Buch lesen: «Linda Haselwander»

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Printausgabe gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Weiterbildung, Forschung und Kultur Rheinland-Pfalz.

Die Edition Schrittmacher wird herausgegeben von

Marcel Diel, Sigfrid Gauch, Arne Houben und Thomas Krämer.

© 2005

eBook-Ausgabe 2011

RHEIN-MOSEL-VERLAG Zell/Mosel Brandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel Tel.: 06542-5151, Fax: 06542-61158 Alle Rechte vorbehalten ISBN: 978-3-89801-762-6 Umschlag: Arne Houben

Irina Wittmer

Linda Haselwander

Edition Schrittmacher Band 3

RHEIN-MOSEL-VERLAG

Für meine Familie

Erster Teil

Linda, Malte, Hermina, Franz

Linda

Linda Haselwander wurde im Juni 1953 geboren. Ihre Mutter reichte gerade einen Laib Brot über die Theke, als die Wehen jäh und furchtbar einsetzten. Sie rief den Gesellen, der frühstückte, in den Laden und legte sich nebenan in der Küche auf das Kanapee.

Linda kam zur Welt während draußen unentwegt die Ladenglocke ging, während ihr Vater in der Backstube seinen Kirschstrudel, für den er bekannt war, aus dem Ofen zog und während ihre Großmutter im Waschhaus dampfende Laken aus dem Kessel zum Spülen in den Bottich hob.

Als keine Kundinnen mehr kamen, schaute der Geselle kurz in die Küche. Es war peinlich. Er hatte nichts gehört. Eilig schloß er die Ladentür ab und zog den Vorhang vor. Die alarmierte Hebamme mußte das Kind nur noch abnabeln und baden. Immer wieder sagte sie, das ist ja ein ganz Zartes das, und die Großmutter versuchte, das verdorbene Kanapee zu säubern und mit weißen Tüchern zu bedecken, damit ihre Schwiegertochter ordentlich daliegen würde. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Oben stand der für das Krankenhaus gerichtete Koffer. Über ein Monat wäre noch Zeit gewesen. Der Vater und der Geselle mit ihren hohen Bäckerhüten auf den Köpfen schafften den Stubenwagen vom Schlafzimmer herunter, und das Kind, das kaum geschrien hatte, wurde hineingelegt.

Die junge Mutter hieß Irmtraud. Ihr Vater arbeitete in einem Sägewerk, und sie hatte drei ältere Brüder und vier jüngere Schwestern. Aber sie war mit ihrem wunderbaren blonden Haar, das sie noch bis zur Hochzeit in vier Zöpfen geflochten trug, das schönste Mädchen ihres Jahrgangs gewesen, und an Festtagen hatte sie im Kirchenchor die Solostimme gesungen. Jetzt schwieg sie wie unter einem Schock und weinte sogar lautlos, als ihr die Hebamme half, die Schürze und das Kleid auszuziehen. Erst als sie gewaschen, in einem frisch gestärkten Nachthemd und gut zugedeckt auf dem Kanapee lag, spürte sie ein wenig Erleichterung.

Natürlich hätte sie lieber zuerst einen Jungen gehabt. Er hätte nach seinem Vater Herrmann heißen müssen. Für ein Mädchen wußte sie jedoch einen schöneren Namen. In einem Roman, der auf einer afrikanischen Missionsstation spielte, und den sie viele Male gelesen hatte, kam eine Linda vor. Sie wurde die Frau des Pfarrers dort. In der Hochzeitsnacht sagte er zu ihr, Linda, was ich jetzt tun muß, geschieht im Namen des Herrn. Er war ein sehr rücksichtsvoller Mann, und sie schenkte ihm viele Kinder.

*

Huwihl liegt im Hochschwarzwald, in einer langgestreckten Talmulde, durch die ein Bach fließt. Die Berge steigen sanft an, sie sind mit Wiesen und im oberen Drittel mit Wald bedeckt. Bei bestimmten Wetterlagen kann man vom Aussichtsturm auf dem Immliberg oben bis zu den Schweizer und den Französischen Schneealpen sehen. Sie glühen dann am Horizont, als wollten sie verbrennen.

