Buch lesen: «EMET und andere Geschichten»
Ivana Šojat
EMET
UND ANDERE GESCHICHTEN
Erzählungen
Aus dem Kroatischen von
Elvira Veselinović
1. Auflage 2020
© eta Verlag
Alle Rechte vorbehalten
eta Verlag | Petya Lund
Schönhauser Allee 26
10435 Berlin
www.eta-verlag.de
kontakt @ eta-verlag.de
Titel der Originalausgabe „Emet i druge priče“
Fraktura, Kroatien 2016
Übersetzung: Elvira Veselinović
Lektorat: Anne Grunwald
Gestaltung & Satz: Stefan Müssigbrodt
Titelfoto: Flower Studio / Shutterstock
ISBN 978-3-9820030-8-5
The European Commission's support for the production of this publication does not constitute an endorsement of the contents, which reflect the views only of the authors, and the Commission cannot be held responsible for any use which may be made of the information contained therein.
Ivana Šojat |
EMET
UND ANDERE GESCHICHTEN
EMET
Wenn all deine Lieben gestorben sind, dann denkst du dir, nun ist es vorbei, nun wirst du nie mehr glücklich sein. Nur noch niedergeschlagen. Derlei Gedanken schossen mir bei Papas Beerdigung durch den Kopf. Obwohl der Tag sonnig war, einer von diesen Herbsttagen mit scharfem, kristallgelbem und ungewöhnlich warmem Licht, schien mir alles irgendwie abgedunkelt. Wie im Raucherabteil eines Zuges, der ans Meer fährt – durchs Fenster sieht man den Sommer über die Landschaft fliegen, doch die Augen brennen, und alles ist grau.
Papa ging als Letztes. Vor ihm war Mama gegangen, vor Mama Oma. Opa war vor allen anderen verschwunden. Papa war das letzte Glied in der Kette. Nun gab es nur noch das Haus und mich. Mich und das Haus, das zu erkalten schien. So wie Menschen erkalten, wenn ihr Herz stehen bleibt, zu einem Gegenstand werden, einem nutzlosen leeren Schneckenhaus.
Häuser ohne Menschen verändern ihren Geruch. Sie stinken nach vereinsamten Greisen mit gegerbter Haut, die keine Lust haben, sich zu waschen, sondern nur im Sessel sitzen und auf den Tod warten wie auf den Zahnarzt, etwas Schlimmes und Schmerzhaftes, vor dem sie nicht fliehen und das sie nicht vermeiden können.
Mamas Tod war für mich am schmerzhaftesten. Vielleicht wegen ihrer Gebärmutter, da die Möglichkeit, an den Ort meiner Entstehung zurückzukehren, mir nun selbst für die Symbolik des gleichlautenden Fluches verwehrt blieb. Niemand konnte mich mehr, wie in unserer Sprache üblich, in die Möse meiner Mutter zurückwünschen. Damit tröstete ich mich und versuchte mich durch die eigene Minitragödie zum Lachen zu bringen.
Nach Mamas Tod kamen mir kleine Nacktschnecken in den Sinn. Als kleines Mädchen war ich überzeugt, das seien gewöhnliche Schnecken beim Umzug von einem kleineren in ein größeres Haus, in jene leeren, gespenstisch weißen Schneckenhäuser, die ich im Sommer inmitten der Schwertlilien am Brunnen fand. Ich erinnere mich, wie ich im Schatten von Papas Schuppen saß, an der feuchten Erde roch, die sich mit den Sägespänen angefeuchteter Bretter mischte, und mir meine Mutter vorstellte, ihren in Auflösung befindlichen Körper, wie er zum Anfang zurückkehrte. Ich verspürte Übelkeit, die sich wie Elektrizität in meinem ganzen Körper ausbreitete. Vor meinen Augen erschien ihr Gesicht in seiner unterirdischen Form, verwandelt, auf einem weißen Seidenkissen, violette Blutergüsse, aufplatzende, schrumpelige Haut, ein Mund, der sich zu einem dauerhaften Lächeln verformt. Wie im Traum versuchte ich dann krampfhaft, meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes umzulenken, auf ihre Hände; Hände sind weniger schlimm, sagte ich mir. Aber dann fielen mir ihre Hände ein, die einen Suppentopf trugen und ihn auf den Tisch stellten. Vor meinen Augen erschienen ihre zu wurmstichigen Harken verformten Hände, und mir wurde noch übler. Es gab kein Entrinnen vor dem Schrecken.
