Buch lesen: «Schrottreif»

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Titel

Isabel Morf

Schrottreif

Kriminalroman

Impressum

Die meisten Schauplätze dieses Romans sind

– mehr oder weniger – authentisch.

Aber die Figuren und die Handlung sind erfunden.

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2. Auflage 2009

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / Korrekturen: Susanne Tachlinski / Katja Ernst

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von muffinmaker / photocase.com

ISBN 978-3-8392-3410-5

Dienstag, 1. Woche

1. Teil

Jetzt reichts, jetzt ermorde ich diese schreckliche Angela, beschloss Valerie Gut. Sie lächelte böse. Und zwar heute Abend. Es war Mitte März, kurz vor 19 Uhr. Draußen dämmerte es. Ein recht milder, frühlingshafter Tag neigte sich dem Ende zu; kaum war die Sonne verschwunden, war die Temperatur empfindlich gesunken. Die Fahrräder waren hineingeräumt. Markus Stüssi, der Mechaniker, und Luís Zafar, der Anlehrling, waren eben gegangen. Valerie warf einen Blick aus dem Fenster. Der Wind trieb einen Papierfetzen vor sich her, eine Passantin zog sich im Gehen Handschuhe über, eine Tram näherte sich vom Bahnhof Wiedikon und nahm mit einem Quietschen die Kurve zur Haltestelle Schmiede Wiedikon. Das war Zürich im Vorfrühling. Valerie schloss die Ladentür ab. Die Fahrradsaison beginnt jedes Jahr eher, dachte sie. Der erste warme Tag des Jahres und schon kamen den Leuten ihre Räder in den Sinn, die in Kellerabteilen überwintert hatten und dringend einer Überholung oder einer Reparatur bedurften. Obwohl, dachte Valerie seufzend, wir doch einen vergünstigten Winterservice anbieten. Aber die Leute konnten natürlich kommen, wann sie wollten. Und ziemlich viele hatten heute kommen wollen. Na ja, gut für den Umsatz. Markus hatte eines der neu eingetroffenen, teuren Mountainbikes verkauft. Nach den Wintermonaten, in denen nicht viel lief, hatte sich Valeries Crew auf die Saison einzustellen begonnen. Das Schaufenster war passend zur Jahreszeit dekoriert: künstlicher Rasen mit Plastikblümchen, darauf ein Rad mit Picknickkorb auf dem Gepäckträger. Aber auf das Schlussbouquet, dachte Valerie, hätte ich gerne verzichten können. Dafür gedachte sie, sich jetzt zu rächen. Endlich. Ein für alle Mal. Sie hatte sich von dieser Frau viel zu viel bieten lassen. Sie ging langsam ins Büro hinunter, dicht gefolgt von Seppli, ihrem kleinen grauen Hundemischling.

Sie starrte auf die weiße Porzellanmöwe, die ihren Schnabel in ein Porzellanrosenblatt tauchte. Es war ein Weihnachtsgeschenk von Luís’ Eltern. Es mit nach Hause zu nehmen, hatte Valerie nicht fertiggebracht. Es wegzuwerfen, ebenso nicht. Also stand der Vogel im Büro auf einem Regal an der Wand und Luís war sehr zufrieden damit.

Eine halbe Stunde vor Ladenschluss hatte Angela Legler das Geschäft beehrt. Angela Legler war eine ihrer Stammkundinnen. Leider. Weshalb, war Valerie ein Rätsel, denn FahrGut war es noch nie gelungen, die Dame zufriedenzustellen. Sie war eine durchtrainierte Person mit ungesund gebräunter Lederhaut, die jedes Wochenende mit ihrem Mann Passfahrten unternahm. Vor einem Jahr hatte sie ein schmales, federleichtes Rad mit allen technischen Schikanen für ihre Bergfahrten gekauft, allerdings in einem langwierigen, für die Gut-Crew aufreibenden und nervenzehrenden Prozess: Die Farbe des Rahmens war eine Nuance zu hell. Beim Pedalen nahm sie ein schwaches schabendes Geräusch wahr. Sie hatte sich überlegt, dass sie doch den schmaleren Sattel wollte. Könnte man nicht, bitte, den anderen Lenker montieren, nur damit sie sah, ob der nicht besser war. Sie hatte aber doch lieber wieder den ersten haben wollen. Und so weiter. Ende letzter Woche hatte sie das Rad gebracht, um das Rücklicht reparieren zu lassen, was Markus am Samstag erledigt hatte.

