Buch lesen: «Recht auf Sterben – Recht auf Leben»
Ivo W. Greiter
RECHT AUF STERBEN RECHT AUF LEBEN
Was das neue Gesetz zur Sterbehilfe regeln muss
Mit einem Vorwort des Präsidenten
des Verfassungsgerichtshofs
© 2021 Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck
Umschlaggestaltung und Layout: Tyrolia-Verlag, Innsbruck
Bildnachweis: Maximilian Rosenberger (Seite 9),
Christian Forcher (Seite 13) und Ivo W. Greiter (Umschlag)
Lektorat: Dr. Thomas Hartl, Wilhering
ISBN 978-3-7022-4011-0 (gedrucktes Buch)
ISBN 978-3-7022-4012-7 (E-Book)
E-Mail: buchverlag@tyrolia.at
Internet: www.tyrolia-verlag.at
Widmung
Für meine Frau Ute
für meine Kinder Andrea, Markus, Anna und Helene;
für meine Schwiegerkinder Markus und Benedikt;
für meine Enkelinnen und Enkel Freya, Paul, Olga,
Lilia, Rixa und Raphael Phumi
für meine Eltern Franz und Marianna
für meine fünf Geschwister Beatrix, Brigitte, Klaus, Toni
und Johannes; für meine Schwäger und Schwägerinnen
Egon, Paul, Trude, Christa und Evi
für meine fünf Patenkinder Johannes P., Ivo Michael G.,
Andreas S., Andreas G. und Christoph H.
INHALT
Vorwort
Univ. Prof. DDr. Christoph Grabenwarter, Präsident des Verfassungsgerichtshofs
Einleitung
Dr. Ivo W. Greiter, Rechtsanwalt in Innsbruck
Kapitel 1 Das Urteil des Verfassungsgerichtshofs
Strafdrohung der Hilfe beim Selbstmord aufgehoben
Reaktionen auf das Urteil
Die Entscheidung geht uns alle an
Kapitel 2 Ein neues Gesetz muss her
Der Gesetzgeber steht in der Pflicht
Das Gesetz muss Missbrauch ausschließen
Knifflige Fragen bedürfen einer Regelung
Kapitel 3 Vom Wert des Lebens
Selbsttötung – Für und Wider
Fragwürdiges Erlösen vom Leiden
Patientenverfügung und Hospiz als mögliche Auswege
Geld oder Leben?
Kapitel 4 Warnende Beispiele aus anderen Ländern
Vorreiter der Liberalisierung
Mögliche Folgen für Österreich
Tötung ohne Zustimmung – vor allem bei Demenz und Koma
Sterbehilfe bei Kindern
Mobile Sterbehilfe
Die Gefahr der Entkriminalisierung der Sterbehilfe
Kapitel 5 Wohin geht die Reise?
Was alles passieren könnte – reale Gefahren oder Utopie?
Pensionisten werden Rechte aberkannt
Selbsttötungstablette für alte Menschen
Leben mit Ablaufdatum
Fristenlösung für alte Menschen?
Kapitel 6 Ergebnis – Forderungen an den Gesetzgeber
Nachwort
Dank
Anhang
Text des Urteils des österreichischen Verfassungsgerichtshofs
Die Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts und die Reaktionen darauf
Stichworte- und Personenregister
VORWORT
Am 11. Dezember 2020 hat der Verfassungsgerichtshof eine Grundsatzentscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Strafbarkeit der Sterbehilfe getroffen und Teile des § 78 StGB aufgehoben. Gleichzeitig hat er eine Frist für das Außerkrafttreten gesetzt, die am 31. Dezember 2021 endet.
Im Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes finden sich wichtige grundrechtsdogmatische Positionen, die in Weiterentwicklung bisheriger Ansätze in der Judikatur formuliert wurden. Grundlegende Aussagen zur Maßgeblichkeit eines freien selbstbestimmten Willens und zur Bedeutung palliativmedizinischer Versorgung sind in der Begründung enthalten.