Im Sommer kommen Feriengäste zum Wandern und zum Angeln, neben der Landwirtschaft ist das Vermieten von Zimmern eine wichtige Einnahmequelle. Entlang des Baches verläuft die Hauptstraße. Dort sind einige Geschäfte und Wirtshäuser, als Spezialität bieten sie vor allem Forellen an, die in vielen Variationen zubereitet werden. Seine Lage teilt den Ort in eine Sommerseite und in eine Winterseite. Von Oktober bis März scheint auf der Winterseite keine Sonne, so daß die Leute in ihren finsteren Zimmern schwermütig werden. Die meisten Häuser unten im Tal, wo, außer der katholischen, auch die kleine evangelische Kirche steht, sind aus Fachwerk gebaut. An den Hängen stehen vereinzelt Höfe mit ihren trutzigen Dächern und den blumengeschmückten Balkonen.

Für Herrmann Haselwander, der gerne sagt, die Flöhe und die Wanzen gehören auch zum Ganzen, ist es ein Nachteil, daß seine Bäckerei nicht wie die seiner beiden Kollegen unten an der Hauptstraße liegt. Wer die Backwaren von Herrmann Haselwander kaufen möchte, muß eine schmale Straße ungefähr zweihundert Meter weit hinaufgehen. Dort ist es gleich der erste Hof, ein typisches Schwarzwaldhaus, allerdings nicht mehr mit Stroh, sondern mit Schiefer gedeckt. Die Fassade besteht aus weiß gestrichenen Schindeln, auch das Balkongeländer, eine aufwendige Laubsägearbeit, ist hell gestrichen, so daß das Haus, trotz des mächtigen Daches, freundlich und wie für ein Spiel aufgebaut wirkt.

Noch vor der Währungsreform hat Herrmann Haselwander umgebaut und renoviert. Das Geld dazu gab ihm seine Mutter, die aus Bad Hohenbirch, der nahen Kreisstadt, stammte und die ein kleines Vermögen erbte, als ihre Tante starb. Wo früher der Stall war, ist das Haus jetzt nach hinten zur Bergseite verlängert, und es sind eine moderne Backstube und ein Laden mit einer weiß lackierten Theke und Vitrinen für die Kuchen und Pralinen eingerichtet worden. Über der Backstube und dem Laden entstanden zwei Fremdenzimmer mit fließend Kalt- und Warmwasser. Die Hausgäste bekommen ihr Frühstück in der Küche, wo sie besonders an kalten Tagen lange sitzen und die Aussicht über das ganze Tal genießen. Wenn sie baden wollen, steht ihnen, nach Anmeldung, das Familienbad zur Verfügung.

Die Ställe für die Kuh, die zwei Schweine, die Hasen und die Ziegen sind in der Scheune untergebracht. Die Waschküche, in der es außer dem Einweichbottich und dem Kessel für die Kochwäsche auch eine automatische Maschine und eine Schleuder gibt, befindet sich jetzt im ehemaligen Backhäuschen.

Linda wurde auf der Sommerseite, in Licht und Wärme und in den Duft nach frisch gebackenem Kirschstrudel hinein geboren. Ihr Vater und der Geselle trugen die hohen Bäckerhüte, die Großmutter hatte das Kopftuch fest im Nacken gebunden, und die Hebamme, die sagte, das ist ja ein ganz Zartes das, wurde von einem gefältelten Häubchen mit hellblauem Rand geschmückt. Es war an einem der ersten warmen Tage, die Wiesen blühten, und durch das geöffnete Küchenfenster kam das ewige Plätschern des Brunnens im Hof.

Solange Linda in den Stubenwagen paßte, trugen ihn die Großmutter und die Mutter morgens aus dem Schlafzimmer in die Küche hinunter und abends wieder hinauf. Als sie größer war, wurde der Laufstall in der Mitte der Küche aufgestellt und mit einer Decke und Kissen ausgepolstert. Im Laufstall konnte sie schlafen und auch spielen, ohne daß ihr etwas passierte, während die Mutter im Laden bediente. Oft streckten Kundinnen wegen Linda ihre Köpfe in die Küche und sagten, das ist ja praktisch mit dem Ställchen, wie schön sie sich darin verweilt. Und oben auf der Konsole stand das Radio, spielte Operettenmelodien und beobachtete Linda mit seinem leuchtenden grünen Auge.

Aber wenn ihr die Mutter zu lange im Laden blieb, weinte Linda still und gleich sehr verzweifelt. Oft boten sich Feriengäste an, das Kind auf ihren Spaziergängen mitzunehmen, doch das wollte die Mutter nicht. Immer fand sie Ausreden, warum es eben an diesem Tag nicht paßte. Was Linda betraf, war sie entschiedener als sonst.