Valerie hielt sich im Hinterhof auf, als sie hörte, dass Angela Legler im Laden herumschrie. Sie warf einen Blick hinein. Luís hatte der Kundin das Rad aushändigen wollen, worauf sie, nach einem flüchtigen Blick, ausgerastet war und ihn beschuldigt hatte, die Bremse ausgewechselt zu haben. Luís, ein Portugiese, dessen Deutschkenntnisse ausreichten, um die Attacke ungefähr zu verstehen, aber nicht, um sie zu parieren, verwies auf den Mechaniker und brachte sich in Sicherheit. Markus Stüssi wischte sich die ärgste Karrenschmiere von den Händen und schob sich langsam und vierschrötig in den Verkaufsteil des Ladens.

»Ihr habt an meinem Rad die Bremse ausgewechselt!«, tobte Angela Legler, 40-jährig, normal intelligent, von Beruf kaufmännische Angestellte – und jetzt offenbar völlig durchgedreht. Sie wollte die ursprüngliche Bremse, das teure Spitzenspezialmodell, wiederhaben. Sofort. Markus studierte den Reparaturzettel und das Rad eine Weile, betrachtete die Spezialbremse und schüttelte den Kopf.

»Wir haben die Bremse nicht ausgewechselt«, sagte er. »Hier steht: ›Licht reparieren.‹ Das habe ich erledigt. Am Samstag.«

Angela wurde noch wütender und verlangte ihre Superbremsen. Jetzt. Sofort.

Markus zuckte die Schultern. Sagte nichts. Es war offensichtlich, dass er mit dieser Kundin und ihrem Anliegen nichts anzufangen wusste.

Valerie war klar, dass das eine der Situationen war, in denen die Chefin gefragt war. Sie kam herein, Seppli dicht hinter ihr, Angela stampfte ihr entgegen, baute sich vor ihr auf und setzte zu einer Auflistung aller Verfehlungen von FahrGut in den letzten zwei Jahren an. Seppli knurrte leise.

Valerie sah rot. Sie sagte: »Raus! Nimm dein Velo und verschwinde. Definitiv. Die Lichtreparatur ist ein Abschiedsgeschenk.«

Angela holte tief Luft.

»Raus!«, befahl Valerie nochmals etwas lauter. Sie spürte einen Adrenalinstoß durch ihren Körper fahren und dachte: Valerie, gib acht. Sie machte einen Schritt auf Angela Legler zu, und diese wich zwei zurück. Valerie wurde bewusst, dass sie noch immer das Messer in der Hand hielt, mit dem sie draußen Kartonagen zerschnitten hatte.

»Meine Bremse, das werde ich euch heimzahlen!«, stieß Angela hervor, bevor sie ihr Rad packte und machte, dass sie wegkam.

Luís, der Valerie ohnehin bewunderte, applaudierte beeindruckt, während Markus sich ohne Kommentar wieder seiner Reparatur zuwandte. Großartig, dachte Valerie. Sie kannte ihr impulsives Temperament und erlaubte sich nicht mehr als zwei Zornesausbrüche pro Saison unverschämten Kunden gegenüber. Nun hatte sie schon ganz zu Beginn einen davon verbraucht. Zudem kam ihr jene Marketingstudie in den Sinn, gemäß der verärgerte Kunden ihren Frust durchschnittlich bei elf Leuten abluden, während es zufriedenen Kunden reichte, ihre Geschichte viermal weiterzuerzählen. Angela Legler würde die Szene von vorhin vermutlich mindestens 20-mal zum Besten geben.