Ich weiß nicht, warum andere Menschen weinen, wenn ein Angehöriger stirbt. Ich weiß nicht, ob sie so denken wie ich. Manche vielleicht. Oder es ist nur die Leere, die sie bedrückt. Papa weinte wegen der Einsamkeit. Wir sprachen nicht, ich fragte ihn nicht. Ich sagte ihm nicht, was ich fühlte. Ich kämpfte mit mir selbst. Im Hof. Das trockene Laub erstickte das Gras, sie starben gemeinsam. Wie in einer Umarmung. So wie ein Selbstmordattentäter die Unbeteiligten mitnimmt in sein eigenes Martyrium. Und dann begriff ich: Leben und Tod knüpfen aneinander an. Ich wollte Papa sagen, dass Mama sich in eine Zypresse oder in Hauswurz verwandeln würde, in etwas Lebendiges, ihr Nahestehendes, was sie aufsaugen und dann durch die Baumkrone bis in den Himmel heben würde. Er hörte mir nicht zu. Ich sprach ihn nicht mehr an. Jetzt tat er mir irgendwie leid. Ich hätte hartnäckiger sein sollen.
Papas Tod haute mich vollends um. Ich verlor den Faden, versank in Amnesie, in völliger Antriebslosigkeit, ohne die Orientierungspunkte, die dem Menschen nachträglich helfen, sich an einen bestimmten Zeitabschnitt zu erinnern.
Ich glaube, dass ich nach Papas Tod jahrelang geschlafen habe, lustlos umhergeschlichen bin. Ich weiß es nicht, ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, da mir diese ganze Zeit wie ein schaler Traum vorkommt, an den man sich in der Frühe nicht mehr erinnert, obwohl er unendlich währte, die ganze Nacht, bis zum ersten Lichtstrahl.
Nach Papa dachte ich, ich würde nie wieder glücklich sein. Und das traf mich am meisten. So kam ich zu dem Schluss, dass es eigentlich nicht gut ist, zu wissen, was einen erwartet. Alles im Voraus zu wissen bedeutet, sich zu ergeben, sich ins Unvermeidliche zu fügen.
Aber es gibt auch glückliche Tage.
Mama und ich sitzen auf der Veranda und starren auf die Bäume. Auf die Kirschen, die mal beschnitten werden müssten. Die verwilderten Stämme vergessen, Früchte zu tragen, sie werden zu gewöhnlichen Bäumen. Manchmal schauen wir ins Nirgendwo, in einen Raum jenseits unseres Fokus. Und schweigen.
Ich erwähne gegenüber Mama die Dinge nicht, die sie nicht hören möchte. Wir alle haben Dinge, die wir nicht hören möchten. So wie jeder etwas an sich hat, das andere irritiert.
Ich habe noch nicht entdeckt, was genau ich nicht hören möchte. Ich weiß nur, dass ich Mama mit meinen Bildern irritiere. Sie sagt mir, das sei nicht ich, das hätte ich vielleicht werden können, aber ich sei es nicht. Ich irritiere sie, wenn ich sie frage, wie sie wissen kann, wer ich eigentlich bin, wenn ich doch auch keine Ahnung habe, wer sie ist. Ich sage ihr, ich wisse eigentlich nur, dass sie meine Mutter ist, wie sie in der Rolle der Mutter ist. Ich weiß nicht, was sie für eine Ehefrau war, was für eine Geliebte oder Tochter.
„Das bist nicht du“, wiederholt meine Mutter mit irritierend dumpfer Stimme, wann immer ich ihr einen neuen Engel in Öl auf Leinwand zeige. Manchmal schaut sie mir dabei in die Augen. Meistens starrt sie in die Leere jenseits des Hofes.
„Was bin ich denn?“ Immer gebe ich schließlich nach, beiße mir auf die Zunge, auch wenn ich weiß, dass sie schweigen wird. Mama schweigt sowieso meistens, aber das Schweigen wird, so scheint es mir, noch dichter, wenn ich ihr etwas sage, was sie nicht hören will oder sie frage, was ich bin. Vielleicht, weil ich dann hämisch klinge. Dann sprechen nur ihre Augen, weit aufgerissen brüllen sie. Ihre schönen, eisblauen Augen.
Ihre Augen haben schon vor langer Zeit so aufgeschrien. Als ich ihnen sagte, dass mein Opa zu mir gekommen ist. Andrija. Der, an den ich mich nicht hätte erinnern sollen, der, von dem sie mir erzählt hatten, er sei verschwunden. Menschen sind keine Katzen, sagte ich. Sie schauten mich komisch an.
