weingläsern, auf dem Boden, als verlören diese Augen tatsächlich ihre Blicke, um irgendwo funktionslos und gelangweilt zurückzubleiben. Denn ihre Aufgabe war es nicht zu sehen, sondern gesehen zu werden, Komplimente wurden reflektiert wie von verspiegeltem Glas.

»Du hast urschöne Augen«, sagte sie, nachdem ihr azurfarbene Kleckse aus dem Gesicht quollen und auf die Marmorplatte tropften. Sie tastete nach meinen Händen und führte sie wieder an ihre Lippen, ihre Zungenspitze pusselte an meinen Fingerkuppen, dann verschwanden sie kurz hinter ihren Zähnen, und in dem Moment, indem sie wieder entlassen wurden, zogen ihre Lider blaue Fäden aus den Augenhöhlen, senkten sie und hoben sie erneut, wieder und wieder, wie ein völlig separater Mechanismus, ohne jede Verbindung zu ihrem Körper oder ihrer suchenden Zunge über meinen Fingerspitzen. Auf einmal jedoch schienen sich die Schnüre stärker zu spannen, um sofort darauf zu reißen und zwei azurfarbene Spritzer an der Decke zu hinterlassen.

»Noch’n Wein«, sagte sie und ruderte nach einem Kellner.

Während der ganzen Zeit hatte sie ihr rotes Barett getragen. Jetzt aber geriet es ins Rutschen und drohte zu fallen. Mit einer Hand griff sie nach der Kopfbedeckung, verfehlte sie, und die Mütze landete auf den Fliesen.

»Ach, was soll’s«, rief sie, »hier wird man ja sowieso nicht bedient. Wir gehen woanders hin.«

Sie hatte sich bei mir eingehakt, als wir den Markt überquerten und in das Disco-Restaurant gingen, wo vormittags oder mittags alle landen, die noch stehen können. Da sie jedoch im Foyer, als der Türsteher sagte, wir müssten unsere Garderobe abnehmen, umfiel, durften wir nicht hinein.

»Ach, was soll’s«, sagte sie, »gehen wir eben gleich zu mir. Ich hab noch nie mit einem Affen gebumst.«

Als wir wieder draußen standen, kippte der Himmel mitsamt seiner schweren Sonnenstrahlen auf uns, als habe jemand ein riesiges Gemälde fallengelassen.

»Aber ich muss mich chauffieren lassen. Sonst geht’s nicht. Willst du uns ein Taxi rufen?«

Wozu warten, meinte ich, wir bräuchten nicht unnötig Zeit vergeuden, ich könne noch fahren und geleitete sie zu meinem winzigen Auto, das gleich beim Markt stand (in das sie einstieg, nicht ohne dabei anzumerken, um was für eine Affenklitsche es sich bei meinem Wagen handele). Sie erklärte den Weg, und ich bekam ein Gefühl, als würde die Fahrt niemals enden. Zwischendurch räumte sie ein, dass ihr Appartement, wie sie sich ausdrückte, eventuell nicht eben aufgeräumt sei.

»Wenn Sie das nicht stört?«

Warum sie mich auf einmal sieze, fragte ich.

»Du Affe. Du bist doch jetzt mein Chauffeur. Verstehst du etwa keinen Spaß? Humor ist nämlich überhaupt das Größte. Ich geh doch nicht mit einem witzlosen Affen ins Bett. Ich nicht. Nicht ich. Wollen Sie nun mein Ichauffeur sein, Herr Affe?«

Wie zum Beweis, dass ich verstünde, kicherte ich leise. Es war nicht einfach für mich, humorvoll zu erscheinen, denn eigentlich kenne ich mich mit Menschen kaum aus, wusste aber, sobald wir bei ihr waren, dass sich alle Anstrengung gelohnt hatte.