Unmittelbar nach der Veröffentlichung der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes hat eine intensive rechtspolitische Diskussion über die Neuregelung der Beihilfe zum Suizid eingesetzt. Gerade weil diese Frage Grundfragen des Menschenbildes wie des gesellschaftlichen Zusammenlebens in einer Demokratie berührt, ist die Aufbereitung der Entscheidungsgrundlagen des Gesetzgebers von höchstem Wert.
Ivo Greiter liefert mit dem vorliegenden Band einen wesentlichen Beitrag zu einer sachlichen rechtspolitischen Diskussion über die Regelung der Sterbehilfe durch den Gesetzgeber. Er gibt das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 11. Dezember 2020 im vollen Wortlaut wieder, analysiert es und beleuchtet die durch die Aufhebung von Teilen des § 78 StGB herbeigeführte Rechtslage.
Er stellt die Reaktionen auf das Erkenntnis in der öffentlichen Diskussion dar und diskutiert mögliche Missbrauchsszenarien. Daran anschließend und darauf aufbauend benennt er verschiedene Herausforderungen für den Gesetzgeber, um dann sehr konkret auf mögliche Gefährdungslagen einzugehen. Hinweise auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und eine rechtsvergleichende Betrachtung der Entwicklung in Deutschland im Gefolge der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 runden das Werk ab.
Ivo Greiter hat dieses Buch vor dem Hintergrund einer jahrzehntelangen anwaltlichen Berufserfahrung verfasst, die ihn immer wieder auch in das Ausland führte und die ihn nun aus einem reichen Erfahrungsschatz schöpfen lässt. Er war führend in verschiedenen juristischen Berufsvereinigungen tätig, hervorgehoben seien seine Funktionen als nationaler Präsident für Österreich in der World Jurist Association (Washington) oder seine Funktion als Vorstandsvorsitzender der europäischen Vereinigung der Schadenersatz-Juristen für Österreich (PEOPIL).
Große Verdienste hat er sich als jahrzehntelanger Vizepräsident des Österreichischen Juristentages von 1992 bis 2015 erworben. In dieser Zeit konnte ich Ivo Greiter in seinem Einsatz für die sachkundige Fortentwicklung des Rechts kennen und schätzen lernen; der vorliegende Band steht stellvertretend für sein unermüdliches Eintreten für qualitätsvolle Gesetzgebung. Dem Buch ist zu wünschen, dass es viele informierte und aufmerksame Leserinnen und Leser findet, die ihrerseits mit ihrer Meinung zur Diskussion um die Fortentwicklung des Rechts beitragen!
Wien, im September 2021
Univ. Prof. DDr. Christoph Grabenwarter
Präsident des Verfassungsgerichtshofs
EINLEITUNG
Am 11. Dezember 2020 hat der österreichische Verfassungsgerichtshof entschieden, dass die Beihilfe zum Selbstmord nicht mehr bestraft wird. Das Erkenntnis tritt mit 31. Dezember 2021 in Kraft.
Der Gesetzgeber steht nun vor der Aufgabe, ein Gesetz zu erlassen, welches den Missbrauch der Beihilfe verhindern soll. Vom Inhalt des Gesetzes, das die Details der Durchführung der Hilfe bei einer Selbsttötung regeln muss, wird es abhängen, ob die Bedenken gegen eine solche Freigabe ausreichend berücksichtigt wurden.
Ziel dieses Buches ist es, das Bewusstsein für dieses hochsensible Thema bei den beteiligten Politikern zu schärfen. Weiter ist es mein Anliegen, die Bevölkerung und jeden Einzelnen darauf aufmerksam zu machen, dass es sich bei diesem Thema um eine Grundfrage unserer menschlichen Existenz handelt. Und dass jeder Missbrauch des vorliegenden Erkenntnisses ausgeschlossen werden muss!
In diesem Buch finden Sie viele Beispiele, in denen die vielfältigen Möglichkeiten eines Missbrauchs aufgezeigt werden. Ich möchte damit auf die Gefahren hinweisen, die uns allen nach dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs bald drohen könnten.