„Mein Opa ist da“, wiederholte ich entrüstet. Zu jener Zeit schob ich gern meinen Trotz wie einen Pflug durch ihre Ordnung und ihre Regeln, die den Hausfrieden abschirmten wie ein gusseiserner Zaun. Ich glaube, zu der Zeit kam ich in die Pubertät. Oder vielleicht dachte ich das so, weil ich irgendwo gelesen oder gehört hatte, dass die Verschwundenen zu den Kindern kommen, den kleinen Kindern oder den Mädchen, die gerade erst zu Frauen werden. Ich weiß nicht, wann das den Männern passiert und ob überhaupt.
„Opa ist weggegangen“, antwortete Mama mit trockener Stimme, als wäre mein Opa nicht ihr Vater. Ich erinnere mich, sie schaute mir in die Augen wie ein Hypnotiseur.
„Er ist zu mir gekommen.“ Ich erwiderte ihren Blick weiterhin mit Trotz.
Sie schauten mich verwundert an. In der Küche. Der Morgen stob ihnen in die Augen. Oder vielleicht die Skepsis. Ich sagte ihnen, die Holztreppe hätte mich geweckt, jene Holzstufe vor der Luke zum Dachboden. Sie knarzte immer. Ich öffnete die Augen und starrte aus dem Bett auf die weiße Tür. Und auf die Türklinke, die ebenfalls Geräusche machte. Sie quietschte, nur anders: nicht so metallisch, ungeölt wie sonst. Opa tauchte auf. Er blieb in der Dunkelheit des Türrahmens stehen. Er wirkte barock, jetzt weiß ich, dass er barock wirkte. Dann wirkte er nur noch furchtbar. Ich erinnere mich an den Schweiß, der mir den Rücken hinab lief, das Nachthemd durchtränkte, an mein Herz, das in meinen Ohren und Schläfen pochte.
„Du kannst dich unmöglich an deinen Großvater erinnern“, sagte Papa irgendwie leise. Ich beachtete ihn nicht, stattdessen sagte ich, er habe blutverschmiert gewirkt, außer sich, als wäre er einem Hinterhalt entkommen. Ich sagte ihnen auch, er habe nichts gesagt, mich lediglich angeschaut, sehr lange, und sei dann zum Fenster gegangen und habe hindurch gestarrt. Aufs Fenster war das Mondlicht geprasselt, und das Zimmer war mit blauer Luft gefüllt wie mit Wasser. Ich glaube, er hat auch den Schuppen angestarrt, aber ich bin mir nicht sicher. Ich starb fast vor Angst. Schließlich zog ich mir die Bettdecke bis über den Kopf und wartete darauf, dass Opa wegging, dass ich jene Stufe hören und Luft schnappen konnte. Ich erstickte fast unter der Bettdecke, war schweißgebadet, immer stärker roch ich nach Schweiß. Mein Atem stank nach der Leberwurst, die ich zum Abendbrot gegessen hatte. Ich verspürte Brechreiz.
Der Brechreiz kehrte zurück, als ich ihnen von Opa Andrija erzählte. Oma briet gerade Eier fürs Frühstück. In Schmalz. Oma briet immer alles in Schmalz. Sie schaute mich nicht an. Mama winkte nur ab, wie ein Hamster trug sie das Geschirr, von dem wir frühstücken würden, auf dem Tisch zusammen, dazu Brot, Salz, Pfeffer und alles, was man eben so frühstückte. Papa schlürfte seinen Kaffee und starrte auf seine Knie.
Manchmal kam mir der Gedanke, das Glück sei ein kurzlebiges, leicht verderbliches Lebensmittel. Wie Fleischwurst. So sehr ich mich auch bemühte, immer tat ich irgendetwas, was die Glücksmomente unterbrach. Ich wählte die falsche Antwort. Oder ich stellte die falsche Frage. Mama bezeichnet das als Teufel. Sie behauptet, es gebe Menschen, die einen Teufel in sich haben, der die Menschen um sie herum belästigt und an den Rand des Nervenzusammenbruchs treibt. Wegen Mama und dieses Teufels von ihr stellte ich mir Nerven immer als am Rande eines Abgrunds gespannte Saiten vor.
„Geht es dir gut?“, fragt Mama mich schließlich in dem Moment, in dem das Gefühl von Glück und stiller Zufriedenheit greifbar wird. Ich zünde mir eine Zigarette an. Ich sehe ihr dabei zu, wie sie von mir wegsieht. Das nachmittägliche Licht tanzt in den Kronen der Kirschbäume, wie von einem Spiegel vervielfacht. Das war immer so gegen Ende August, wenn das Licht allmählich tiefer stand und Zähne bekam, scharf wurde wie eine Sichel. Vor dem Herbst.