Nur mussten irgendwie Teile der Daunenwäsche explodiert sein. Ihr gesamtes Appartement war auf einmal voller Federn, als sei mitten im Sommer Neuschnee auf den Fußboden und ihr spärliches Mobiliar gefallen, was nicht nur im August unmöglich gewesen wäre, auch hätte dafür nicht nur dem Bett, sondern der Wohnung eine Decke beziehungsweise dem Haus ein Dach fehlen müssen. Überhaupt schienen aber Raum und Zeit dort, wo sie zuhause war, eine eigene Verbindung einzugehen. Die leeren Flaschen, die um einen Ohrensessel und einen Couchtisch mit einer Glasplatte, durch die man eine Collage mit Fotos aus Schultagen einer ihr eventuell fremden (war sie hier selbst bloß zu Gast?), auf jeden Fall aber anderen Person während der 80er Jahre sah (war sie jung genug, dass es sich hierbei bereits um ihre Eltern handeln könnte?), herum gruppiert waren, sowie dutzende Aschenbecher, in denen sich jeweils die Kippen zu einem massiven Hügel angehäuft hatten, zeugten von der Auffassung, dass Zeit sich allerhöchstens im Raum begreifen, sich ansonsten aber kaum fassen lasse, im Sinne von messen. Dieser Vorstellung gemäß hatten wir kurz und ergreifend miteinander geschlafen, bevor sie sagte, ich müsse gehen. Und zwar sofort.

Aber.

Ich gab nicht auf.Ich wusste.Meine Stunde.

Sie würde ein weiteres Mal kommen.

Und noch mal.

Und noch mal.

Ich war mir sicher.

Als ich sie sah.

Zum zweiten Mal.

In der Zeitmaschine:

Während sie an der Theke lehnte und mit den beiden Ersatznegern sprach, durchsuchte sie ihre Tasche vermutlich nach Zigaretten, denn schließlich holte sie einzeln und krumm ein paar hervor, jedoch fiel dabei ihr Kleingeld heraus. Beim Versuch, es aufzusammeln, kippte sie und krachte den Münzen hinterher. Die beiden Männer halfen ihr, aber als wäre sie in ein Zeitloch gefallen, aus dem sie schlagartig gealtert wieder herausstieg, und wie zwei Mäuse von einer leeren Falle wendeten sie sich schnell wieder ab (es waren eben nur Ersatzneger), sodass es nur noch eine Frage der Zeit sein könnte, dachte ich, bis sie neben mir stehen würde. Und diesmal würde ich bei ihr bleiben.

Länger als nur eine Nacht.

Ich war mir sicher.

Denn

an der Art wie sie in den Raum starrte, konnte ich sehen, dass sie mich nicht wiedererkannte. Das heißt, der Erfolg war mir eigentlich nicht mehr zu nehmen. Ich wusste, was zu tun war. Und tatsächlich bat sie nur wenig später um Feuer. Mit einer weichen Bewegung zündete ich ihre Zigarette an. Aber diesmal griff sie nicht nach meinen Händen. Noch nicht, beruhigte ich mich, ich weiß ja, was zu tun ist.

»Das Größte überhaupt«, begann sie nun rauchend, zwar kontextlos, aber mir wieder vertraut, »ist Humor. Meinen Sie nicht?«

Ich kicherte so ungekünstelt wie möglich, wohl wissend, dass sie einen Spaß gemacht hatte.

»Was lachen Sie so dämlich? Wie sehen Sie überhaupt aus?«

Sofort verstummte ich und fragte, wieso, habe sie nicht gerade gescherzt?

»Sie eingebildeter Affe!«

Ich würde also meine Vorgehensweise leicht ändern müssen und fragte sie, was sie beruflich treibe, um die Konversation noch einmal von vorn beginnen zu können. Außerdem würde ich mich ja nun auf bekanntem Terrain bewegen. Schließlich hatte ich im letzten Jahr intensivst über den berühmten und zweitteuersten Maler geforscht. Die ganze Bildung, dachte ich – irgendwann würde sich alles bezahlt machen, das hatte ich schon immer gewusst.

»Ich schreibe«, sagte sie, und ich war wieder ein wenig irritiert. Aber ich konnte sie schließlich nicht auf Kunst ansprechen ohne zu verraten, dass wir uns kennen, was zweifelsohne meinen Erfolg gefährdet hätte.