Lindas Lebenskreis erweiterte sich langsam. Der Stubenwagen, der Laufstall, die Küche. Die Großmutter meldete Linda, nachdem sie zwei Jahre alt war, im Kindergarten an, aber die ließ Schreie vor Entsetzen, obwohl sie doch gerne mit den Kindern dort gespielt hätte. Meistens richtete es die Mutter so ein, daß Linda bei ihr zu Hause bleiben konnte. Heute hat sie zu lange geschlafen, heute hat sie Halsschmerzen, heute will ihre Tante Else kommen und sie sehen. Linda mußte sich mit der Langeweile einrichten und sich allein beschäftigen. Oft war sie müde. Während der dunklen Wintermonate, wenn in Huwihl meistens meterhoher Schnee lag, kam sie kaum hinaus.

Als Linda fünf Jahre alt war, brachte das Ehepaar Lübchen aus dem Rheinland, das jahrelang immer Anfang August zur Erholung kam, seinen neuen Photoapparat mit. Linda steht im Hof neben dem Brunnen und macht ein Gesicht wie Kinder, die sich genieren, ein Gesicht machen, wenn man ihnen sagt, jetzt siehst du gleich das Vögelchen herauskommen. Obwohl gar nicht Sonntag ist, trägt sie ihr Sonntagsdirndl, und die Haare sind zu dicken Ohrschnecken gesteckt und mit einem Reif verziert.

Zum gleichen Sommer gehört eine Szene, die sie nicht vergessen wird. Da hat sie die dunkelrote Scheibengardine am Fenster der Tür zwischen Küche und Laden ein klein wenig zur Seite geschoben, wie sie es gerne macht, um sich zu unterhalten, denn meistens darf sie nicht in den Laden gehen, wo sie am liebsten wäre. Oft träumt sie sich hinaus, sie öffnet die Vitrinen, nimmt die Pralinenschachteln mit den breiten Schleifen und die silbrigen Bonbonnieren heraus, wischt die Fächer sauber aus und arrangiert alles neu. Sie hätte das gekonnt. Wenn sie viel bittet und bettelt, darf sie der Mutter manchmal beim Verkaufen helfen. Dann steht sie voller Bedeutung auf einem Hocker neben der Kasse und reicht den Kundinnen die mit Brötchen oder Süßstücken gefüllten Tüten.

Gerade kauft niemand ein. Wo ist die Mutter? Vielleicht ist schon Ladenschluß. Linda hinter der roten Scheibengardine sieht den Vater und die dicke Hieberin, die sich hinter der Theke gebückt hat, wie sie sich immer beim Putzen bückt. Aber ihr fleckiger, geblümter Rock ist hochgeklappt, so daß Linda die Unterhose sehen kann und die rosa Strapse, an denen die Strümpfe spannen. Die dicke Hieberin bewegt sich unruhig hin und her, während der Vater ihr den Hintern tätschelt wie die Großmutter der Kuh nach dem Melken immer.

*

Früher glaubten die Menschen, Engel bewegen die Sterne. Seit sich gezeigt hat, daß sie das nicht tun, glauben nur noch wenige Leute an Engel. Linda wurde durch den lieben Gott erzogen, der alles weiß. Nie schlief er. Sie sah ihn Tag und Nacht über den Himmel hingestreckt. Sein alles durchdringender Blick war auf die Erde gerichtet, neben ihm lag das dicke, rote Buch, in das er die Sünden eintrug.

Linda aß ihren Teller nicht leer und schüttete das Fleisch, den Blumenkohl und die Kartoffeln schnell in den Schweineeimer, als die Mutter in den Laden mußte. Linda lief, anstatt in den Kindergarten zu gehen, an den Bach und schaute bis zum Elf-Uhr-Läuten dem närrischen Gottfried beim Angeln zu. Linda schenkte einem Jungen, der ihr gedroht hatte, sie am nächsten Tag zu verhauen, eine gelbe Zuckerstange aus dem Laden. Das waren ihre Sünden. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht lügen.

Natürlich wurde sie jedes Mal erwischt, weil sie schon auf die Andeutung einer Frage hin schuldbewußt in Tränen ausbrach. Die Großmutter sparte nicht mit Schlägen, und die Mutter stieß sie von sich und sagte, wer lügt und betrügt, kommt in die Hölle, und da ist es furchtbar schwarz und heiß, das wirst du schon merken. Aber sonntags, wenn Linda zwischen Mutter und Großmutter in der Kirche saß und die Orgel zum Eingang mächtig spielte, spürte sie mit wohligem Schauder, daß Gott ihr vergab. Sie glaubte ihrer inneren Stimme mehr als den Stimmen ihrer Mütter.

