Auf keinen Fall wir

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Kapitel 6

Svens erster Einsatz kommt, wie von Doris angekündigt, in der nächsten Woche auf ihn und damit auch auf mich zu. Es ist Mittwoch. Vor dem Gastvortrag, für den wir Sven brauchen, findet also noch meine Lehrveranstaltung statt. Heute hält die Dumme, die sich ebenfalls um die Hilfskraft-Stelle beworben hat, gemeinsam mit einem Studenten, der ihr in Sachen Intelligenz um nichts voraus ist, ein unendlich schlecht vorbereitetes und viel zu langes Referat, bei dem ich – und mit mir der gesamte Kurs – vor Langeweile fast eingehe.

Ich habe meine Mimik immer gut unter Kontrolle, aber in diesem Fall muss ich wirklich aufpassen, dass sie mir nicht völlig entgleitet. Ich gebe denen jetzt noch drei Minuten. Wenn bis dahin nichts Sinnvolles gekommen ist, werde ich ihnen empfehlen, das Referat abzubrechen. Dieses Gestammel bringt wirklich niemandem etwas. Ja, ich bin einer von den Dozenten, die Studierende auch mal vor dem gesamten Kurs fertigmachen. Wenn sie es verdient haben, zumindest.

Ich versuche, ein Gähnen zu unterdrücken, und fange Svens Blick auf. Er verdreht genervt die Augen. Ich muss grinsen und deute ein leichtes Nicken an. Sven grinst auch, dann schaut er wieder weg – und ich könnte mir in den Hintern treten. Schlimm genug, dass ich ständig zu ihm hinsehen muss, aber dass ich jetzt auch noch anfange, mit ihm über Blicke zu kommunizieren, geht zu weit.

Ich zähle bis zehn, dann räuspere ich mich und sehe die Vortragenden streng an.

»Haben Sie noch etwas Wichtiges zu sagen? Ansonsten können wir das so belassen«, sage ich.

»Ja, also... doch...«, stammelt die Studentin.

»Dann fassen Sie das jetzt knapp und präzise zusammen. Sie haben noch eine Minute.«

Natürlich haben sie nichts Wichtiges zu sagen.

»Das reicht«, erkläre ich deswegen mit schneidender Stimme nach Ablauf der angekündigten Minute. »Ich frage mich, wozu ich Ihnen letzte Woche erklärt habe, worauf Sie bei Ihrem Thema achten sollen, wenn Sie mir offensichtlich nicht zugehört haben und nicht in der Lage sind, den simpelsten Hinweisen zu folgen.«

Die beiden wollen dagegen argumentieren, doch ich würge sie mit einer bestimmten Geste und einem Blick ab, der keinen Widerspruch duldet. Dann erkläre ich meinerseits, was die beiden eigentlich hätten erzählen sollen. So wird die Einheit doch noch ganz gut und es gelingt mir, die Studierenden aus ihrem Tiefschlaf zu holen.

Nach der Lehrveranstaltung rechne ich eigentlich damit, dass Sven auf mich wartet, schließlich hat Doris ihn heute zur Vorbereitung des Gastvortrages verpflichtet. Er packt jedoch seine Sachen zusammen und verschwindet. Das ist ohnehin besser so, denn die beiden Referenten kommen noch zu mir und wollen ihr Versagen ausdiskutieren. Zumindest er will diskutieren, sie steht einen Schritt hinter ihm und sieht mich ängstlich an.

Ich erkläre den beiden noch einmal klipp und klar, dass sie unvorbereitet und ahnungslos waren, dass sie ihr Thema nicht verstanden und auch von den einfachsten Präsentationstechniken offenkundig keine Ahnung haben, dann mache ich mich auf den Weg in mein Büro.

Wieder ist Sven nicht da, wo ich ihn erwarte. Ich hatte eigentlich gedacht, ihn und Doris hier vorzufinden, doch da ist nur Doris.

»Ist Koch nicht da?«, frage ich, als ich mich auf meinen Stuhl fallen lasse.

»Kommt gleich«, antwortet Doris. »Ich habe ihn für halb herbestellt, weil du ja noch Sprechstunde hast.«

Richtig. Sprechstunde. Das nächste Referat besprechen. Wehe, die sind ähnlich inkompetent wie die beiden heute.