»Und Sie?«

Ich würde ebenfalls schreiben, änderte ich nun mein Vorhaben gänzlich, um eine gemeinsame Basis zu schaffen.

»Ach. Wie affig. Und was bitteschön schreiben Sie?«

Auch wenn sie naheliegend gewesen sein mochte, auf diese Frage war ich nicht vorbereitet. Ich wand mich ein wenig und erklärte schließlich, ich würde Theaterstücke schreiben. Sie blieb stumm. Ich wartete noch ein wenig ab. Da sie weiterhin schwieg, fragte ich sie, was sie denn schreibe.

»Ich schreibe jedenfalls keine großen Dramen, keine ernsthafte Kunst wie Sie. Ich schreibe kleine, humorvolle Texte über Strichmännchen. Denn Humor ist überhaupt das allergrößte.«

Na ja, begann ich improvisierend zu erläutern, meine Theaterstücke seien nicht ausschließlich ernsthaft, sondern durchaus etwas komisch und ja, Humor sei in der Tat sehr bedeutsam, als Mittel zur Distanzierung beispielsweise, wie Bertolt Brecht in seinem Stück –

»Sie Affe«, unterbrach sie mich, »eingebildeter Affe! Sind Sie der Meinung, Sie schreiben gute Literatur?«

Ich wurde etwas verhaltener und meinte relativierend, da diese Frage für mich wieder völlig unvermittelt kam, denn ich hatte noch nie gehört, dass einem Schriftsteller jemals so eine Frage gestellt worden war, was sei schon gut, rein objektiv betrachtet, es gehe ja darum, was Inhalt eines Textes –

»Die Berufung zum Künstlertum, verehrtes Äffchen, erfährt der Künstler ausschließlich aus Gründen der Subjektivität. Nach der eigenen Einschätzung befragt, kann der Künstler nur antworten, er sei der Beste. Meine Meinung ist: Ich scheiß auf Ihr objektives Trara. Was sind Sie für ein affiger Schriftsteller, wenn Sie hier mit irgendwelchen Inhalten kommen?«

Sie setzte ihre Ausführungen fort, indem sie nun wieder etwas höherfrequentig trank.

»… weniger die Intentionalität … als deren Aussetzen, weniger der bewusste Wille als das Begehren, weniger das Ich als das Subjekt des Unbewussten … experimentell … künstlerisch risikobereit … Konventionen brechen … Fortschritt der Ästhetik …«

Die Luft war ein Apparat. Plötzlich schien alles kompliziert. Doch irgendwo gab es immer eine Resettaste.

»Das ist nur versuchsweise«, deutete sie einschränkend auf unsere Hände, die sich nun wie lange getrennte Partner streichelten. »Sie haben schöne Hände. Innen glatt und zart. Und außen die vielen kleinen Haare, so flauschig. Darf ich diesen Pelz einmal streicheln?«

Ich erlaubte es ihr, und sie fuhr langsam mit ihren Fingerspitzen durch die Haare auf meinem Handrücken. Eine Zeitlang tat sie es, ohne dabei zu sprechen. Sie starrte auf ihre Finger, wie sie meine Hand berührten, aber ihre Augen schienen zu langsam dafür zu sein. Sie folgten ihren Bewegungen, bis sie an einem imaginären Punkt am Unterarm zum Stehen zu kommen schienen. Tatsächlich betastete sie längst meinen erweiterten Bauchbereich, und ihr Blick wirkte auf einmal wie durch offene Fenster, durch die man zwei azurfarbene, leere Räume sah und aus denen Gardinen durch den Rahmen herauswehten und im Wind flatterten, wenn sie sich gerade wieder die Haare mit umgestülpter Unterlippe aus der Stirn fönte.

»Sie sind überall behaart.«

Ich war beruhigt, dass sie nicht weiter über Literatur sprechen oder wissen wollte, ob und wo bereits Stücke von mir aufgeführt worden waren. Doch meine Erleichterung hielt nicht lange. Denn ihre nächste Frage lautete, ob ich vom Schreiben leben könne.