Die Wohnverhältnisse in dem Haus waren beengend, und überall knarrten die Holzböden und die Stufen. Nachts knabberten sich Mäuse durch die Wände, und in den Balken knackte es. Linda lag oft wach in ihrem Bettchen und fürchtete sich. Gerne hätte sie eine ihrer Puppen, und wenn es nur die allerkleinste gewesen wäre, bei sich gehabt, aber das erlaubte der Vater nicht. Er wollte einen mutigen Pimpf.

Unter der Woche spielte sich das Leben hauptsächlich in der Küche ab. Da gab es immer zu tun. Mittagessen kochen, Marmelade einkochen, Obst eindünsten, Geschirr spülen, Geschirr abtrocknen. Außer dem Elektroherd wurde auch ein Kohleofen benutzt, auf dem immer ein Bottich mit Wasser brodelte, das man zum Geschirrspülen am Wasserstein in ein Zinkwännchen schöpfte. Die Paradestücke in der Küche waren ein Buffet im Stil des »Gelsenkirchener Barock« und das vom Sattler nach Lindas Geburt neu aufgepolsterte und mit einem roten Velours bezogene Kanapee, zu dem es zwei runde Kissen gab. Von der Küche aus gelangte man in eine kleine Stube, zu der die Tür meistens offen stand. In der sogenannten Schreibstube telephonierte man, und die Großmutter und samstags auch Herrmann Haselwander saßen dort am Schreibtisch über den Geschäftsbüchern. Im ersten Stock waren außer den beiden Fremdenzimmern ein großes Bad, das Schlafzimmer der Großmutter und das Schlafzimmer der Eltern, in dem Lindas Gitterbett stand. Das Wohnzimmer nahm den Platz über Küche und Schreibstube ein. Es hatte einen Holzbalkon, der über der ganzen Breitseite des Hauses verlief und weit von dem trutzigen Dach überragt wurde, so daß man an milden Tagen, auch wenn es regnete, gemütlich im Trockenen sitzen und zum Dorf hinunter und weit über das Tal schauen konnte.

Linda wartete immer auf die Sonntage. Wie lange dauert es noch? Wenn die Großmutter samstags im Wohnzimmer den Kachelofen anheizte, war es schon fast soweit. Linda saß gerne da im Ohrensessel und hörte der Großmutter zu, die Harmonium spielte und dazu sang. Über dem Harmonium hing in einem schwarzen Rahmen ein Photo des ernst blickenden Großvaters. Schon vor dem Krieg war er an einem Herzleiden gestorben. Seine Eltern hatten das Haus Ende des vorigen Jahrhunderts gebaut. Außer diesem Photo gab es an den Wohnzimmerwänden nur noch ein Geweih und eine Pendeluhr, die fleißig schlug.

Immer wird der Gedanke an das Wohnzimmer im Elternhaus mit etwas Festlichem verbunden bleiben. An Weihnachten und an Ostern trugen sie sogar das Essen aus der Küche nach oben und aßen dort von dem weißen Porzellan und mit dem Silberbesteck, das zur Aussteuer der Großmutter, die Regula hieß, gehörte.

Vom Gang im ersten Stock aus führte eine schmale Stiege unter das Dach, wo früher der Heuboden gewesen war. Der Platz wurde jetzt als Speicher für allerlei altmodisches Gerät genutzt. Da standen Schränke, eine Getreidewaage, eine Zinkbadewanne und Petroleumleuchter. In einer mit Schnitzereien verzierten Truhe saß noch Leinenwäsche von der Urgroßmutter. Mit Monogrammen bestickte Tischdecken, Bettzeug, Schürzen, Unterröcke und lange Nachthemden. Linda spielte gerne heimlich hier und probierte vor dem halbblinden Spiegel die Sachen an. Und mit diesen Spielen verbunden war der würzige Duft nach den geräucherten Schinken, den Schwartenmägen und Würsten, die die Großmutter nach den Schlachttagen dort immer an einer Stange aufhängte. Von einem Teil des Speichers war das Zimmer abgetrennt, in dem der Geselle wohnte. Linda war es bei Androhung von Schlägen verboten, den Gesellen zu besuchen. Wenn sie jedoch da spielte und der Geselle kam oder ging, versuchte sie, wenigstens in das Zimmer hineinzublicken. Es war hell darin, denn es hatte ein großes Gaubenfenster. Linda sah das zerwühlte Bett, einen Ofen und einen schiefen Schrank, auf dem Schachteln gestapelt waren. So gerne wollte sie alles in Ruhe betrachten. Nie schloß der Geselle ab, wenn er in die Backstube hinunter ging, aber Linda wagte es nicht, die Tür zu öffnen.

