Geboren in der Ukraine

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Geboren in der Ukraine
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Irene Schlör

Geboren in der Ukraine

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1 Großeltern und Eltern

Kapitel 2 Vorschulzeit (1922 – 1928)

Kapitel 3 Sommerfrische (1927 – 1934)

Kapitel 4 Schulzeit (1930 -1940)

Kapitel 5 Immer wieder Umzug (1935 – 1938)

Kapitel 6 Sibirien (1936 – 38)

Kapitel 7 Nach zwei Jahren wieder zurück

Kapitel 8 Das Leben ist schön

Kapitel 9 Heim ins Reich

Kapitel 10 Der lange Weg nach Halle an der Saale

Kapitel 11 Ausländer

Kapitel 12 Das letzte Kriegsjahr

Kapitel 13 Lungenheilstätte Weissenhof

Kapitel 14 Leid und Freud‘

Kapitel 15 „Reader, I married him“

Kapitel 16 Die Entfremdung und Scheidung

Impressum neobooks

Kapitel 1 Großeltern und Eltern

Geboren in der Ukraine

von Irene Schlör

nach einem biographischen Tatsachenbericht

Vorwort

Verfechter politischer Korrektheit um jeden Preis werden über den einen oder anderen Ausdruck stolpern, den die Ich-Erzählerin, geboren 1921, wie selbstverständlich verwendet.

Auch die Wertvorstellungen und gängigen Ansichten jener Zeit haben sich mit der Revolution der 68er völlig geändert.

Ich selber, geboren 1948, habe bereits ein völlig anderes Verständnis von z.B. Gleichberechtigung oder der Freiheit der Frau. Meine Generation war praktisch die erste, die sich flächendeckend emanzipierte. Anders als exzentrische Geschlechtsgenossinnen aus der Vergangenheit, die sich ihre Freiheiten nahmen (denken wir nur an George Sand oder Simone de Beauvoir), waren in den 70er Jahren plötzlich alle Frauen „frei“.

Nach und nach eroberten sie jeden Beruf, ignorierten Jahrhunderte alte Traditionen und Bräuche wie Keuschheit vor der Ehe, keine Berufstätigkeit in der Ehe oder Kinder außerhalb der Ehe. Überhaupt wurde die Institution der Ehe immer nichtiger, andere Formen des Zusammenlebens – nicht nur zwischen Mann und Frau – gewannen an öffentlicher Zustimmung.

Feministinnen machen unter anderem die Erleichterung der Hausarbeit durch verschiedene Geräte, die sexuelle Aufklärung und die zunehmende Zuverlässigkeit und Erreichbarkeit von Verhütungsmitteln für den gesellschaftlichen Wandel verantwortlich.

So plausibel dies klingt, im Grunde aber ist er eine Bewegung, die sich schon seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert durchzusetzen begann. Goethes Gretchen wurde hingerichtet, weil sie ihr uneheliches Neugeborenes tötete. Goethe sorgte mit diesem Drama für ein Umdenken durch Erregung von Mitleid und Erschauern. Vor ihm hatte schon Lessing mit „Minna von Barnhelm“ erstmals in der deutschen Dramengeschichte eine Frau als Titelfigur genannt. Auch seine „Emilia Galotti“, die auf ihre Bitten hin vom eigenen Vater erdolcht wird, um ihr und der Familie eine „Schande“ zu ersparen, sorgte für eine kleine Revolution in der deutschsprachigen Literatur.

Kurzum, die weit um sich greifende Gleichberechtigungsbewegung der Frau war eine langwierige Angelegenheit, die Deutschland z.B. eigentlich erst in der späteren Nachkriegszeit voll erfasste.

Meine Mutter war eine moderne Frau, die in einfachen Sätzen komplexe Zusammenhänge darstellen und plausibel erscheinen lassen konnte. Ich habe mich bemüht, aus ihren Aufzeichnungen, die zum heutigen Zeitpunkt (2018) auch schon wieder ein Vierteljahrhundert alt sind, einen authentischen Tatsachenbericht zu erstellen. Ich wünsche mir, dass er verschiedene Generationen ansprechen möge.