„Ja, mir geht es gut“, sage ich, blase Rauch aus und schaue ihm nach. „Es geht mir wohl gut, ja.“
„Du lügst“, sagt sie. Sie zischt. Als spräche sie mit den Kirschbäumen, oder mit sich selbst. Und alles reißt. Wie die Nähte einer Wunde aufreißen. „Ich weiß, dass du von Wasser träumst.“
Wir schweigen, aber nichts ist mehr so wie zuvor.
Wie gern würde ich sie herausfordern, sie fragen, warum sie immer zu mir kommt und dabei dieses Kleid mit Knopfleiste trägt, an das ich mich nicht erinnern kann, und eine Schürze. Sie sieht aus wie diese alten Bauersfrauen, die samstags Hühner und Hähne schlachten für die Sonntagssuppe und den Braten. Schließlich seufze ich nur, blase Rauch durch die Nase, schere mich nicht um ihren Hinweis auf das Wasser und sage:
„Das habe ich wohl von dir gelernt.“ Ich starre sie an, in Erwartung einer Reaktion.
„Du bist gemein“, sagt sie schließlich leise, durch die Zähne gepresst. Ich schaue ihr weiterhin dabei zu, wie sie von mir wegschaut. Ich bin hartnäckig. Oma pflegte zu sagen, ich hätte einen Blick wie eine Stechfliege. Wenn ich böse bin. Wenn Bienen stechen, sterben sie danach. Stechfliegen stechen langsam und geduldig. Lange. Als würden sie nach Öl bohren.
„Das sagst du immer“, ich bin nicht sicher, ob ich das ausspreche oder nur denke. Meine Gedanken sind manchmal derart laut, dass sie sich anfühlen wie ausgesprochen. Obwohl meine Stimme anders klingt, anders als die Gedanken.
„Ich erinnere mich an die Polizei, an zwei Polizisten ...“
„Daran kannst du dich gar nicht erinnern“, sie schaut mich kurz an. Ihre Augen sind flandrisch blau, wie kurz vor den Tränen. Oder der Wut. Ich weiß nicht, woher sie diese Gewissheit nimmt, Fünfjährige könnten sich nicht erinnern.
Das Haus stank nach Blut. Ich erinnere mich, doch ich sage es ihr nicht.
Danach geht sie immer. Ich frage sie nie, wohin. Habe wohl Angst vor der Antwort.
Ich wüsste nicht, wohin ich gehen sollte.
Manchmal gehe ich, stets auf die gleiche Weise, die braun lackierte Treppe hinab. Im Treppenaufgang ist es immer dunkel. Es gibt keine Lichtquelle: lediglich die Tür meines Zimmers am oberen Ende des Treppenhauses und eine kleine Luke zum Dachboden auf der rechten Seite, irgendwo auf halber Strecke. Ich fürchte mich vor dieser Luke: Auf dem Dachboden leben Mäuse, Ratten, Fledermäuse und die Dunkelheit.
Ich halte mich an der Wand fest. Es gibt kein Geländer. Die Wand ist mit gelber Ölfarbe gestrichen. Damit sie nicht schmutzig wird, wenn ich sie mit den Händen berühre. Damit man sie abwischen kann. Sie sind in der Küche, alle sind in der Küche, ich höre sie. Eigentlich höre ich nur Mama, die hastig spricht, sie erteilt Befehle. Ihre Stimme klingt gebieterisch, wie wenn sie mir sagt, ich solle Eimer und Schaufel wegräumen, denn wenn ich das nicht täte, sie vor dem Schlafen nicht vom Hof holte, würden die Gartenzwerge kommen und sie mir wegnehmen. Gartenzwerge bauen nämlich Tunnel, sagt sie. Sie brauchen Eimer und Schaufel. Sie leben in der Unterwelt, unter unserer, sie kommen nur nachts ans Licht. Deshalb dachte ich lange, Gartenzwerge aus Gips seien die Denkmäler auf den Gräbern echter Zwerge. Deshalb fürchte ich mich vor einigen Höfen.
Alle sind irgendwie verschwitzt. Mama und Oma rinnt der Schweiß vom Hinterkopf. Omas Hinterkopf ist gerötet unter dem grauen Haar, sie ist ganz aus der Puste, während sie mit einem Lappen, vielmehr einem alten Handtuch, das Linoleum wischt. Mama putzt die Tür des Küchenschranks unter der Spüle.
Papa sitzt nur da und raucht, er bläst den Rauch aus und schaut auf das Fenster über der Spüle. Draußen ist es sonnig, die Sonne kreischt durch das Fenster.
Sie schauen mich verwundert an, während ich in die Sonne starre. Ich bin dreieinhalb Jahre alt. Fast dreieinhalb.