*

Linda trägt das Dirndl mit der Herzchenschürze. Ihre Haare sind zu dicken Ohrschnecken gesteckt. Die Rheinländer, zu denen sie Tante und Onkel sagt, obwohl sie weiß, daß sie überhaupt keine richtigen Verwandten sind, wollen Photos machen. Sie haben ihr einen Haarreif mitgebracht, auf dem kleben Blüten ganz fest. Linda hat daran geknabbert, denn sie sehen genau aus wie die bunten Marzipanblüten, mit denen der Vater manche Torten verziert. Dieses Lehrerehepaar aus Bonn kommt jeden August. Sie haben selbst keine Kinder und kennen Linda, seit sie ein paar Wochen alt war. Eigentlich würden sie gerne einmal nach Bayern in Urlaub fahren, aber wegen Linda entscheiden sie sich immer wieder für Huwihl. Die Frau, die eine starke Brille trägt, sagt oft zu ihrem Mann, wenn wir sie nur mitnehmen könnten, bei uns hätte sie es so gut, wir könnten ihr wenigstens etwas bieten.

Linda wird nicht gerne photographiert. Sie wäscht die Hände unter dem Brunnenwasser und spritzt herum. Ihre Hände sind nie anders als rauh und zerkratzt. Sie macht sich wichtig. Sie will der Tante und dem Onkel Lübchen jetzt die Häschen zeigen. Das Tor zur Scheune, in der auch die Ställe sind, steht offen. Es ist ein heißer Tag. Yolande, die Kuh, hat sich gelegt und käut träge, was ihr Magen heraufschickt. Weil Linda die Sonntagsschuhe anhat, geht sie auf Zehenspitzen zu ihr hin, um sie am Ohr zu streicheln. Zum Dank schleckt ihr Yolande über die Hände und die Arme. Da seht ihr, ruft Linda begeistert und als hätte sie das eben erst entdeckt, was die für eine lange Zunge hat. Sie reibt sich mit einem Bündel Heu sauber, so wie die Großmutter das macht. Nebenan meckern die Geißen empört. Ihre Jungen, die mit allen Vieren zugleich in die Luft springen konnten, hat der Vater geschlachtet. Die Schweine schlafen. Die stinken immer, sagt Linda fachmännisch und hüpft zum Hasenstall weiter. Den darf sie aber nicht öffnen. Sie steckt eine Möhre durch den Draht, damit die Häsin von den Jungen geht. Alle grau, wie die Russin selbst. Ihr Mann, das ist der Russe, der ist auch grau. Reinrassig, sagt Linda, mit Stammbaum. Der Lehrer und seine Frau flüstern. Zum Photographieren ist es hier zu dunkel. Linda will auf die Wiese und auch noch die Schafe zeigen, die beiden Lämmchen sind schon ganz groß. Hinter der Scheune, leicht ansteigend, befinden sich der Hühnerstall und der von einer niedrigen Mauer eingefaßte Gemüsegarten. Linda zeigt und erklärt alles. Hier muß endlich gegossen werden. Sie pflückt eine dicke Dahlie ab und hält sie der Lehrersfrau unter die Nase. Am hinteren Ende des Gartens steht ein knorziger Kirschbaum. Den hat meine Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßmutter gepflanzt, sagt Linda, damit die Rheinländer lachen. Er trägt noch, aber man muß die Kirschen immer erst auseinanderklauben, denn in manchen sitzen fette Würmer. Zufrieden macht der Lehrer seine Aufnahmen.

*

Die Idylle, hinter der das Rasiermesser lauert. Wie das niedliche, blonde Mädchen den Leuten aus der Stadt seinen Bauernhof zeigt. Die Küken wollen unter die Glucke flüchten, die sich im warmen Sand eine Kuhle gebuddelt hat. Linda fängt eines und setzt es in die Hände von Tante Lübchen, die ganz weich sind. Onkel Lübchen photographiert, es ist der erste Urlaubstag. Das Kind am Brunnen, das Kind, das über den Gartenzaun geklettert ist, und das nun inmitten der blökenden Schäfchen steht.