»Räumen wir zusammen«, wies sie ihre Angestellten an, »es ist gleich halb.« Luís stellte die Fahrräder und den Ständer in den Laden, Markus führte den Diebstahlcheck durch, während Valerie die Kasse übernahm. Der Diebstahlcheck war leider nötig geworden. Seit mindestens einem halben Jahr wurde bei FahrGut regelmäßig geklaut. Mehrmals pro Woche. Immer einzelne Stücke, teures, qualitativ hochwertiges Zubehör. Helme, Schlösser, Sättel. Regenjacken. Es ging ins Geld. Mal 90 Franken. Mal 200. Mal 130. Und nicht nur das. Schlimmer war der unterschwellig allgegenwärtige Argwohn, den Valerie ihren Kunden gegenüber entwickelt hatte, ein leises Misstrauen, wenn sie jemanden bediente, der Gedanke: Bist du vielleicht der Dieb, auch wenn du jetzt so harmlos eine Kinderfahrradglocke kaufst? Wollte jemand dem Geschäft schaden?

»Ein Set Satteltaschen fehlt. 145 Franken«, meldete Markus.

Valerie fluchte. »Und ihr habt beide nichts gesehen?«

Betretenes Kopfschütteln. Sie war ungerecht, Valerie wusste es. Sie hatte ja ebenfalls nichts bemerkt. Seltsam war es schon, dass sogar Dinge verschwanden, die nicht so einfach zu verbergen waren wie Kilometerzähler oder Sport-T-Shirts. Aber Valerie wusste, dass andernorts ganze Musikanlagen aus Geschäften hinausgetragen wurden.

»War Tschudi heute mal da?«, fragte sie.

Luís nickte. Insgeheim hatte Valerie Hugo Tschudi im Verdacht, die Diebstähle zu begehen. Er war Kunde – nun ja, ›Kunde‹ war ein großes Wort. Ein komischer Vogel, fuhr einen Schrottesel, mit dem er wieder und wieder in den Laden kam. Irgendetwas daran zu flicken gab es immer. Aber vermutlich kam er gar nicht deshalb. Hugo mochte um die 50 sein, wirkte ungepflegt, schien nicht zu arbeiten. Er war lang und hager, die meist ungewaschenen Haare hingen ihm ins Gesicht, die Kleider stammten aus dem Brockenhaus, einem Secondhandladen. Irgendwie war er der Zeit in den 70er-Jahren vom Karren gefallen und dort hocken geblieben. Er kam, um Gesellschaft zu haben, um seine Weltanschauung zu predigen – und möglicherweise, um schönes Fahrradzubehör abzustauben und weiterzuverkaufen, mutmaßte Valerie gereizt. Von irgendetwas musste er ja leben. Sie entließ Markus und Luís in den Feierabend und schloss hinter ihnen ab.

Anschließend warf sie einen Kontrollblick auf die Fahrräder, die auf ihre Reparatur warteten. Wieder entdeckte sie eines mit einem schwarz übermalten FahrGut-Sticker. Komisch, dachte sie. Das fiel ihr seit einigen Monaten auf, dass immer wieder Räder in die Werkstatt kamen, bei denen der kleine, grün-weiß gestreifte Werbesticker, der auf dem Schutzblech jedes bei ihr gekauften Velos klebte, unkenntlich gemacht worden war. Valerie hatte die Kunden nie darauf angesprochen. So wichtig war es ja nicht. Sie fand es einfach ein bisschen seltsam. Ging jemand mit einem dicken schwarzen Filzstift durch Zürich, der es auf ihre kleinen Werbebotschaften abgesehen hatte? Der Gedanke war absurd. Und doch. Es gab ja auch jemanden, der klaute. Gab es eine Verbindung zwischen diesen beiden Vorgängen? Gab es eine Person, die etwas gegen FahrGut hatte? – Ach was, Unsinn, rief sich Valerie zur Ordnung. Erst mal war es so, dass sie ein Problem mit jemandem hatte: Angela Legler. Valerie stieg die Gitterwendeltreppe entschlossen hinab in den unteren Stock.

Dort waren die große Fahrradausstellung, die Velobekleidung samt Umkleidekabine, eine Kinderecke und ihr Büro untergebracht. Der Hund folgte ihr, er war ihr immer auf den Fersen. Seinen Pfoten zuliebe hatte sie auf der Metalltreppe kleine Spannteppichstücke platziert. Im Büro startete Valerie Gut den Computer und klickte sich in die Kundenkartei. Gab den Buchstaben L ein. Da war sie. Legler, Angela. Name, Adresse, Telefon, E-Mail-Adresse. Bearbeiten. Markieren. Delete. Gelöscht. ›Ermorden‹ nannte Valerie es, wenn sie einen besonders unangenehmen Kunden aus der Versandliste entfernte. Sie tat es selten. Aber mit Befriedigung. Angela Legler war für sie gestorben.