Österreich und letztlich die ganze Welt stehen vor einer der Kernfragen unserer Existenz: Soll die sogenannte „aktive Sterbehilfe“ erlaubt sein oder nicht.
Noch eine persönliche Anmerkung: Seit Jahrzehnten beschäftige ich mich mit dem Thema Tod. Meine Vorträge und Veröffentlichungen seit den 70er Jahren zum Thema Sterbehilfe und Fristenlösung fanden auch in der vorliegenden Publikation ihren Niederschlag. Das Risiko, dass sich viele Argumente für die Abtreibung leicht auch auf alte Menschen übertragen lassen, wurde von mir in der Wochenzeitung „Die Furche“ vom 6. August 1992 unter dem Titel: „Eine Fristenlösung für Alte?“ abgehandelt. Ein Ergebnis der Beschäftigung mit der Thematik des Todes war auch das Werk: „Endtag – Wenn jeder weiß, wann er stirbt“, ein Szenario zum Thema Tod, erschienen im Tyrolia Verlag 2012. In dem Werk „Schmerzengeld für Trauer“, erschienen 2016 im Verlag Österreich, werden 162 Gerichtsurteile für Angehörige von Unfallopfern und Schwerverletzten für Rechtsanwälte, Richter und Versicherungen analysiert.
Innsbruck, im September 2021
Dr. Ivo W. Greiter
Rechtsanwalt in Innsbruck
Anmerkung: Im Sinne einer besseren Lesbarkeit gelten männliche Bezeichnungen in gleicher Weise für Frauen, wie weibliche Bezeichnungen in gleicher Weise für Männer gelten.
Kapitel 1
DAS URTEIL DES VERFASSUNGSGERICHTSHOFS
Strafdrohung der Hilfe beim Selbstmord aufgehoben
Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hob am 11. Dezember 2020 die Strafbarkeit der Hilfe beim Selbstmord auf.
Nun wird es in Österreich also bald möglich sein, sich mit Hilfe eines Dritten (nicht durch einen Dritten) selbst zu töten. Dieser Schritt stellt einen Paradigmenwechsel in Österreich dar. Zuvor wurde heftig darum gestritten, ob die Beihilfe zum Selbstmord unter Strafe gestellt bleiben solle oder nicht. Hitzige Debatten wurden geführt, viele Für und Wider ins Treffen geführt, die Bevölkerung schien gespalten.
Schließlich musste der Verfassungsgerichtshof eine Entscheidung treffen. In seinem Erkenntnis hob er die bisherige Bestimmung zur Mithilfe beim Tod eines Sterbewilligen im Text des § 78 des österreichischen Strafgesetzes („wer ihm am Selbstmord Hilfe leistet, ist … zu bestrafen“) als verfassungswidrig auf.
Bis zu diesem Erkenntnis des VfGH lauteten die Bestimmungen des Strafgesetzbuches wie folgt:
„Mitwirkung am Selbstmord
§ 78. Wer einen anderen dazu verleitet, sich selbst zu töten, oder ihm dazu Hilfe leistet, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.“
Die Wortfolge „oder ihm dazu Hilfe leistet“ wurde demnach aufgehoben.
Der Gesetzgeber hat nun bis 31. Dezember 2021 Zeit, Gesetze zu erlassen, die die Voraussetzungen für die straffreie Hilfe genau formulieren.