Wie sich herausstellt, ist die Studentin, die das nächste Referat hält, dann aber tatsächlich clever und motiviert. So muss ich den Glauben an die Menschheit doch nicht vollständig verlieren.

Gleich nachdem sie das Büro verlassen hat, klopft es und Sven tritt ein. Er muss draußen schon gewartet haben.

»Hallo«, grüßt er brav, als er eintritt, um dann erst mal etwas verloren herumzustehen.

»Hallo«, grüßt Doris zurück.

»Lange nicht gesehen«, rutscht es mir raus.

Svens Blick ruckt zu mir und ein Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus. Es nimmt sein ganzes Gesicht ein, zaubert Grübchen in seine Wangen und ein Blitzen in seine Augen. So habe ich ihn seit Köln nicht mehr grinsen sehen. Und ich reagiere darauf wie in Köln. In meinem Schritt zieht es. Wieder ist in meinem Kopf das Bild von Sven auf meinem Schreibtisch.

Ich atme tief durch und sehe Sven streng, mahnend an. Das Grinsen verschwindet aus seinen Zügen. Schade drum. Aber besser so.

»Danke, dass Sie gekommen sind«, schaltet Doris sich ein. »Wir brauchen Ihre Hilfe bei der Vorbereitung des Raums für den Gastvortrag. Wir müssen überprüfen, ob es genug Stühle gibt, ob Wasser da ist, ob die Technik funktioniert. Und wir müssen das Büfett für nachher aufbauen.«

»Büfett ist übertrieben«, werfe ich ein. »Ein paar Häppchen und etwas zu trinken trifft es eher.«

»Häppchen und Getränke, die wir erst besorgen und anschließend hinüberbringen müssen.«

Ich salutiere ironisch. Für den großen Leitmeier wird ziemlicher Aufwand betrieben. Stehempfang nach Vorträgen ist nicht unbedingt üblich, aber heute besteht Ruth darauf.

»Dann sollten wir wohl aufbrechen, die Uhr tickt. Marsch, Marsch!«, mahne ich zur Eile und übernehme Doris' energischen Tonfall sarkastisch.

Doris verdreht die Augen und Sven schmunzelt ein bisschen, als ich die beiden aus dem Büro scheuche.

Der Einkauf ist schnell erledigt und auch die Getränke und Häppchen auf einem der Tische aufzubauen, dauert nicht lang.

»Könnt ihr noch die Gläser holen?«, fragt Doris an Sven und mich gewandt. Sie ist noch dabei, Kekse ästhetisch zu drapieren. Unnötiger Aufwand, wie gesagt.

»Geht klar«, meine ich, auch wenn ich auf Zeit mit Sven allein nicht unbedingt scharf bin – oder zu scharf, je nachdem, wie man es nimmt. »Kommen Sie, Herr Koch, ich zeige Ihnen, wo die Gläser sind.«

»Okay«, murmelt Sven.

»Und bringt Servietten mit!«, ruft Doris uns noch nach.

Den Weg zu unserem Büro – dort bunkern wir die Gläser – legen Sven und ich schweigend zurück. Es ist ein unangenehmes Schweigen. Ich vermeide es, ihn anzusehen, bin mir seiner Präsenz aber nur zu bewusst. Was muss er aber auch diese Ausstrahlung haben... Wenn ein anderer Typ, den ich in letzter Zeit abgeschleppt habe, plötzlich hier aufgetaucht wäre, wäre die Situation weniger anstrengend. Die waren zwar auch nicht hässlich, aber ganz so sehr wie auf Sven bin ich nicht auf sie angesprungen.

Ich schließe die Bürotür auf und lasse Sven hinein.

»Gläser sind dort unten«, erkläre ich und deute auf das unterste Fach meines Bücherregals, in dem sich einige Kisten stapeln.

Sven steht neben der Tür und rührt sich nicht, sieht mich nur nachdenklich an.

»Was?«, frage ich genervt.

Sven fährt sich nervös durch die Haare. Was um alles in der Welt kommt jetzt? Mutiert er doch zu Christian Bale und holt die Kettensäge hervor? Die müsste aber ganz schön klein sein, in seiner Jeans ist nicht besonders viel Platz. Oder wirft er sich gleich auf die Knie und erklärt mir seine Liebe? Dann doch besser die Kettensäge. Nicht, dass Sven vor mir auf den Knien nicht durchaus seinen Reiz hätte... Ich schweife schon wieder ab. Wieso schweigt er aber auch so lange?