Die Großmutter hat es nicht gerne, wenn ihr die Fremden im Stall und im Garten herumlaufen. Sie stören. Ihrer Ansicht nach sollen sie spazieren gehen oder auf der Wiese hinten in den Liegestühlen sitzen, und ansonsten können sie auf ihren Zimmern bleiben. Obwohl die Großmutter in Bad Hohenbirch aufgewachsen ist, wo ihre Eltern ein Juwelier- und Uhrengeschäft betrieben haben, lebt sie ganz für die Landwirtschaft. Sie ist eine kräftige, beherzte Frau. Auch an Werktagen, wenn sie die Ställe mistet, trägt sie eine helle Bluse und ihre zweireihige Perlenkette. Nach dem Tod ihres Mannes hat sie sich mit dem Bauern vom Nachbarhof geeinigt. Sie stellt ihm ein großes Waldstück pachtfrei zur Verfügung. Er kann da abholzen, soviel er will. Dafür mäht er ihr die Wiesen und fährt das Heu ein. Auch sonst hilft er, wenn es notwendig ist. Deshalb braucht sie kein Fuhrwerk und keinen Traktor. Auf deren Platz in der Scheune steht der schwarze, immer auf Hochglanz polierte Mercedes ihres Sohnes, der davon träumt, die Landwirtschaft aufzugeben und dafür ein Café zu eröffnen. Aber die Großmutter sagt, solange ich lebe, wird der Stall nicht leer gemacht. Sie versorgt ihre Tiere, den Garten und die Wäsche. Ihre Schwiegertochter, die schwächlich ist, hat den Laden und nebenher die Küche. Damit sie überhaupt fertig wird, muß die dicke Hieberin jeden Tag ein paar Stunden lang helfen. Die Hieberin putzt auch die Fremdenzimmer.

Das Ehepaar Lübchen nimmt die Photos am selben Nachmittag auf, an dem sich Lindas Mutter töten will. Erst als Erwachsene wird sich Linda alles zusammenreimen können. Die Großmutter schreit, Herrmann, Herrmann, aus dem Bad oben, und auf der Treppe geht ein Poltern los. Die Rheinländer nehmen Linda, die sich heftig sträubt, zwischen sich und zerren sie hinaus, Richtung Wald, weil sie sehen wollen, ob schon die Rehe herauskommen. Wenn man ihnen etwas Salz auf die Schwänze streut, werden sie ganz zahm, heißt es. Wer bringt Linda abends ins Bett? Weil die Mutter fehlt, weint Linda bitterlich. Am nächsten Morgen will es mit dem Kämmen nicht klappen. Da nimmt die Großmutter die angerostete Küchenschere und schneidet Linda die Haare ab. Sogar der Vater ließ einen Entsetzensschrei, als er Linda danach sah.

Als die Mutter aus ihrer Erholung zurückkam, schien sie Linda viel kleiner als vorher, und immerzu sagte sie, du bist doch alles, was ich habe, ich lebe nur wegen dir. Linda durfte nichts passieren, nur sie konnte die Mutter, die oft in der Küche saß und weinte, trösten.

*

Durch eine Kriegsverletzung hinkte Herrmann Haselwander, sein rechtes Knie war steif, so daß er das Bein nachziehen mußte. Außerdem war er heftig und versprühte beim Sprechen schlecht riechende Spucketröpfchen. Er liebte fertige Sätze. Jeder ist seines Glückes Schmied. Wie man sich bettet, so liegt man. Wenn ihn, was selten vorkam, seine Frau um etwas bat, sagte er unter einer leichten Verneigung: Dein Wunsch ist mir Befehl. Dazu lächelte er süffisant. In seiner Nähe konnte Linda immer nur wenig Luft einatmen, und oft tat ihr der Bauch weh. Dabei war sie stolz auf den Vater, er backte die schönsten und besten Torten, sogar zwei- und dreistöckige. Aus der ganzen Umgebung, auch aus Bad Hohenbirch, riefen Leute an und gaben Bestellungen auf. Linda gefiel es, wenn der Vater sie mitnahm und sie nebeneinander in den Polstern des schwarzen Wagens saßen und langsam ins Dorf rollten. Sie winkte gerne hinaus, außer ihnen fuhr nur noch der Metzger, der in seiner Freizeit Jäger war, einen Mercedes, aber dieser war grün und hatte eine Anhängerkupplung.