Die Küche riecht nach Zitronen, nach gelbem Geschirrspülmittel und nach noch etwas. Ich weiß nicht, was es ist. Vielleicht Angst. Aber ich weiß nicht, wessen.
Einige Monate zuvor hatte Papa im Hof mit Opa Andrija und Freunden ein Schwein geschlachtet. Damals durfte man in der Stadt noch Schweine halten, mästen und schlachten. Ich wollte nicht zuschauen. Ich weinte in der Küche und hörte das Schwein quieken. „So schreit die Angst“, dachte ich mir, vielleicht nicht genau mit diesen Worten. Worte werden mit dem Menschen erwachsen. Ich ging hinaus, als alles fertig war. Der Hof stank nach Blut, nach Schweineblut. Hühnerblut roch anders. Es trug diesen Geruch von Körnerschrot in sich. Schweineblut roch nach Metzgerei. Auf dem Klapptisch im Hof lagen Fleischstücke. Oma schmolz Fett auf dem offenen Feuer und machte Griebenschmalz. Noch Tage danach wollte ich kein Fleisch essen. Fleisch ist totes, verschrecktes Schwein, sagte ich mir.
„Was war los?“, fragte ich schließlich, nachdem ich mit Mühe auf einen Hocker geklettert war. Hocker sind für Erwachsene, nicht für Kinder.
„Nichts“, sagte Mama. Manchmal sagt das auch Oma, während ich mich erinnere. Papa schweigt ständig.
Oma und Mama haben mich dann gefragt, was ich essen will. Aber das ist sowieso nicht wichtig. Hier kommt die Szene stets zum Stillstand.
Und das wiederholt sich unaufhörlich. Ich weiß nicht, wieso. Vielleicht, weil Szenen aus der Erinnerung mit jedem tieferen Eindringen in die Vergangenheit immer kürzer, abgehackter, zeitlich entfernter werden, übertüncht von immer breiteren Landschaften des Vergessens. Wie spärliche Fleischlinien im durchwachsenen Speck.
Fast filmisch, durch Überblendung, sehe ich dann Polizisten. Zwei von ihnen. Einer ist ungewöhnlich groß und dünn, mit Hochwasserhosen. Seine braunen Socken beißen sich mit der grauen Hose der Polizeiuniform. Und seine Schuhe sind schmutzig. Das sticht mir in die Augen. Der andere wirkt normal. Vielleicht, weil er in Zivil ist: ein gelbliches Hemd, unter dem man ein Unterhemd erkennen kann, beige-braune Hose, braune Schuhe. Der Mann in Erdtönen, so nenne ich ihn in Gedanken. Erdtonmenschen bleiben unbemerkt. Er ist weder dick noch dünn. Nur eine Glatze hat er. Und er schwitzt. Wie ein Schwein. Das war eine Redensart meines Vaters: Wenn er schwitzte, wenn ihm heiß war, schwitzte er immer „wie ein Schwein“. Und das fand er lustig. Wie eine Anekdote.
Der glatzköpfige Polizist, ein Kommissar, hat einen Schreibblock und einen grünen Plastikkugelschreiber in der Hand. Der große Dünne mit der zu kurzen Hose spricht ihn voller Bewunderung an: „Genosse Kommissar“ oder „Inspektor Mustapić“.
Der Inspektor schaut dann Papa an, der seine rechte Hand schnell unterm Tisch versteckt, er legt sie sich auf den Oberschenkel. Erst jetzt sehe ich, dass Papa einen Verband an der rechten Hand trägt.
„Sie sind verletzt?“, fragt Genosse Mustapić. Papa schweigt und starrt ihn wortlos an. In dem Moment schien es mir, als fürchte er sich, jetzt glaube ich, dass er eine Antwort suchte. Wie besessen, denn seine Augen weiteten sich.
„Er hat sich geschnitten“, mischt sich Mama schnell ein. „Beim Fischputzen.“
„Sie angeln?“
„Ja“, nickt Papa.
„Welchen Fisch? Ich meine, was für einen Fisch haben Sie ausgenommen?“
„Einen Hecht.“
„Bösartige Zähne“, lacht der Inspektor. Auch Papa lächelt, aber irgendwie säuerlich. Sie schweigen wieder. Das Wasser rauscht, während Oma das alte Handtuch nass macht und auswringt, die Spüle hallt blechern wider.
„Wann haben Sie bemerkt, dass er verschwunden ist?“, fragt schließlich Inspektor Mustapić, sein Stift schwebt über dem Block. Gespannt wartet er, dass ihm jemand sagt, wann derjenige verschwunden ist, um den es hier geht. Ich weiß noch immer nicht, von wem die Rede ist.