Ich würde in der Tat, aber quasi nur nebenher einer geregelten Arbeit nachgehen, räumte ich ein.

»Sind Sie also kein richtiger Schriftsteller?«

Ich schwieg einen Augenblick zu lang. Sie erzählte, dass sie sich gerade für ein Studium für kreatives Schreiben beworben habe, um anschließend davon leben zu können. Denn wenn man schreibt, dann müsse man davon überzeugt sein, was man schreibt, und dann sollte man nicht noch nebenher arbeiten wollen oder sollen.

Das heiße aber, erkundigte ich mich, im Moment lebe sie nicht vom Schreiben? Leider konnte ich sie ja nicht fragen, was aus ihrem Studium an der hiesigen Kunsthochschule geworden sei, in diesem Fall hätte ich meine Vorgehensweise nochmalig ändern müssen, und immerhin hatte sie schon meine Hand gestreichelt. Und

alles, was ich wollte,

war

in ihr Bett,

auch wenn der Weg dorthin dieses Mal auch anders verlaufen würde als beim letzten Mal. Aber so ist das mit den Menschen, man kann halt nur versuchen, sich bestmöglich anzupassen.

»Wenn man schreibt, dann weiß man auch, ob man gut ist, denn sonst ist man kein guter Schriftsteller«, setzte sie wieder etwas tautologisch an und wollte wissen, wovon ich genau lebe. Ich umriss knapp Charakter und Funktion der Einrichtung, die mein Arbeitgeber war, beließ es aber im Wesentlichen bei Andeutungen, in der Hoffnung, sie gäbe sich mit vagen Ausflüchten zufrieden. Aber warum auch immer, auf einmal wirkte sie hellwach und für einen Moment so klar, wie ich sie noch nie erlebt hatte.

»Sie arbeiten für die Juden?«

Es sei ein solide geführtes Unternehmen, mehrheitlich in Staatsbesitz, antwortete ich.

»Ich habe überhaupt nichts gegen Juden,« fuhr sie fort, »ich habe durchaus sogar einen Freund, der Jude ist. Er ist solange umgänglich, bis er beginnt, von«, sie pfiff und machte die Zeigefingergeste, »Anti-Semitismus zu pa-la-vern. Dann dauert es nicht mehr lange, und alle sind Anti-Semiten. Ich brauch ja nur mal Israel zu kritisieren. Schon würde er mir am liebsten über den Mossad gewisse Grüße schicken lassen. Dabei habe ich überhaupt nichts gegen Juden. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Aber dieser Judenneger hat so eine Art an sich.«

Man könne sich heutzutage leider nicht aussuchen, für wen man arbeite, sah ich bereits meine Erfolgschancen bei ihr wieder schwinden und ergänzte, als Affe würde ich aber darüberstehen.

»Meine Güte. Was machen die denn?«

Ich blickte zum Fenster. Draußen hatten sich die Neger nebeneinander formiert. Sie trugen überraschenderweise jetzt alle einheitliche Trikots, die ihre durchtrainierten Körper äußerst betonten. Ihre Muskeln leuchteten in der Dunkelheit. Synchron bewegten sie sich nach links, dann nach rechts. Schließlich lösten sie diese Aufstellung sehr geschmeidig auf und standen sich in einer Zweierreihe gegenüber. Sie vergrößerten den Abstand zwischen den Paaren. Dann schlugen alle Purzelbäume und diejenigen aus der linken Reihe kamen zum Stehen. Die von rechts aber nutzten den Schwung, setzten nach der Landung sofort wieder zum Sprung an und hüpften auf die Schultern ihrer attraktiven Gegenüber. Dort angekommen, nahmen die oberen alle zur selben Zeit ihr linkes Bein und führten es elegant an ihren Hinterkopf. In dieser Position blieben sie kurz, bevor jeder zweite wieder auf den Boden sprang. Die übrigen stellten sich eng aneinander. Und auf einmal kletterten die ersteren an ihnen hoch, eine dritte Etage wurde gebildet, dann noch eine vierte.

€9,99

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186 S. 11 Illustrationen
ISBN:
9783903005570
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