I. Schlör, im April 2018

Im November dieses Jahres 1991 werde ich 70 Jahre alt und im April darauf wird es 50 Jahre her sein, dass ich mit meinen Eltern im Waggon eines Güterzugs zusammen mit anderen Familien die Sowjetunion verlassen habe und in meiner neuen Heimat Deutschland angekommen bin.

Meine Tochter hat mich gebeten meine Erinnerungen aufzuschreiben. Mein Schicksal gleicht dem anderer Flüchtlinge, aber jedes Leben für sich ist doch einzigartig. Ich werde also versuchen mich an die Wahrheit zu halten.

Am 21. November 1921 wurde ich in einer Stadt namens Jusowka geboren. Später wurde diese in Stalino und schließlich in Donezk umbenannt. Es waren schwere Zeiten damals. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Russischen Revolution froren und hungerten die Leute.

Meine Eltern wollten keine weiteren Kinder, obwohl sie mich sehr liebten. Mein Vater Sergej Nikolajewitsch Witkowsky war ein junger Elektroingenieur, gescheit und schlagfertig, aber nie sarkastisch oder verletzend. Er hat sich niemals über die Fehler anderer lustig gemacht. Als ich klein war, wohnten wir in der Nähe seines Elternhauses. Mein Großvater Nikolaj Nikolajewitsch hatte keine akademische Bildung, aber ein unglaublich gutes Gedächtnis und er tat alles, was er anging, mit großer Hingabe. Er war sehr belesen und interessierte sich für fast alles. Es war faszinierend, sich mit ihm zu unterhalten. Vor der Revolution war er Bankdirektor, danach arbeitete er als einfacher Mitarbeiter in derselben Bank weiter.

Seine Frau, meine Großmutter Warwara Vladimirowna, hatte wenig Schulbildung und heiratete recht früh, denn die Familie war arm und hatte sieben Kinder zu versorgen. Sie war eine gute Hausfrau und treu liebende Ehefrau, was damals das Idealbild einer rechten Frau ausmachte.

Von den drei Söhnen, die meine Großmutter väterlicherseits geboren hatte, starb der jüngste als Kind an Keuchhusten, der zweite, Wolodja, fiel später im Krieg und mein Vater Sergej, anderthalb Jahre älter als Wolodja, hatte ein sehr enges und herzliches Verhältnis zu seinem Bruder. Serjoscha war ein Spätentwickler, der in der Schule zunächst fürchterliche Angst hatte, nicht mitzukommen und sitzenzubleiben, was ihn ja in derselben Klasse mit seinem jüngeren Bruder hätte landen lassen. Aber bald „wachte er auf“, wenn man das so ausdrücken kann, und war fortan ein sehr guter Schüler, sorgfältig und arbeitsam. Er schloss das Gymnasium mit einer Goldmedaille ab.

Volodja hingegen war sehr begabt, alles flog ihm zu, aber er hasste die Schule und die damit verbundene Arbeit. Er bekam seinerseits zum Abitur „nur“ die Silbermedaille.

Nach Volodjas Tod war Serjoscha also das einzige Kind meiner Großeltern. Und ich war ihr einziges Enkelkind. Meine Großmutter überschüttete mich mit ihrer Liebe, die für zehn Enkelkinder gereicht hätte. Diese überschwängliche Liebe war für mich jedoch eine Last. Ich hatte manchmal das Gefühl zu ersticken.

Meine Großeltern mütterlicherseits lebten bis zu ihrem Tode in Jusowka. Mein Großvater Iwan Iwanowitsch Borsenko war vor der Revolution Gutsverwalter und wohnte mit seiner zahlreichen Familie in einem großzügigen Anwesen mit Zier- und Gemüsegarten. Großvater hat oft Bücher gelesen. Er hatte ein umfangreiches Bücherregal, das immer voller wurde und fast überquoll. Später sollte ich bei meinen Besuchen dort zu meinem unsagbaren Vergnügen reichlich Zugang dazu bekommen.