Schließlich gibt Sven sich einen Ruck.

»Stört es dich, dass ich diesen Job habe?«, fragt er.

»Ich habe dir diesen Job gegeben«, entgegne ich nüchtern.

»Ja, aber ich weiß auch, wer meine Konkurrenz war.«

Ich grinse ertappt, versuche aber diplomatisch zu bleiben. »Dazu sage ich besser nichts.«

Sven erwidert mein Grinsen leicht. Offenbar hat er tatsächlich ein ganz gut ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Dann wird Sven wieder ernst. »Was ich eigentlich sagen wollte... Ich hatte den Eindruck, dass es dir nicht gefällt, dass ich mich beworben habe. Und... Also... Wenn...«

Ich unterbreche Svens Gestammel. »Sven, du hast den Job, weil du ihn verdienst. Und wir können wie Erwachsene miteinander umgehen. Es wäre nur besser, wenn die anderen nicht merken, dass wir einander kennen. Und woher.«

»Natürlich«, meint Sven. »Das ist doch klar. Ich bin auch echt nicht scharf darauf, dass alle wissen, dass wir Sex hatten.«

»Gut«, erwidere ich und gehe die paar Schritte zum Bücherregal, um mir ein paar Kisten zu schnappen. »Nimmst du die restlichen?«

»Klar.«

Ich mache Sven Platz und warte an der Tür auf ihn. Sven bückt sich nach den Kisten und für einen Moment habe ich einen fantastischen Ausblick auf seinen Knackarsch. Ob er mir vorhin auch auf den Hintern geglotzt hat? Na, und wenn schon. Nichts, was er nicht schon gesehen hat. Auch wenn ich in Köln auf seinen eindeutig die bessere Sicht hatte.

Der Gastvortrag ist furchtbar. Leitmeier ist mindestens 105 und hält sich für Gott. Er versucht, uns von einer kruden Theorie zu überzeugen, die hinten und vorne keinen Sinn macht und nicht im Geringsten auf fundierten Fakten basiert. Er ist eloquenter als die beiden Idioten vorhin in meiner Lehrveranstaltung, aber fachlich auch nicht besser. Außerdem sind seine Ausführungen total kryptisch.

Ich frage mich, ob irgendwer in diesem Raum diesen Schwachsinn versteht. Vermutlich gibt es da nichts zu verstehen. Dennoch sehe ich nur zum Teil blanke Gesichter. Viele nicken auch zustimmend und schreiben interessiert mit. Klar, wenn der große Leitmeier sich schon dazu herablässt, vor uns zu sprechen, dann muss man jedes seiner Worte aufsaugen. Auch wenn er gequirlte Scheiße redet. Nichts für ungut, aber da bin ich im kleinen Finger besser.

Oder macht der das absichtlich? Das wäre fast schon wieder genial. Wenn ich alt und berühmt bin, werde ich vielleicht auch mit stoischer Miene völlig sinnfreie Vorträge halten und mich innerlich ausschütten vor Lachen über die Idioten, die nichts verstehen, aber so tun, als wären meine Worte die Offenbarung. Das wird ein Spaß!

 

Als der Vortrag endlich vorbei ist, stürze ich mich auf das Büfett, schnappe mir ein Glas Wein und stelle mich dann nach vorne zu Leitmeier, der sich gerade mit Ruth unterhält. Vernetzung ist das A und O in diesem Job. Da darf man nicht zimperlich sein, sondern muss sich in den Vordergrund drängen und zeigen, was man hat. Zaghaft abzuwarten, dass man angesprochen wird, ist so ziemlich das Dämlichste, was man tun kann. Und auch wenn ich ihn grässlich finde: Auf jemanden wie Leitmeier einen guten Eindruck zu machen, kann karrieretechnisch extrem weiterhelfen.

Ich mische mich also möglichst charmant in das Gespräch von Ruth und Leitmeier ein und unterhalte mich eine Weile mit den beiden, gebe mich interessiert an seinen todlangweiligen Anekdoten und erzähle meinerseits von meiner aktuellen Forschung.