„Er war im Zimmer, als ich schlafen ging“, sagt Oma. Der Inspektor macht sich Notizen.
„In welchem Zimmer?“
„Im Wohnzimmer“, Oma zeigt mit der Hand auf die Tür, die ins Wohnzimmer führt. Der Inspektor beugt sich vor und schaut. Der Dünne geht ins Wohnzimmer. Dann kommt er langsam zurück. Es sieht so aus, als schliche er sich heran.
Als wollte er denjenigen überrumpeln, der weg ist, sich aber eigentlich immer noch zusammengekauert im Wohnzimmer versteckt.
„Wann sind Sie schlafen gegangen?“
„Ich weiß nicht, so gegen acht“, Oma schaut zu Mama. Mama nickt. „Ich gehe mit den Hühnern schlafen, wissen Sie“, lacht sie gequält.
Mama fügt schnell hinzu, auch sie sei früh zu Bett gegangen, Papa sei bereits im Bett gewesen, als sie kam. Der glatzköpfige Inspektor feixt und schaut sie merkwürdig an, als sie das Bett und Papa erwähnt. Mama errötet, ihre Stirn glänzt vor Schweiß. Sie sagt, Papa lese viel. Ich wundere mich, dass sie so etwas sagt. Papa nimmt sich höchstens morgens die Zeitung, blättert sie oberflächlich durch, lässt sie auf dem Tisch liegen und geht dann zur Arbeit. Oder in den Schuppen. Papa ist immer im Schuppen, bei den Fahrrädern und Angelruten. Ich hab ihn noch nie mit einem Buch in der Hand gesehen, aber ich halte den Mund. Mich hat sowieso niemand etwas gefragt. Nur der Polizist mit dem Stift lächelt mich ab und zu an und zwinkert mir zu wie einem Vogel im Käfig.
„Und heute früh war er nicht mehr da?“, fragt schließlich der Inspektor.
„Nein, er war nicht mehr da“, antwortet Oma schniefend. Ich weiß nicht, warum sie schnieft. Weder weint sie, noch läuft ihre Nase. Es ist ein trockenes Schniefen.
Dann fragt der Inspektor, ob Genosse Andrija irgendwelche Probleme hatte. Da endlich begreife ich, dass sie über Opa reden, dass Opa als Einziger nicht hier ist. Oma antwortet ihm, Opa sei ein guter und ehrenwerter Mann gewesen, den jedermann stets mochte.
„Warum: gewesen?“, fragt der Polizist sie plötzlich. Er sieht schlau aus wie der Fuchs aus meinem Bilderbuch über den Fuchs und die Hühner und Enten. „Er wird ja wohl zurückkommen.“
„Ja, ja, er wird zurückkommen“, stottert Oma und zerknüllt den Lappen in ihren Händen.
Der Inspektor geht wortlos in den Korridor. Der Dürre rennt ihm hinterher. Die Mütze hüpft auf seinem Kopf. Aus dem Korridor ruft er etwas, er fragt, wessen Schuhe das denn seien. „Welche Schuhe?“, fragt Oma. Mama wird bleich. Ich kann deutlich sehen, wie alles Blut aus ihrem Gesicht weicht, und frage mich nur, wohin dieses ganze Blut verschwindet. Der Inspektor steht im Türrahmen, mit Opas großen Schuhen in den Händen. Mama schaut Papa an. Papa zappelt auf dem Stuhl herum, endlich spricht er. „Meine, das sind meine Schuhe.“ Ich weiß, dass es nicht seine sind. Auch der Inspektor weiß das. Er glotzt auf seine Pantoffeln. Papas kleine, bleiche, knochige Füße stecken in Filzpantoffeln. Auch er ist ein Erdtonmensch. Er trägt immer braun. Sogar sein Schlafanzug ist braun. Genau wie diese karierten Filzpantoffeln.
„Das sind wohl kaum Ihre Schuhe“, sagt der Inspektor mit einem merkwürdigen Lächeln. „Wohl kaum.“ Langsam, verzögert schüttelt er den Kopf, dann verlangt er eine Personenbeschreibung von Opa: Größe, Gewicht, Haar- und Augenfarbe, Gesichtsform, besondere Kennzeichen. Schließlich fragt er nach einem Foto. Oma gibt ihm ein kleines Passfoto.
„Ein großer Mann“, murmelt der dürre Polizist. Mir ist nicht ganz klar, wie er auf dem Foto sehen kann, dass er groß ist. Opa hat einen großen Kopf. Und große Hände.