*

Es ist Samstag. Das Geschäft ist schon geschlossen. Als Mittagessen hat es Linsensuppe gegeben. Die Hieberin schrubbt die Ladenstaffel. Oben im Bad hat die Großmutter den Ofen angeheizt. Sie badet als erste. Dann, nach seinem Mittagsschlaf, der Vater und zum Schluß die Mutter. Wenn sie fertig ist, ruft sie Linda herein. In dem Bad ist eine trockene Hitze, und es riecht nach Fichtennadel-Badesalz. Linda bekommt Gänsehaut, als sie sich in das heiße Wasser setzt. Sie fährt ihr Plastikschiff hin und her, es ist ein Ozeandampfer. Die Mutter steht am Waschbecken. Sie hat ihren hellblauen Spitzenunterrock an und kämmt sich. Ihr Haar ist noch feucht, es fällt bis zu den Hüften hinunter. Vor anderen Leuten trägt sie es nie anders, als zu einem Knoten geschlungen. Aber samstags, nach dem Waschen, bleibt es offen, und für Linda ist die Mutter dann eine Märchenkönigin mit einem kostbaren Schleier.

Auf der Holzkiste liegen frische Wäsche und das Sonntagskleid für Linda. Sie haben es bei Leinwebers in Bad Hohenbirch gekauft, sein Koller ist mit einer Spitze verziert. Dazu wird Linda weiße Strümpfe und weiße Stiefel tragen. Immer darf sie samstags nach dem Baden schon das Sonntagskleid anziehen. Die Mutter wäscht Linda und ist ganz sanft.

Morgen ist erster Advent. Vom Wohnzimmer her tönen das Harmoniumspiel und der Gesang der Großmutter. Sie singt, Auf, auf, ihr Reichsgenossen, eur König kommt heran! Empfanget unverdrossen den großen Wundermann. An den Samstagabenden arbeitet sich die Großmutter durch das Kirchenjahr. Nachdem Linda angezogen ist, geht sie in das Wohnzimmer, sie soll am Kachelofen sitzen und die Haare trocknen. Wenigstens für einen Pferdeschwanz sind sie schon wieder lang genug.

Am nächsten Morgen liegt ein wenig Schnee und die Sonne scheint. Die Glocken werden schon geläutet. Es ist ein spiegelblanker Tag. Linda geht zwischen der Mutter und der Großmutter zur Kirche hinunter. Der Vater will mit dem Auto nachkommen. Linda liebt es, im Takt der Glocken zu gehen und ist immer enttäuscht, weil die Glocken für den Weg nach Hause nicht geläutet werden. Es ist, als würde ihren Beinen etwas fehlen, sie gehen dann so ins Leere.

Vor der Kirche treffen sie zwei Schwestern ihrer Mutter. Die Else, zu der Linda nicht Tante sagt, obwohl sie ihre Tante ist, hat mal wieder verschlafen. Sie bewundern Lindas neuen Mantel und sagen, mach auf, damit wir auch das Kleid sehen können. Aber die Großmutter drängt, sie will nicht wieder in der letzten Bank sitzen. Die Kirchenhälfte, die beim Hineingehen links ist, gehört den Männern, die rechte den Frauen. Wenn Gott vom Altar her ins Kirchenschiff schaut, sitzen die Männer zu seiner Rechten. Sonntags riecht die Großmutter immer nach Lavendel. Sie schiebt sich auf der Bank dicht an Linda heran und schwebt jauchzend mit ihrem Gesang über der Gemeinde.

Sonntag nachmittags, wenn die Küche sauber ist, geht Linda mit der Mutter und der Großmutter zum Pfarrsaal. Er wirkt festlich, denn er hat gelbe Fensterscheiben, durch die auch an trüben Tagen ein Licht hereinkommt, als scheine draußen die Sonne. Und es sind immer viele Kinder da. Linda hat eine Menge Cousinen und Cousins, mit denen sie im Pfarrhof Fangen und Verstecken spielt. Auch Lindas andere, ihre kleine Großmutter, die von allen die Großl genannt wird, und der Großvater kommen zu der sonntäglichen Kaffeestunde. Dem Großvater fehlen an der rechten Hand der halbe Daumen und der halbe Zeigefinger, und zum Spaß droht er mit seinen Stummeln bis die Kinder sich gruseln und kreischend davonrennen. Aber sie schleichen immer wieder heran, denn sie haben ihn alle gern.

*

Linda kennt Jesus persönlich, er ist Gast an ihrem Tisch. Oft wenn sie allein da sitzt und essen soll, unterhält sie sich mit ihm. Sie sagt, Jesus, bitte hilf mir doch, daß der Teller endlich leer wird. Und manchmal hilft er wirklich. Linda sieht den lieben Gott, über den Himmel hingestreckt, er ist allgegenwärtig mit seinem Sündenbuch. Linda hört das Meer in der großen Muschel rauschen, die auf dem Radio in der Küche liegt. Linda spürt, wie der Nachtkrapp nach ihr greift, wenn sie in der Dämmerung noch draußen ist. Linda lebt gewiß mit ihren Träumen, und sie wartet auf den Auftrag, der ihr für das Leben zugeteilt wird. Aber für manches, was um sie herum passiert, hat sie keine Worte.