Als Leitmeier sich schließlich abwendet, um sich mit Professor Hasslein zu unterhalten, sehe ich mich im Raum um. Am Rand des Büfetts stehen Anna und Fabian bei Doris und Sven. Gerade lachen sie alle, weil Fabian etwas Komisches gesagt hat.

Fabian fängt meinen Blick ein und fordert mich auf, zur Gruppe dazuzustoßen. Brav setze ich mich in Bewegung.

»Hey«, grüße ich, als ich sie erreicht habe, und schenke mir mein inzwischen leeres Glas wieder voll.

»Hallo«, grüßt Fabian, der Rest nickt mir zu. »Doris hat uns gerade Herrn Koch vorgestellt.«

»Aha«, sage ich wenig geistreich.

»Ich finde, wir sollten uns duzen«, meint Anna plötzlich.

»Absolut«, stimmt Fabian sofort zu.

Sven lächelt leicht und nickt – und dann geht das große Händeschütteln auch schon los.

»David«, sage ich, auch wenn es lächerlich ist, als die Reihe an mir ist, und reiche Sven die Hand.

»Sven«, spielt ebendieser mit und nimmt meine Hand.

Sven lächelt und diesmal kann ich nicht anders, ich lächle zurück. Vielleicht als Friedensangebot. Ich glaube, ich halte seine Hand eine Sekunde zu lang. Oder er meine? Schnell lasse ich los und wende mich Doris zu.

»Gehen wir eigentlich noch essen?«, frage ich.

Ich könnte etwas Richtiges zu essen vertragen, nicht nur die paar Kekse und Weintrauben, die Doris so pittoresk arrangiert hat. Ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen und spüre allen Ernstes schon dieses eine Glas Wein. Normalerweise gehen wir immer mit unseren Gästen essen, wenn wir irgendwelche Events veranstalten. Normalerweise haben wir aber auch keinen Stehempfang.

»Ja, ich habe im La Casa reserviert«, antwortet Doris.

»Ruth fährt heute echt das volle Programm auf«, befinde ich.

»Für Leitmeier ist das Beste gerade gut genug.«

»Wie fandet ihr den Vortrag?«, fragt Anna.

»Er hat mich ein wenig an das Referat erinnert, das zwei Studis heute in meiner LV gehalten haben«, erkläre ich nüchtern.

Sven verschluckt sich fast an seinem Wein.

»Ah, ja?«, meint Fabian, scheint mit meiner Aussage aber nicht viel anfangen zu können. »Ich fand das ja einen interessanten Ansatz. Aber irgendwann im zweiten Teil bin ich ausgestiegen, ganz ehrlich.«

Wir rätseln noch ein wenig, was genau Leitmeiers These gewesen sein könnte – auch wenn ich dabei bleibe, dass er keine hatte. Dann wechseln wir zu anderen Themen. Zunächst fragen wir uns, wo Viktoria steckt. Ich habe sie heute noch nicht gesehen, zum Vortrag ist sie auch nicht aufgetaucht. Normalerweise ist das nicht ihre Art, zumal sie auch niemandem Bescheid gegeben hat.

Schließlich landen wir bei dem Thema, bei dem alle Gespräche von und mit Doktoranden unweigerlich landen: Versicherungen und Pensionsansprüche. Der Job ist unsicher und befristet, das Gehalt ist schlecht und Absicherung ist immer ein großes Thema. Vor allem Anna, deren Job bald ausläuft, beschäftigt das momentan sehr. Ich kann es nicht mehr hören.

Als auch dieses Thema abgegrast ist, versucht Fabian, Sven in ein Gespräch über Fußball zu verwickeln. Erfolglos. Es ist ziemlich enttäuschend für Fabian, dass der Lehrstuhl nur aus Leuten besteht, die Fußball dämlich finden. Sven passt, wie sich herausstellt, perfekt dazu. Ich für meinen Teil habe Fußball schon als Kind gehasst. Ich fand generell alle Mannschaftssportarten schon immer ätzend. Ich brauche niemanden, der mit mir in einem Boot sitzt.

Auch wenn es mit Fußball nicht klappt, scheint Fabian weiter Sport als das ideale Small-Talk-Thema zu erachten. »Machst du eigentlich Sport?«, fragt er Sven.