Die Verfassungsrichter haben es sich nicht leicht gemacht, hat doch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bereits seit Jahren das Recht auf Beendigung des eigenen Lebens als Menschenrecht anerkannt:
Der EGMR hat abermals [2011] in einem Streit um Beihilfe zum Suizid entschieden, dass ein Staat nicht zu Selbstmord-Beihilfe verpflichtet ist. Die Straßburger Richter wiesen dabei die Klage eines Schweizers ab, der wegen einer psychischen Erkrankung seinem Leben ein Ende setzen wollte … Die Ärzte hätten sich jedoch geweigert, ihm das dafür notwendige Mittel P. zu verschreiben. Auch die Behörden und schließlich das Schweizer Bundesgericht wiesen seine Klage zurück. Daraufhin legte er Beschwerde beim EGMR ein … Der EGMR entschied, dass ein Mensch frei über die Art und den Zeitpunkt seines Todes selbst entscheiden könne. Allerdings gebe es keine ‚positive Verpflichtung‘ eines Staates, eine tödliche Medikamentendosis zur Verfügung zu stellen … Das in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerte Recht auf Leben bedeute für die Staaten auch die Pflicht, Regelungen dafür zu treffen, dass die Entscheidung, das Leben zu beenden, wirklich dem freien Willen des Betroffenen entspreche.1
Doch was ist eigentlich „Beihilfe zum Selbstmord“ im Sinne des Urteils des Verfassungsgerichtshofes? Ein konkretes Beispiel soll dies veranschaulichen: Ein Dritter durfte jetzt und früher nicht selbst Hand anlegen, um eine tödliche Spritze zu verabreichen. Er darf künftig aber eine tödliche Spritze vorbereiten. Die Spritze muss sich der Sterbewillige aber selber geben, die Tötung muss er selbst vollziehen. Der Dritte darf auch eine tödliche Tablette besorgen. Aber die Tablette einnehmen muss der Sterbewillige selbst.
Im Rahmen der Sterbehilfe gibt es vier unterschiedliche Ausgangsfälle:
a. Aktive Sterbehilfe: Das ist die absichtliche Herbeiführung oder Beschleunigung des Todes durch den Begleiter. Beispiel: Der Begleiter verabreicht dem Sterbewilligen eine tödliche Spritze. Also der Begleiter tötet. Das bleibt nach wie vor strafbar. Daran ändert auch das Urteil des Verfassungsgerichtshofs nichts.
b. Sterbehilfe als Beihilfe zum Selbstmord: Der Begleiter leistet Hilfe zur Selbsttötung. Beispiel: Bereitstellung des tödlichen Medikaments in einem Glas Wasser. Der Sterbewillige trinkt selbst und bewusst das tödliche Wasser. Ausschließlich solche Fälle wurden durch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs ab 1. Jänner 2022 straffrei gestellt.
c. Indirekte Sterbehilfe: Der Arzt oder der Begleiter verabreicht schmerzlindernde Mittel unter Inkaufnahme der Lebensverkürzung. Beispiel: Verabreichung von Morphium zur Schmerzlinderung oder Schmerzunterdrückung. Das Leben kann dadurch auch verkürzt werden.
d. Passive Sterbehilfe: Diese geschieht durch Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen. Beispiel: Verzicht auf künstliche Ernährung, Verzicht auf künstliche Beatmung, Verzicht auf einen Herzschrittmacher. Wenn der Sterbewillige diesen Verzicht will, sind sowohl der Arzt als auch der Begleiter des Sterbewilligen daran gebunden. Diese Wünsche werden oft durch eine Patientenverfügung des Sterbewilligen nachgewiesen und sind unbedingt zu erfüllen.
Das Erkenntnis des VfGH bezieht sich nur auf die Beihilfe zum Selbstmord (Punkt b). Alle anderen Punkte (a, c und d) bleiben davon unberührt.
Ausschließlich die Strafe für die Hilfeleistung beim Selbstmord wurde beseitigt. Eine Verleitung zum Selbstmord im Sinne des § 78 des Strafgesetzbuches bleibt jedoch weiterhin strafbar. Denn die Entscheidung, sich selbst zu töten, genießt nur dann Grundrechtsschutz, wenn diese Entscheidung auf einer freien und unbeeinflussten Entscheidung fußt. Diese Voraussetzung ist bei einer Verleitung zum Selbstmord nicht gegeben. Ebenso bleibt § 77 StGB („Tötung auf Verlangen“) von der Entscheidung des VfGH unbeeinflusst und damit weiterhin strafbar. In seinem Erkenntnis (den gesamten Text der Entscheidung finden Sie im Anhang des Buches) geht der österreichische Verfassungsgerichtshof unter den Ziffern II und III ausführlich darauf ein, warum die Tatbestände „Verleitung zum Selbstmord“ und der „Tötung auf Verlangen“ weiter strafbar bleiben sollen.