Wenn sie den Vater die Speichertreppe herunterkommen sieht, ist irgend etwas anders an ihm, und er verschwindet dann im Bad und patscht die Tür heftig hinter sich zu. Linda kann der Mutter nicht sagen, daß sie die Unterhose und die Strapse von der Hieberin gesehen hat. Oft wacht sie nachts durch heftige Geräusche auf, und dann wartet sie auf das Winseln da von den Betten der Eltern her, immer folgt den Geräuschen das Winseln, doch sie getraut sich nicht, die Mutter zu rufen, die wohl ganz fest schläft. Linda hütet sich vor der drängenden, feuchten Nähe ihres Vaters, sie will nicht auf den Mund geküßt werden.

Als die Mutter einmal wieder wochenlang in Erholung bleiben muß, kommt zur Aushilfe Else, ihre jüngste Schwester, ins Haus. Else ist flink und sauber, aber sie hat ein lockeres Mundwerk, sagt die Großmutter. Mit Else hat Linda viel Spaß, ihr darf sie beim Verkaufen helfen so oft sie will, und die Kundinnen stehen lange im Laden und erzählen. Als Linda die Großmutter dann mit der Neuigkeit überrascht, der Geselle sei ein Hundertfünfundsiebziger, schlägt diese sofort zu. Während Linda geschlagen wird und unter Tränen ruft, ich schäme mich, Großmutter, ich schäme mich wirklich, sieht sie das Bild, wie der Vater sein Auto poliert und stolz sagt, es hat zweiundfünfzig PS und fährt gut hundertdreißig. Aber die Großmutter ist außer sich vor Zorn und steckt Linda ins Bett, obwohl noch gar nicht Abend ist.

Am nächsten Tag beim Mittagessen sagt der Vater, wenn ich ausgeschlafen habe, zeige ich dir was. Er schläft ja immer, nachdem er in der Backstube fertig ist, weil er schon um vier Uhr früh aufstehen muß. Er sagt, es ist aber ein Geheimnis, nicht daß du der Else etwas erzählst oder der Großmutter, die hätte bestimmt viel dagegen. Du und ich, wir zwei, fahren zusammen fort. Linda treibt sich im Hof herum. Sie ist neugierig, sie denkt an ein Geschenk oder noch lieber daran, daß sie vielleicht die Mutter in ihrer Erholung besuchen. Galant läßt er Linda einsteigen. Er spricht nichts. Sie fahren nach Sulzmatten und halten vor dem Haus des Tierarztes, den die Großmutter ruft, wenn die Kuh Fieber hat. Der Doktor ist nicht da, aber seine Frau weiß Bescheid. Ihre Bernhardiner-Hündin hat Junge. Es sind sieben, und Linda ist die erste, die sich eines aussuchen darf.

*

Als seine Tochter zur Welt kam, war Herrmann Haselwander dreiunddreißig Jahre alt. Er hatte Bäcker und Konditor gelernt und an der Ostfront gedient. Er verstand es, seine Nachteile in Vorteile zu verkehren. Obwohl das Geschäft abseits lag und im Winter sogar erst nach dem Schneeräumen erreichbar war, lief es doch besser als das der beiden Kollegen in der Hauptstraße. Zu Herrmann Haselwander ging man nicht wegen einem Laib Brot, sondern weil man Kirschstrudel oder Torte essen wollte. Bei ihm gab es ein klein wenig von dem Luxus, nach dem sich in den harten Zeiten alle sehnten. Auch die Fremden kamen gerne, sie kauften die Pralinen und Bonbonnieren, an denen Kärtchen steckten mit Motiven und der Aufschrift Herzliche Grüße aus Huwihl im Hochschwarzwald.

Eigentlich war Herrmann Haselwander kein richtiger Nazi gewesen, aber er vermißte doch die Ideale und die Ordnung, die sie dem Leben gegeben hatten. Die Kirche gehörte ins Weibliche, zum Schmuck, zum Beiwerk, er machte das Brimborium mit, weil es nicht anders ging, schon der Kundschaft und seiner Mutter wegen. Du sollst nicht töten? – Rüste dich, töte! Auch der Pfarrer hatte seinen Segen gegeben, darüber konnte Herrmann Haselwander nachträglich nur ausspucken. Niemand hatte einen Krieg gewollt, aber schließlich mußte gekämpft werden.

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