»Wow, Fabian, das ist mit Abstand die dämlichste Frage der Welt«, werfe ich genervt ein. Gut, ich nehme an, dass Fabian Svens Körper nicht ganz so intensiv inspiziert hat wie ich – zumindest will ich das hoffen! –, aber dass er trainiert, fällt doch auch auf, wenn er angezogen ist. Mir ist das sofort aufgefallen. Damals in Köln. »Vom Auf-der-Couch-Liegen wird Sven ja wohl kaum diesen…«

Gerade noch rechtzeitig beiße ich mir auf die Zunge, um nicht von seinem Wahnsinnsrücken zu reden. Den kenne ich offiziell ja nicht. Und interessieren sollte er mich auch nicht. Seinen Knackarsch lasse ich auch besser unerwähnt. Hektisch suche ich nach einem alternativen Körperteil, aber mir kommt als Nächstes nur sein Waschbrettbauch in den Sinn. Der ist auch nicht zu verachten – aber ebenso wenig unverfänglich. Gibt es denn gar keine unschuldigen Körperteile?

»... diese Oberarme haben«, sage ich schließlich.

Ich hoffe, meine Denkpause war nicht allzu lang. Fabian scheint nichts gemerkt zu haben, Sven aber sieht mich mit hochgezogener Augenbraue an. Ich glaube, in seinen Mundwinkeln zuckt wieder dieses Grinsen, das er schon beim Vorstellungsgespräch hatte.

Bevor Fabian etwas auf meinen Ausbruch erwidern kann, sagt Sven diplomatisch: »Nicht mehr so viel wie früher.«

»Was machst du denn?«, will Anna wissen.

»Ich habe geturnt.«

»Wie in der Schule? Reck und Ringe und so?«, fragt Fabian.

Sven grinst schief und nickt. »Ja, hauptsächlich Geräte. Und Boden, das gehört dazu zum Kunstturnen. Manchmal auch Akrobatik, aber nicht auf Wettkämpfen.«

»Du hast das richtig professionell gemacht?«, erkundigt sich Doris.

»Ja.«

»Warst du gut?«, fragt Fabian neugierig.

Auf die Frage zuckt Sven nur mit den Schultern. Sicher war er gut. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er in irgendetwas nicht gut ist. Turner also... Das erklärt seinen Rücken natürlich. Und es erklärt, wieso er sich so geschmeidig bewegt. Wenn ich daran denke, wie beweglich er sein muss... Unwillkürlich gleitet mein Blick über seine breite Brust und dann tiefer. Ich muss schlucken.

»War das nicht wahnsinnig trainingsintensiv?«, hakt Fabian nach.

»Klar. Was glaubst du denn, wieso ich mit 25 erst am Anfang meines Masters bin?«

»Könnte doch auch sein, dass du einfach doof oder faul bist«, antwortet Fabian und lacht.

Sven lacht mit und ich erlaube mir auch ein leichtes Schmunzeln. Ich wünschte, er wäre doof. Doof und faul und hässlich.

»Warum hast du denn aufgehört?«, löchert Fabian weiter. Ganz schön indiskret, der Gute. Aber ich gebe zu, ich bin selbst neugierig.

Wieder zuckt Sven nur mit den Schultern. »Es war einfach vorbei, hatte keine Lust mehr.«

Fabian nickt jovial und scheint ihm das abzukaufen. Damit ist das Thema für ihn abgehakt und er wendet sich wieder Anna zu, die er darüber ausquetscht, wie ihr Fechtkurs läuft. Ich hingegen glaube Sven nicht. Er ist nicht der Typ, der plötzlich einfach so keine Lust mehr hat und Sachen abbricht. Glaube ich. Dabei kenne ich ihn doch gar nicht.

Mit hochgezogener Augenbraue sehe ich ihn fragend an. Sven erwidert meinen Blick nachdenklich. Schließlich schmunzelt er leicht und zuckt noch einmal, diesmal wie zur Entschuldigung, mit den Schultern. Er wird nichts sagen. Und es geht mich nun auch wirklich nichts an.

Ich sehe wieder zu Doris, die schon die ganze Zeit über regelmäßig die Uhrzeit checkt. Sie fängt meinen Blick auf und mahnt prompt: »Wir sollten anfangen aufzuräumen. Wir müssen bald ins Restaurant.«

Da Anna und Fabian diesmal mithelfen, ist alles relativ schnell aufgeräumt. Auch die Gläser sind rasch gespült. Sven und ich bringen sie wieder zurück ins Büro und verstauen sie im Bücherregal.