Großvater war ein leidenschaftlicher Jäger und ging fast an jedem Sonntag mit seinen Freunden auf die Jagd. Als meine Mutter klein war, hatte ihr Vater stets den einen oder andern Jagdhund, der ihm auf Kommando gehorchte, jedoch für die Anweisungen meiner Oma oder der Bediensteten kein Ohr hatte.

Meine Oma Sabina Karlowna (Sabine Blondine Dorothee Lange) war zweimal verheiratet. Ihr erster Mann, der Vater meiner Tante Maria, starb sehr früh an Typhus. Aus der Heirat mit meinem Großvater gingen neun Kinder hervor, von denen nur vier das Erwachsenenalter erreichten: Konstantin, Jelena, Viktor und Sofia. Marusja übrigens wurde von Großvater genauso geliebt wie seine eigenen Kinder.

Obwohl er selbst nicht lange zur Schule gegangen war, tat mein Großvater alles, um seinen Kindern eine umfassende Bildung zu ermöglichen. Seine Töchter studierten erfolgreich, aber die Söhne waren faul. Er zog deshalb seine Töchter den Söhnen vor, während seine Frau „ihre“ Söhne vor den Attacken des Vaters in Schutz nahm.

Wer ist wer?

Tatjana Sergejewna Witkowskaja S. Erzählerin

Jelena Iwanowna Borsenko Witkowskaja Mutter der E.

Sergej Nikolajewitsch Witkowsky Vater der E.

 

Nikolaj Nikolajewitsch Witkowsky Großvater ♂ der E.

Warwara Vladimirowna W. Großmutter ♂ d. E.

Iwan Iwanowitsch Borsenko Großvater ♀ d. E.

Sabina Karlowna Lange Borsenko Großmutter ♀ d. E.

Wolodja Nikolajewitsch Witkowsky Onkel ♂ d. E.

Familie Anajew Freunde der Familie

Olga Petrowna Anajew Tochter der Anajews

Familie Bosse Freunde d. Familie

Olga und Georg (Jura) Bosse Jugendfreunde d. E.

Walja Protassowa Schulfreundin d. E.

Familie Safronow Freunde d. Familie

Familie Dimitrijew Freunde d. Safronow

Fam. Alexandrow Verwandte d. E.

Fam. Iwanitzky Freunde v. S.W.

Olga Iwanowna Reisebekanntschaft

Peter Petrowitsch Lehrer in Sibirien

Alik Glikin Mitschüler in S.

Tatjana Melanina Lehrerin in S.

Michail Benjaminowitsch Bogolepow Lehrer in S.

Nata Mikhelman Schulfreundin

Wolodja Radziwanowitsch Schwarm d. E.

Geronimus (Nachname) Studienkollege d. E.

Kolupajew (Nachname) Studienkollege d. E.

Adolf Wagner Lebensretter d. Fam.

Familie Schakow Mitreisende nach H.

Familie Scharemko Mitreisende nach H.

Lora und Vica Mitreisende n. Halle

Ilse und Gisela Freundinnen in H.

Dr. Leo Herwegen Chef in Halle

Rachter (Nachname) Nazi in der Firma

Nikolai Didenko Freund in N.-gartach

Wappen der Familie Witkowsky

Zlotogolenczyk, 14. Dezember 2017 (Quelle : Wikipedia)



Kapitel 2 Vorschulzeit (1922 – 1928)

Als ich ein Jahr alt war, wurde mein Vater in die Tschulkowa-Zeche sechs Kilometer entfernt von Jusowka versetzt und dort lebten wir bis zum Sommer 1925. Dann zogen wir nach Charkow, woran ich noch lebhafte Erinnerungen habe. Von Tschulkowa weiß ich nicht mehr viel, doch an den Garten erinnere ich mich noch, Meine Mutter liebte Blumen und pflanzte und hegte sie, wo auch immer wir überall zuhause waren. In Tschulkowa machte sie um einen Baum herum kleines Blumenbeet extra für mich. Ich hatte eine kleine Gießkanne und goß meine Blumen selbst. Wir hatten auch eine Kuh, Olka, die von unserem Dienstmädchen Fekluscha gemolken wurde. Olka hatte ein richtig schwarzes Fell, deshalb wunderte mich jedesmal auf Neue, dass sie so weiße Milch gab.