„Wo hätte er denn ohne Schuhe hingehen sollen?“, fragt der Inspektor meine Oma, er sucht nach ihren Augen. Oma starrt zu Boden, auf den Lappen, den sie in den Händen zerknüllt. Mama sagt ihm, Opa hätte auch Schlappen. Gummischlappen. Der Inspektor geht in den Korridor. Dort stehen keine Schlappen.
Der Inspektor fragt erneut, ob Genosse Andrija irgendwelche Probleme gehabt hätte, Oma verneint dies erneut, sie wiederholt, er sei ein guter Mensch gewesen.
„Opa ist manchmal böse!“, rufe ich von meinem Stuhl und ziehe mir das Kleidchen über die Knie. Alle schauen mich verwundert an.
„Wie, böse?“ Der dürre Polizist kommt zu mir und neigt sich hinunter wie zu einem Zwerg.
„Er schreit!“ Ich schreie, meine Stimme ist piepsig. Ich verschweige, dass Opa manchmal wie ein Maulwurf in mein Zimmer gekrochen kommt. Das ist unser Geheimnis, Geheimnisse muss ich wahren.
„Ach, er lässt sie einfach keine Dummheiten machen“, winkt Mama ab. Ihre Stimme bebt. Sie bemüht sich, sie wieder scharfzustellen, während sie zu mir sagt:
„Los, Lucija, geh raus in den Hof!“ Sie packt mich am Oberarm und zieht mich vom Stuhl, hinaus auf den Hof. Der glatzköpfige Polizist kneift mir unterwegs in die Wange. Seine Finger riechen nach Kugelschreiber und Papier. Ich hasse es, wenn mich jemand in die Wange kneift. Ich mucke auf. Mein Arm schmerzt vom festen Griff meiner Mutter, sie drückt ihre Finger immer fester hinein. Meine Wange prickelt. Es gelingt mir nicht, zu sagen, dass Opa manchmal Oma ohrfeigt, dass er manchmal betrunken nach Hause kommt und ihr alles Mögliche an den Kopf wirft. Dass Oma ihm manchmal sagt, er solle die Kleine nicht anfassen.
„Ich werde dich mitsamt deinem Bastard in Stücke hauen!“ So brüllt er manchmal, und Oma schweigt und stöhnt, sie hält sich die Hand vors Gesicht, und dann schlägt Opa sie auf den Kopf, Rücken, Bauch, überallhin. Ich weiß nicht, wer Omas Bastard ist. Ich weiß gar nicht, was ein Bastard ist.
„Du besoffenes Schwein“, murmelt Oma dann manchmal in der Küche, wenn Opa schon schläft. Sein Schnarchen bringt das ganze Haus zum Beben. Sein Atem klebt an meiner Nase. Während er stöhnt.
All das kommt manchmal zu mir zurück. Wie ein Film. Das versuche ich ihnen zu erklären.
Manchmal steht eine Frau neben mir. Eigentlich steht oder sitzt sie. Manchmal spült sie Geschirr, jedenfalls glaube ich, dass es Geschirr ist, manchmal steht oder sitzt sie einfach nur da und stiert vor sich hin. Ich habe Angst vor dieser Frau. Ich weiß nicht, wer sie ist. Bei meinen Familienangehörigen weiß ich, wer sie sind. Ich rede mir ein, es zu wissen, dadurch ist es leichter, sie zu ertragen und mit ihnen zu leben. Der Mensch gewöhnt sich an alles, mit dem er zusammenleben muss. So wie ich mit meiner Familie. Ich weiß nicht, wer diese Frau ist, die manchmal sozusagen in mein Sichtfeld hineinspaziert, in den winzigen engen nebligen Raum im Augenwinkel. Wie ein Schatten.
Mein Leben ist der reinste Alptraum, sage ich mir manchmal und bereue es sofort wieder. Ich versuche, Ordnung in die Dinge zu bringen. In meinem Kopf schwirrt alles durcheinander. Als wäre ich nirgendwo und nie. So fühle ich mich manchmal. Ich weiß nicht mehr, was vorher war und was nachher.
Manchmal sage ich mir, es sei vielleicht Schizophrenie. Das klingt irgendwie nach Künstler und passt zu mir. Es ist wie eine Erleichterung. Mit einem Wort kann ich alles erklären. Manchmal füge ich auch noch hinzu, wie schwer und kompliziert es ist, zuerst von allen seinen Verwandten Abschied zu nehmen, zu denken, es sei für immer, und sie dann aber wieder bei sich aufzunehmen. Das ist irgendwie verwirrend. Besonders, weil alles weitergeht wie zuvor. Das Schweigen. Das Überspringen irritierender Dinge, als wären sie ein Seil. Oder Stacheldraht.