2. Teil

Im oberen Stockwerk schaute sie sich um. Das war ihr Reich. Seit fast zehn Jahren. Sie war nach wie vor stolz auf diese zweimal 80 Quadratmeter: Werkstatt, Ausstellung, Verkaufsfläche. Geräumig, zweckmäßig eingerichtet, die Produkte vorteilhaft präsentiert. Drei Arbeitsplätze und 3.000 Kunden in der Kartei. Sie schloss hinter sich ab.

Der alte Laden hatte ganz anders ausgesehen. Darin war sie praktisch aufgewachsen. Ihr Vater war Velomechaniker gewesen, hatte eine kleine Bude im Quartier gehabt. Die Mutter hatte ihm ›das Büro gemacht‹, wie man damals sagte. Und für die kleine Valerie war die enge, etwas schmuddelige und nicht sehr helle Werkstatt der spannendste Ort der Welt gewesen. Es hatte dort so viele wunderbare Dinge gegeben: weiches himbeerfarbenes Kugellagerfett und dunkles Grafitfett, in das sie ihre kleinen Hände tauchte; silbern glitzernde Rädchen, Schrauben und Muttern, aus denen sie sich mithilfe von dünnem Draht Schmuck bastelte. Mit altem Werkzeug durfte sie auf zerbeulten Schutzblechen herumhämmern, ausprobieren, ob sie einen kaputten Schlauch wieder dicht bekam. Sie hatte ihrem Vater so oft bei den gleichen Reparaturarbeiten zugesehen, seine Bewegungen beobachtet, wie er das Werkzeug ansetzte – ihr schien es, als habe sie es wie von selbst gelernt. Bevor sie zehn war, konnte sie einen platten Reifen und eine Bremse reparieren, ein Rad zentrieren, Speichen einsetzen. Nach der Schule saß sie zuerst bei der Mutter im Büro und machte Hausaufgaben und anschließend ging sie in die Werkstatt hinüber, wo der Vater sie an schrottreifen Velos herumbasteln ließ.

Valerie nahm den Hund an die Leine und befestigte sie an der Halterung ihres Fahrrads. Sie schob das Rad über die Birmensdorferstrasse, stieg auf und fuhr an der Haltestelle Schmiede Wiedikon vorbei in die Zurlindenstrasse in Richtung Sihl. Seppli zog an der Leine. Sie überquerte den Hertersteig und bog bei der Sportanlage in die Sihlpromenade ein. Dort ließ sie ihn frei laufen. Da sie es nicht eilig hatte, ging sie zu Fuß weiter.

Sie war gerne zur Schule gegangen, hatte gute Noten gehabt. Ihr Vater war stolz auf sie gewesen und hatte gewollt, dass sie aufs Gymnasium ging und studierte. Das hatte Valerie auch gemacht: Betriebswirtschaft und Ökonomie. Sie hatte in einigen Betrieben gearbeitet, in einer Messerfabrik in Delémont das Marketing übernommen, später in der Geschäftsleitung einer kleinen Textilfabrik in Mollis Einsitz gehabt. Ihr Vater hatte gehofft, sie würde in einen großen Konzern eintreten, Karriere machen. Es war für Valerie nicht ausgeschlossen gewesen, diesen Weg einzuschlagen.

Sie lief der Sihl entlang, die träge dahinfloss, schob das Rad neben sich her und schaute ab und zu nach Seppli. Er tobte mit einem anderen Hund herum, mit offenem Maul und fliegenden Ohren. Die Tiere jagten den Sihlhügel hoch und runter.