Zu jener Zeit entwickelte sich die Freundschaft unserer Familie mit den Ananjews. Peter Martinowitsch Ananjew war Bergbauingenieur und seine Frau Anna Andrejewna war ausgebildete Ärztin, die aber nach ihrer Heirat nicht berufstätig war, sondern nur noch für ihre Familie da. Ihre Tochter Oletschka, ein Jahr älter als ich, wurde eine meiner besten Freundinnen. Die Ananjews zogen nämlich ebenfalls nach Charkow, wo auch meine Großeltern väterlicherseits zuhause waren. Da wir eine Wohnung nicht weit von meinen Großeltern bezogen, sah ich sie fast jeden Tag.

Natürlich war ich auch bei meiner Mutter. Sie liebte mich auf ihre Weise und bemühte sich, mich gemäß den Idealvorstellungen ihrer Zeit aufzuziehen: ein Mädchen hatte fleißig, brav und unerfahren zu sein. Sie versuchte alles von mir fernzuhalten, was nicht „anständig“ war.

Später im Leben hat mir meine Unaufgeklärtheit sehr geschadet. Ich war meiner Mutter böse wegen dieser Erziehung, aber ich bin mir jetzt sicher, dass sie nur mein Bestes wollte. Sie konnte unmöglich voraussehen, wie sich mein Leben dramatisch verändern würde und wie sich überhaupt die ganze Welt mit ihren Wertvorstellungen radikal ändern würde.

Als wir nach Charkow zogen, war ich erst dreieinhalb Jahre alt. Wir wohnten in einer kleinen Wohnsiedlung von fünf Häusern, die um einen Innenhof herum standen. Die Eltern meines Vaters wohnten in einem der anderen Häuser, so dass mich meine Großmutter jederzeit abholen und mich auch beim Spielen im Hof beaufsichtigen konnte. Im Hof spielten viele Kinder miteinander und meine Erinnerung konzentriert sich darauf, dass die älteren von „letztem Jahr“ und auch von „vorletztem Jahr“ sprachen, was ich noch nicht einordnen konnte. Nur „letztes Jahr“ war mir klar verständlich und ich ärgerte mich über meine anscheinend fehlende Orientierung.

Doch ich sprach zu niemandem davon, denn ich bemerkte sehr bald, dass alles, was ich hauptsächlich meiner Großmutter erzählte, von ihr weitergetratscht wurde und stets mit allgemeinem Gelächter endete. Das verletzte mich.

Die Großmutter sprach auch nicht immer die Wahrheit, während meine Eltern einander und auch mich nie anlogen. Damals beschloss ich, falls ich je eine Mutter sein würde, meine Kinder nie zu täuschen.

Doch zurück zu meiner Vorschulzeit. Es war die Zeit des sogenannten „New Deal“, also ein neuer Anfang in der Handelswelt mit großzügigen Zugeständnissen, wie sie seit der Revolution nicht mehr dagewesen waren. Privater Handel sorgte schnell für einen besseren Lebensstandard und ein leichteres Auskommen.

Abbildung Jelena Iwanowna Borsenko Witkowskaya 1928

Einige Jahre lang konnte mein Vater ein Dienstmädchen bezahlen und meiner Mutter die Arbeit erleichtern. Die Häuser damals waren nicht mit fließendem Wasser ausgestattet, dieses musste in eigens dafür bestimmten Eimern vom Pumpbrunnen am Ende der Straße geholt werden. Die dörfliche Art, Wasser zu holen, waren zwei an einem Joch befestigten Eimer. Doch die Städter waren sich zu gut, um ein Joch auf den Schultern zu tragen. Also gingen die Frauen ständig mit einem Eimer straßauf, straßab. Meine Großmutter hatte jedoch ihren eigenen Brunnen im Hof.