»Gut, dann... bis nächste Woche«, meint Sven, als er sich wieder aufrichtet.

»Kommst du nicht mit zum Essen?«, frage ich etwas irritiert.

»Bin ich denn eingeladen?«

»Natürlich. Du arbeitest bei uns, du hast mitgeholfen, also kannst du auch mit essen gehen. Wenn du das möchtest.«

»Stört dich das auch nicht?«

»Wieso sollte es?«, frage ich gelassener, als ich eigentlich bin. Denn natürlich finde ich den Gedanken merkwürdig, dass Sven noch mitkommt. Aber schließlich habe ich, als ich mich entschieden habe, Sven den Job zu geben, beschlossen, ihn nicht anders zu behandeln als die anderen. Ihm eine Chance zu geben. »Lass uns das Ganze als Neuanfang sehen. Wir vergessen, was war, und starten noch mal von vorn. Rein professionell, natürlich.«

»Klingt gut«, meint Sven und nickt.

Der Abend wird noch erstaunlich nett. Ich halte mich überwiegend an Ruth und Leitmeier – Mission Karriere ist noch nicht abgeschlossen –, quatsche aber auch mit den anderen.

Die Stimmung an unserem Lehrstuhl ist generell gut und Sven wird sofort integriert. Auch wenn Fabian und Anna manchmal nerven, ist es leicht, mit ihnen auszukommen. Doris ist da mit ihrer strengen, ernsten Art etwas schwieriger, aber auch sie begegnet Sven herzlich und aufgeschlossen. Und selbst mit Ruth, die in ihrer Ruppigkeit oft die Leute verschreckt, scheint Sven eine gute Basis zu finden. Seinem ruhigen Charme kann sich wahrscheinlich niemand entziehen. Auch wenn er nach wie vor nicht wahnsinnig viel spricht und lange nicht so viel lacht wie in Köln, ist er aufmerksam, interessiert und freundlich.

Mir gegenüber verhält Sven sich nicht anders als den anderen gegenüber. Mir wird jetzt erst bewusst, dass das eigentlich total merkwürdig ist. Nicht, weil er mich unweigerlich so scharf finden muss wie ich ihn – obwohl ich nun nicht gerade eine Vogelscheuche bin –, sondern weil es ihm gar nichts auszumachen scheint, dass ich ihn belogen habe, was meinen Job und meinen Namen betrifft. Auch als wir allein waren, hat er das nie angesprochen. Komischer Kerl. Aber es ist ja nur gut, wenn er unseren One-Night-Stand als solchen sehen und ad acta legen kann.

Ich kann das zwar auch, aber trotzdem kann ich nicht verhindern, dass Sven mich weiter beschäftigt.

Als ich nach dem Essen heimkomme, mache ich deswegen etwas wirklich Peinliches: Ich google Sven. Sven Koch ist nun natürlich nicht gerade der seltenste Name, da findet man einige Leute, die mit meinem Sven – Oh Gott, habe ich das wirklich gedacht? Mit meinem Sven?! – nichts zu tun haben. Also muss ich die Suche eingrenzen. Sven Koch Köln ist zu unpräzise. Sven Koch Archäologie bringt mir nur seinen Eintrag auf unserer Institutshomepage, den kenne ich natürlich schon. Mit Sven Koch Turnen habe ich ihn dann aber. Mir werden neben einer Vereinshomepage und Seiten über Sportberichterstattung prompt Videos angezeigt, die Sven bei Wettkämpfen zeigen. Ich klicke das erste an. Und dann bin ich erst mal fassungslos.

Das Video zeigt Sven am Reck. Scheinbar mühelos schwingt er blitzschnell um die Stange, macht die irrsten Drehungen, Salti und Schrauben. Seine Körperbeherrschung ist unglaublich.

Er ist unglaublich.