Eine Klarstellung: In diesem Buch bedeuten die Worte Selbstmord, Suizid und Selbsttötung alle dasselbe. Auch die Bezeichnungen Sterbehilfe, assistierter Selbstmord, assistierter Suizid und assistierte Selbsttötung bedeuten dasselbe. Und auch Beihilfe, Mithilfe und Mitwirkung bedeuten dasselbe.
Reaktionen auf das Urteil
Persönlich habe ich große Bedenken bei der Beseitigung der Strafbarkeit an der Hilfeleistung am Selbstmord. Dies vor allem wegen der vielfältigen Möglichkeiten des Missbrauchs. Der Missbrauch ist eines der wesentlichsten Argumente für jene, die die straflose Beihilfe ablehnen. Viele befürchten auch, dass der Weg vom „freiwilligen“ Suizidentschluss zur organisierten Tötung nur ein kurzer ist, der kaum kontrolliert werden kann. Wegen dieser Unsicherheit hätten sich viele die Beibehaltung der Bestimmung über die Strafbarkeit der Beihilfe gewünscht.
Zudem wurde durch diese Entscheidung ein Tabu beseitigt, wonach kein Mensch über das Leben eines anderen entscheiden darf. Es wird jetzt wesentlich von den zu erwartenden Gesetzen abhängen, ob der von vielen befürchtete Missbrauch bei der Beihilfe ausgeschlossen werden kann.
Was für das Urteil spricht
Es gibt durchaus Punkte, die für eine erlaubte Hilfe beim Selbstmord sprechen. Es geht dabei um Situationen, in denen der Wunsch zu sterben, und zwar meist möglichst schnell zu sterben, verständlich ist:
•Wenn das Leben nur mehr auf eine hoffnungslose Verlängerung des Sterbevorganges hinausläuft,
•wenn die Angst wächst, sich selbst nicht mehr töten zu können und auf Dritte angewiesen zu sein,
•wenn der körperliche oder psychische Schmerz so groß ist, dass er nicht mehr bewältigbar scheint, wenn als einziger Ausweg nur mehr der Tod gesehen wird.
Viele, die sich für den Tod auf Verlangen einsetzen, sind von bestem Willen und besten Absichten getragen. Sie können das eigene schmerzvolle Leben oder das eines Angehörigen nicht mehr ertragen und wünschen ihm einen schnellen erlösenden Tod, unabhängig davon, ob der Angehörige das tatsächlich will.
Besonders erfreut über das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs sind naturgemäß alle, die dazu eine Beschwerde eingebracht hatten. Ebenso erfreut waren die, die sich bei den Meinungsumfragen für eine „Liberalisierung“ des Sterbens ausgesprochen hatten. Ich nehme an, dass den meisten zum Zeitpunkt der Befragung die Möglichkeiten des Missbrauchs kaum bewusst waren. Im Vordergrund stand in der öffentlichen Diskussion meist die Möglichkeit, sich für einen schnellen und schmerzlosen Tod zu entscheiden und diesen sodann nach eigenen Wünschen abzuwickeln.
Ablehnende Stimmen
Sehr enttäuscht äußerten sich etliche Vertreter von Glaubensgemeinschaften. Von christlichen Kirchen kamen zur neuen Gesetzeslage sehr kritische Stellungnahmen. Man befürchtete, dass die Zahl der Selbstmorde durch die Straflosigkeit der Beihilfe ansteigen wird. Ob und wieweit diese Befürchtungen gerechtfertigt sind, wird sich nach Veröffentlichung der nun zu beschließenden Gesetze zeigen.
Abgelehnt wurde die Liberalisierung des assistierten Suizids beispielsweise von Kardinal Christoph Schönborn. Katholische Stimmen sprachen gar von einem „Kulturbruch“ und warnten vor einer Abkehr vom prägenden Bild Kardinal Königs, wonach Menschen „an der Hand und nicht durch die Hand“ eines anderen Menschen sterben sollten.