Dann hatte ihr Vater mit Mitte 60 einen Herzinfarkt erlitten und gleich darauf einen leichten Hirnschlag, von dem er sich nie mehr vollständig erholte. Schnell war klar: Er würde nicht mehr arbeiten können. Plötzlich hatte Valerie gewusst, dass es ihr Spaß machen würde, das Geschäft zu übernehmen. Der Vater war zuerst etwas irritiert gewesen. Hatte seine Tochter an der Universität studiert, um mit Ende 20 das Gleiche zu machen wie er, der gelernte Velomech? Nun ja, es ihrem Vater gleichzutun, hatte Valerie gerade nicht vor, auch wenn sie ihm das natürlich nicht ins Gesicht gesagt hatte. Sie wollte es besser machen. Sie gestaltete den Laden völlig um. Zwischen Werkstatt und Verkaufsteil ließ sie eine Mauer herausbrechen und die dunkle Holzdecke entfernen, sodass der Raum heller, höher, geräumiger wurde und großzügiger wirkte. Sie ließ die Wände neu anstreichen, veränderte die Einrichtung, ging die Produkte durch, warf einiges aus dem Sortiment, führte anderes neu ein, gab dem Geschäft einen Namen, entwarf knackige kleine Inserate für die Quartierpresse und machte nebenher die Fahrradhändlerprüfung.

Im ersten Jahr war sie allein im Laden. Ihr Vater hatte ebenfalls keine Angestellten gehabt, aber die Mutter hatte mitgearbeitet, die Buchhaltung gemacht, sich um Bestellungen gekümmert, geputzt. Valerie hingegen war auf sich gestellt, was ihr anfangs zu schaffen machte. Natürlich ließ sie sich das nicht anmerken. Die Mutter hatte ihr angeboten, weiterhin die Buchhaltung zu übernehmen, aber das wollte Valerie nicht. Es wäre kein richtiger Neuanfang gewesen. Sie wimmelte die Mutter taktvoll ab und diese hatte zudem genug mit der Pflege des Vaters zu tun. Valerie traute sich in der ersten Zeit kaum, aufs Klo zu gehen, fürchtete sich davor, morgens zu verschlafen oder gar krank zu werden. Aber es ging gut. Am allerersten Tag war zwar ihr erster ›Kunde‹ ein Vertreter gewesen, der ihr eine Kaffeemaschine andrehen und sie, als sie ablehnte, zu Jesus bekehren wollte. Sie entkam der Situation elegant mithilfe einer Nachbarin, die ihr gerade im richtigen Moment zur Neueröffnung ein Stück Kuchen vorbeibrachte. Neben der Stammkundschaft aus dem Quartier, die dem Laden treu blieb, zog sie neue Kunden an. Im ersten Sommer arbeitete sie manchmal bis 23 Uhr oder kam am Montag, ihrem freien Tag, für ein paar Stunden. War das zu Zeiten ihres Vaters genauso gewesen? Es war ihr früher gar nicht aufgefallen, wie viel er gearbeitet hatte. Im zweiten Sommer war klar, dass sie jemanden anstellen musste. Nach drei Jahren bewarb sie sich um ein größeres Ladenlokal, ganz in der Nähe, aber in einer besseren Lage, gleich gegenüber der Tram- und Bushaltestelle Schmiede Wiedikon und neben einem Supermarkt, und zog um. Jetzt konnte sie ein breiteres Sortiment führen, mehr Auswahl anbieten, ein größeres Lager haben. Es war nicht mehr so eng zu zweit, und nach einigen Jahren begann sie, einen Anlehrling oder Lehrling auszubilden.

Seppli war verschwunden und tauchte auch nicht auf, als Valerie ihn rief. Das konnte nur eines bedeuten: Er hatte irgendwo im Buschwerk am Hang des Sihlbergs etwas zu fressen gefunden. Wahrscheinlich etwas äußerst Unappetitliches. Hoffentlich nichts, was zudem unbekömmlich war. Sie hatte keine Lust, sich mitten in der Nacht um einen kotzenden Hund zu kümmern. Endlich kam er angeschlichen und sie nahm ihn an die Leine. Sie zerrte ihn mit der einen Hand von einer offensichtlich wunderbar riechenden Stelle weg, während sie mit der anderen ihr Rad schob, und überquerte die Bederstrasse.