Nicht einmal der lächerliche – wenn auch knallenge – orange Turndress, den er trägt und der ihm überhaupt nicht steht, kann ihn verschandeln. Damals war er noch ein ganzes Stück jünger als heute, die Gesichtszüge weicher. Gleichzeitig hatte er noch mehr Muskelmasse als jetzt. Dabei finde ich ihn jetzt schon extrem durchtrainiert. Und seine Haare waren anders, wesentlich kürzer. Dass er sie jetzt länger trägt, steht ihm besser. Es lädt dazu ein, die Finger in seinem Haar zu vergraben, ihn daran zu packen und ihn festzuhalten. Nicht, dass ich über so etwas nachdenken würde. Ich denke nie an Svens Haare oder an Sex mit ihm. Ich stalke ihn ja auch nicht und sehe mir Videos von ihm an.

Oh Mann. Ich sollte das echt nicht tun. Aber es ist wie ein Zwang. Ich kann nicht anders.

Als das Video vorbei ist, sehe ich mir das nächste an. Diesmal ist Sven an den Ringen. Das finde ich noch beeindruckender als das Reck. Er bewegt sich hier langsamer, fokussierter. Immer wieder hält er still, verharrt in der Luft im Handstand, schwingt dann weiter. Fast, als würde er fliegen. Ich glaube, ich habe so etwas überhaupt noch nie gesehen – eigentlich interessiere ich mich nicht für Turnen. Wo ich jetzt aber weiß, wie Turner aussehen, sollte ich diese Einstellung vielleicht überdenken.

 

Nach diesem Video sehe mir das nächste von Sven an. Und dann noch eines. Ich kann nicht damit aufhören, gebannt auf meinen Bildschirm zu starren.

In den Vorschlägen entdecke ich schließlich ein Video, das keinen Wettkampf zu zeigen scheint. Wenn ich mich nicht täusche, ist das trotzdem Sven auf dem Vorschaubild.

Ich klicke das Video an. Pavel Dorofejew und Sven Koch – Partnerakrobatik steht da zu Beginn, dann setzt leise Musik ein und man sieht Sven und einen zweiten Kerl, beide nur in schwarzen Trainingshosen. Dass Sven sich damals, anders als heute, die Brust rasiert hat, habe ich mir bei den anderen Videos schon gedacht, doch jetzt, da ich ihn oben ohne sehe, habe ich die Gewissheit. Auch der zweite Typ ist hier völlig glatt rasiert. Er ist etwas größer als Sven und ebenso durchtrainiert, sogar noch ein wenig breiter. Er hat kurz geschorenes Haar von einer undefinierbaren Farbe, irgendwo zwischen dunkelblond und braun, und stechend helle Augen. Seine Haut ist wesentlich blasser als Svens, was irgendwie einen hübschen Kontrast bildet.

Die beiden zeigen eine Abfolge komplizierter Hebefiguren, bei denen dieser Pavel Sven stützt. Sie bewegen sich langsam dabei, fast wie in Zeitlupe. Es sieht völlig mühelos aus, was es garantiert nicht ist. So vertraut, wie sie dabei miteinander umgehen, und wegen der Ausstrahlung, die sie dabei umgibt, bin ich mir sicher, dass die beiden etwas miteinander hatten.

Ich sehe mir das Video ein zweites Mal an. Auch wenn der andere Kerl gut aussieht, kann ich meinen Blick nicht von Sven abwenden. Er ist unglaublich. Er sieht ganz ruhig aus und fokussiert. Und unfassbar scharf. Wie er sich bewegt. Grazil und kraftvoll zugleich. Und der Ausdruck in seinen Augen… Ich glaube, ich habe nie etwas Erotischeres gesehen. Mein Körper reagiert dementsprechend auf diesen Anblick.

Oh Gott, ich laufe gerade wirklich Gefahr, mich in etwas völlig Absurdes hineinzusteigern. Es geht doch nicht, dass ich mit einem Ständer vor dem Laptop sitze und Sven anschmachte. Resolut klappe ich den Laptop zu, nehme meine Brille ab und reibe mir die Augen.

Vielleicht wird die Anziehung ja weniger, wenn ich dem Impuls einfach nachgebe. Noch einmal mit Sven schlafen, dann verliere ich bestimmt das Interesse an ihm. Aber er würde mir danach ständig über den Weg laufen. Das würde unweigerlich kompliziert werden. Und auf kompliziert habe ich keine Lust.

Am besten, ich gehe jetzt kalt duschen. Und dann muss ich packen. Morgen fahre ich nach London und dort wird mir schon etwas einfallen, das mich von Sven ablenkt.

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