Ausführlich reagierte der Innsbrucker Diözesanbischof Hermann Glettler im Live-Chat der Tiroler Tageszeitung, nach dessen Meinung der Wunsch, sterben zu wollen, meist aus einer Ausweglosigkeit und Verzweiflung heraus entstehe. In einem solchen Moment brauche es menschlichen Beistand und nicht Hilfestellung zur Selbsttötung. Zudem hätten drastisch geschilderte Extremsituationen die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs nahezu erzwungen. „Wir dürfen den konkreten Menschen nicht aufgeben, auch wenn er sich selbst aufgegeben hat.“2
In einem Gastkommentar in der Tiroler Tageszeitung führte er näher aus:
„Ziemlich beste Freunde. Es ist ein Film, der an Humor und sozialer Anstiftung zum Guten kaum zu überbieten ist. Der querschnittgelähmte Philippe Pozzo di Borgo, auf den sich der Film bezieht, äußerte sich nun in der aktuellen Euthanasie-Debatte: ‚Nach meinem Unfall, als ich keinen Sinn im Leiden sah, hätte ich Euthanasie gefordert, wenn sie angeboten worden wäre. Ich hätte mich freiwillig der Verzweiflung hingegeben, wenn ich nicht in den Augen meiner Betreuer und meiner Verwandten einen tiefen Respekt vor meinem Leben gesehen hätte. Ihre Rücksichtnahme war das Licht, das mich davon überzeugte, dass meine eigene Würde intakt ist.‘
Dieses Licht ist entscheidend, auch wenn in extremen Leidsituationen der Wunsch zu sterben verständlich ist. Die Antwort darauf fordert ein Plus an menschlicher Zuwendung und nicht eine kalte ‚Lösung‘. Nicht nur Pozzo di Borgo, unzählige Betroffene sind dankbar, dass sie begleitet wurden. Ein Suizid hat fast nur mit Verzweiflung zu tun, nicht mit Freiheit. …“
Auch wenn es „für den Einzelnen Momente einer echten existenziellen Erschöpfung geben kann“, habe der Begriff der Selbstbestimmung seine Grenzen, betonte der Bischof. Offen sei zudem, in welchen Fällen künftig eine assistierte Selbsttötung erlaubt sei und in welchen Fällen nicht. „Die noch geltende Gesetzeslage hätte vollkommen ausgereicht, um durch Patientenverfügung und andere Instrumente uns allen ein Sterben in Würde auch rechtlich sicherzustellen“, konstatierte der Innsbrucker Bischof.3
Im April 2021 äußerte sich Bischof Glettler zur Aufhebung des Verbots der Strafbarkeit durch den Verfassungsgerichtshof:
„Die höchstgerichtliche Freigabe der Beihilfe zur Selbsttötung hat mich sehr enttäuscht. Nicht nur seitens der Kirche ist die Sorge sehr groß, dass damit der Suizid als ‚gute Option‘ salonfähig wird, keineswegs nur am Lebensende mit einer unheilbaren Erkrankung. Ich denke an die klaren Mahnungen, die von der Ärztekammer, von der Hospizvereinigung und vielen anderen kommen. Sie alle warnen. Es braucht auch in Zukunft menschliche Nähe und nicht Hilfe zur Selbsttötung.“4
Dass vor allem die christlichen Kirchen die Entscheidung des VfGH sehr kritisch sehen, ist nachvollziehbar, aber es sind eben nicht alle Staatsbürger Christen. Und nicht alle christlichen Entscheidungen sind konform mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), siehe etwa das Verbot der Zulassung von Frauen zum katholischen Priesteramt (im Widerspruch zum Diskriminierungsverbot Art 14 EMRK).