Zu Hause duschte sie, schrubbte sich Reste von Karrenschmiere von den Händen, zog sich etwas Bequemes an und warf tiefgefrorenes Gemüse und etwas Rindfleisch in den Wok. Dazu legte sie eine CD ein. Stockhausen. Mit dieser Vorliebe konnte sie in ihrem Bekanntenkreis keine Begeisterung wecken. Aber hier störte es ja niemanden. Valerie lebte seit vier Jahren allein, seit Lorenz ausgezogen war, mit dem sie zehn Jahre zusammen gewesen war. Sie hatte den Gedanken, sich eine kleinere Wohnung zu suchen, aufgegeben und sich großzügig in den viereinhalb Zimmern eingerichtet. Als besonderen Luxus empfand sie ihre Bibliothek. Ins kleinste Zimmer hatte sie alle Bücherregale gestellt, dazu einen bequemen Sessel und eine Stehlampe. Hier verbrachte sie am liebsten ihre Abende, wenn sie nicht ausging oder Besuch hatte. Zum Essen öffnete sie sich ein Bier und schaltete den kleinen Fernseher ein, ohne richtig hinzusehen. Sie hatte keine Lust, an die Szene mit Angela Legler zu denken, und die dissonante Musik von Stockhausen erinnerte sie zu sehr daran. Der Krimi im Fernsehen allerdings brachte ihr die verdammten Diebstähle im Laden ins Gedächtnis zurück und daran wollte sie jetzt genauso wenig denken. Als sie den leeren Teller von sich schob, näherte sich Seppli, der ihre Zeichen zu deuten wusste. Das Tier hatte ein langes Stück robustes Segeltuch im Maul und wollte, dass Valerie am einen Ende zog und er gefährlich knurrend am anderen, dass sie sich dazu im Kreise drehte und Seppli in die Luft gehoben wurde und rundherum flog. Sie tat ihm den Gefallen.

Sie ging, wie meist, früh zu Bett und schlief rasch ein. Plötzlich schreckte sie hoch. Das Telefon. Jetzt? War schon Morgen? Nein, der Wecker zeigte halb drei. Es musste etwas passiert sein. Verschlafen hastete Valerie in den Flur und hob ab.

»Ja, hallo?«

Es blieb still. Falsch verbunden, dachte sie, halb erleichtert, halb empört. Sie fragte nochmals nach: »Was ist denn, wer ist da?«

»Hallo, Valerie«, flüsterte jetzt eine Stimme und kicherte. »Hab ich dich geweckt?«

»Was soll das?«, rief Valerie, plötzlich wach, scharf. »Wer ist da?«

»Das wüsstest du wohl gerne.« Nun war kein Kichern mehr in der Stimme. »Du Miststück. Du wirst noch ganz anders von mir hören. Kannst dich freuen.«

Dann wurde aufgelegt. Valerie saß starr. Was war das? Falsch verbunden war der Typ nicht gewesen, er hatte ihren Namen genannt. War es überhaupt ein Mann gewesen? Nicht eindeutig festzustellen, wenn jemand flüsterte. Vermutlich schon. Woher war der Anruf gekommen? Sie tippte auf dem Display herum, bis sie die Anrufernummer vor sich hatte. Rief die Auskunft an. Aus einer Telefonzelle. Hätte sie sich ja denken können. Aber wie soll man klar denken, wenn man mitten in der Nacht einen Drohanruf erhält? Wer konnte das sein? Jemand, den sie kannte? Kaum möglich. Jemand, der sich irgendeine beliebige Telefonnummer, die einer Frau gehörte, herausschrieb und sich einen Spaß daraus machte, sie zu erschrecken? Oder jemand, der sie kannte? Ein Kunde, der etwas gegen sie hatte? Nein, das war absurd. Der ganze Anruf war absurd.

Valerie vergewisserte sich, dass die Wohnungstür abgeschlossen war. Ab und zu vergaß sie es, sie war keine ängstliche Person. Sie stellte die Lautstärke des Klingeltons auf null und ging wieder zu Bett. Eine Weile lag sie noch wach, bevor die Müdigkeit siegte. Am nächsten Morgen galt ihr erster Blick dem Telefon. Es war kein weiterer Anruf eingegangen. Valerie beschloss, die Sache ad acta zu legen. Lohnte sich nicht, sich wegen eines Spinners aufzuregen. Aber ein ungutes Gefühl blieb.

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