Oma redet nicht gerne von Opa und dem Seil.
An jenem Abend tat sie so, als ginge sie schlafen. Niemand nimmt ein Seil mit ins Bett. Oma hatte das Seil mitgenommen. Aus dem Schuppen, in dem Papa seine Fahrräder, Angelruten, Blechdosen mit Ködern und Nägeln verwahrte, Bretter, die er noch nie gebraucht hatte, aber angeblich noch gut gebrauchen konnte. Niemand hatte das Seil bemerkt. Auch Oma hatte niemand bemerkt, als sie in den Schuppen ging, den niemand mehr aufsuchte. Nur ich hatte sie gesehen. Ich fragte sie nicht, was sie mit dem Seil vorhatte. Ich hatte mich daran gewöhnt, Erwachsene nicht zu fragen, warum sie etwas taten oder brauchten. Erwachsene hatten immer Recht.
Meinen Eltern, die in meiner Erinnerung gerade fernsahen, wünschte sie eine gute Nacht. Sie schauten sie nicht an, als sie ihnen eine gute Nacht wünschte. Starr vor sich hinblickend wünschten sie ihr ebenfalls eine gute Nacht.
Langsam ging Oma in ihr Zimmer. Sie blieb kurz auf dem Bett sitzen, das unter ihrem Hintern quietschte. Wenn Oma nervös ist, breitet sie sich aus wie eine Glucke. Ich glaube, dass sie die Wand angestarrt hat. Ich weiß nicht, warum sie geweint hat. Eigentlich weiß ich noch nicht einmal, wie ich überhaupt davon wissen konnte. Dann betete sie. Das macht man so vor dem Schlafengehen.
Ganz langsam stand sie auf, zog den Stuhl zum Fenster, warf das Seil über die Gardinenstange und starrte es eine Zeit lang an. Draußen war kein Mond zu sehen. Gar nichts war zu sehen. Nur die dunkle Oberfläche des Fensterglases, das hinter ihr funkelte.
Langsam zog sie die Schlinge über den Kopf und legte sie sich sorgfältig um den Hals, so wie man vor dem Schlafengehen sein Kopfkissen zurechtrückt, damit der Kopf weder zu hoch noch zu tief liegt und man am Morgen keine Nackenschmerzen hat. Dann ließ sie die Arme baumeln, seufzte, schaute noch einmal auf das Fenster, auf sich selbst darin, jenes Abbild, das stellenweise vom Staub an der Scheibe getrübt wurde, und seufzte wieder. „Verzeih mir, mein Schatz“, sagte sie schließlich. „Ich kann mir selbst nicht verzeihen.“ Dann stieß sie wie ein scheuendes Pferd mit dem Fuß den Hocker weg und versank im Nichts.
„Die Gardinenstange hätte brechen können, oder aus der Wand herausgerissen werden“, provoziere ich sie manchmal.
„Gott wollte, dass sie ganz bleibt“, antwortet mir Oma.
„Lässt Gott alles zu, was geschieht?“, frage ich sie. Mir fallen all die hungrigen Kinder ein, Hunde, denen Silvesterknaller in den Mund gesteckt werden, abgefackelte Katzen, geprügelte Frauen. Ich frage mich, ob Gott wie ein Geschäftsführer alles auf der Welt erlaubt oder verbietet.
„Du weißt, dass es nicht so ist.“ Sie äugt zu mir herüber. Sie ist kreideweiß. Deshalb sage ich ihr nie, dass mir in den Sinn gekommen ist, der Teufel habe eigentlich jene Gardinenstange gehalten, damit sie nicht herunterkrachte und Oma daran hängen blieb bis zum nächsten Morgen, bis meine Mutter sie fand. Und schrie. Durch ihren Schrei Papa weckte. Ich habe nicht geschlafen. Ich weiß nicht, warum ich nicht geschlafen habe. Manchmal scheint es mir, als hätte ich einige Jahre meiner Jugend wach verbracht, im Fiebertraum.
Ich weiß nicht, warum ich mich nicht traue, Oma Lucija zu fragen, warum sie sich umgebracht hat. Es ist keine Sache der Rücksichtnahme. Ab einem bestimmten Moment, nach bestimmten Ereignissen hat Rücksicht sowieso keinen Sinn mehr. Oder gute Manieren. Ich glaube, ich fürchte mich vor Omas Antwort. So, wie ich mich vor einem Gespräch mit Opa fürchte.
Ich weiß auch nicht, warum mich Oma immer gefragt hat, weshalb ich angefangen habe Engel zu malen. Wie ein an Alzheimer Erkrankter, gefangen in einem Teufelskreis der Wiederholung.