Innerhalb der evangelischen Kirche sind die Meinungen nicht einheitlich. In einem ganzseitigen Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 11. Jänner 2021 sprachen sich Isolde Karle, Reiner Anselm und Ulrich Lilie dafür aus, im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben auch in kirchlichen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen Beihilfe zum Suizid anzubieten, falls dies von Patienten gewünscht wird.5
Die Reaktion auf diesen Standpunkt wurde kurz darauf in der Zeitschrift Publik-Forum abgedruckt. Demnach solle Suizid keine normale Option des Sterbens werden, so die Forderung von Wolfgang Huber, ehemaliger Ratsvorsitzender der evangelischen Kirche in Deutschland, und Peter Dabrock, Vorsitzender des Deutschen Ethikrates. Sie sprachen sich gegen assistierten Suizid in kirchlichen Einrichtungen aus.6
Christian Marte, Rektor des Jesuitenkollegs in Innsbruck, sprach sich gegen die Beihilfe zum Selbstmord aus:
„Wer mit Sterben und Tod zu tun hat, weiß, wie wichtig Behutsamkeit, Mitgefühl und Zurückhaltung sind. Besser wenig reden und nur da sein. … Zurückhaltung braucht es auch, wenn es um neue Gesetze zur Sterbehilfe geht. Die liberalen Regeln in den Niederlanden sind attraktiv und passen zu unserem Lebensgefühl. Wir entscheiden selbst, wann und wie wir sterben. … Den Alten und Kranken wird klargemacht: Sie belasten die anderen, auch ökonomisch. Darum meine ich, dass die Tötung auf Verlangen und die Beihilfe zum Suizid nicht erlaubt werden sollen. Wenn wir als Gesellschaft die Tötung von Kranken erlauben, dann wird das ein Geschäftsmodell. Und im Gesundheitswesen wird es nur ums Einsparen hoher Kosten gehen. Was wir brauchen, ist Solidarität mit den Kranken und Sterbenden. Eine gute Palliativversorgung. Gute Hospize.“7
Doch auch abseits der Kirche gibt es kritische Stimmen. So betrachtet die Präsidentin des Österreichischen Seniorenbundes Ingrid Korosec das Urteil des Verfassungsgerichthofes mit Sorge. Sie respektiere es, befürchte aber, dass durch die Lockerung der Schutz der Schwächsten unserer Gesellschaft ins Wanken gerate und der Druck auf ältere oder schwerkranke Menschen steigen könnte:
„Künftig wären diese Menschen auf einmal in der Defensive und müssten sich rechtfertigen, wieso sie weiterleben wollen.“8
Herbert Pichler, der Präsident des Österreichischen Behindertenrates, berichtete, dass er schon öfter, und zwar noch vor dem Erkenntnis des österreichischen Verfassungsgerichtshofs vom 11. Dezember 2020, angesprochen wurde,
„dass er dann ja Sterbehilfe in Anspruch nehmen könne, wenn der Verfassungsgerichtshof nach der Vorstellung der Mehrheit der österreichischen Bevölkerung entscheiden würde. Und er hat auch von anderen Behinderten berichtet, dass diese immer wieder Angst vor dem Hinweis hätten, sie könnten ja dann problemlos Sterbehilfe in Anspruch nehmen, um ihrem Leben ein Ende zu bereiten.“9
Meine Befürchtung dazu: Von solchen Hinweisen ist es nicht mehr weit bis zur Aufforderung, sich „sterben zu lassen“.
Vom 26. bis 30. April 2021 veranstaltete das Justizministerium ein „Dialogforum Sterbehilfe“, an dem 30 Organisationen und Personen teilnahmen. Insgesamt wurden rund 85 schriftliche Stellungnahmen eingebracht, davon rund 50 von Privatpersonen und rund 30 von Einrichtungen und Organisationen, die teilweise auch an den Gesprächen im Dialogforum beteiligt waren. Die Themen des Dialogforums waren vielfältig: Ausbau der Palliativ- und Hospizversorgung, Sicherstellung des freien Willens, wer darf Sterbehilfe in Anspruch nehmen, wie darf Sterbehilfe geleistet werden, wer darf Sterbehilfe leisten, staatliche Überwachung u. v. a. m.10
Einig waren sich die Teilnehmer, dass das Angebot an Hospiz- und Palliativstationen ausgebaut und Aufklärungsgespräche geführt werden sollten. Im Übrigen gab es wenig Übereinstimmung.