In der kalten Jahreszeit musste man außerdem den Ofen mit Holzscheiten und Kohlebruch heizen. Zunächst jedoch wollte das Holz gespalten und in handliche Stücke gehackt werden und die Anthrazitkohlebrocken ebenso. Als wir kein Dienstmädchen mehr hatten, übernahm Vater diese schwere Arbeit.

Die Bettwäsche wurde von einer Wäscherin abgeholt und sauber gewaschen und gebügelt zurückgebracht. Im Winter wurde das Essen auf dem Ofen gekocht, im Sommer hatten wir einen Petroleumkocher, einen „Primus“. Das Paraffinöl wurde einmal in der Woche auf der Straße von fliegenden Händlern verkauft. Alle Hausfrauen und Bediensteten standen dann Spalier, mit großen Flaschen oder Kanistern bewaffnet.

Da mein Vater ein gesuchter Spezialist auf seinem Gebiet war, ging es uns recht gut. Er hätte sogar eine Wohnung mit Zentralheizung und fließendem Wasser bekommen können, wenn er sich bei seinem Arbeitgeber mit Schmeicheln und Bitten dafür eingesetzt hätte. Doch das lag ihm vollkommen fern. Er liebte vor allem die Arbeit vor Ort, an der Baustelle, mit Strominstallation und Trafo. Längeres Verweilen im Büro setzte ihm schwer zu, er wollte sein, wo die eigentlichen Probleme zu lösen waren. Sein Element war die Einrichtung eines neuen Kraftwerks,

Wir zogen ständig um, dahin, wo ein neues Kraftwerk im Entstehen war. In den zehn Jahren meiner Schulkarriere war ich an sechs verschiedenen Schulen. In den langen Sommerferien schickte mein Vater nach wie vor Mutter und mich ans Meer, er selbst konnte sich selten frei machen.


Kapitel 3 Sommerfrische (1927 – 1934)

In meinem fünften Lebensjahr waren wir in Berdjansk am Asowschen Meer in der Sommerfrische, als meine Mutter durch langes Sitzen in nassen Badeanzug am Strand eine Rippenfellentzündung bekam und schwer erkrankte. Sie bat ihre jüngere Schwester Sonja zu sich und schärfte ihr ein, gut auf mich aufzupassen und ihren Mann Sergej zu heiraten, falls sie sterben würde. Doch Sonja gab ihr eine Antwort, die in unseren Familien zum geflügelten Wort wurde:

„Ich bin nicht dein Ersatzmädchen. Ich finde mir meinen Mann einmal selbst. Und du, stirb du gefälligst nicht!“ Meine Mutter gehorchte.

Im Jahr darauf mieteten wir mit zwei anderen befreundeten Familien, den Anajews und den Rolenkos, die Datscha einer alten Bekannten meiner Großeltern in Sudak am Schwarzen Meer. Meine Freundin Oletschka Anajew und die zwei Töchter der Rolenkos waren traumhafte Spielgefährten für mich. Oletschka war lustig und stets zu Streichen aufgelegt und alles tanzte nach ihrer Pfeife. Für mich, die es gewohnt war, immer brav zu sein, war sie ein unerreichtes Vorbild. Manchmal wurde ich, gestärkt durch ihre Gegenwart, sogar ein bisschen frech.

Einmal machten wir alle zusammen einen Ausflug um den dortigen Berg Oltschaka. Der Weg war sehr uneben, und wo er notdürftig asphaltiert worden war, lagen Bruchstücke davon herum. Die Väter standen auf dem Beton und reichten einander ein Kind nach dem anderen weiter. An anderen Stellen konnten wir selbst von Steinbrocken zu Steinbrocken springen, so etwas vergisst man nie wieder.

Abbildung Karte der Ukraine

Unsere Hauswirtin und Vermieterin, Sinaida Petrowna, versorgte uns auch mit Essen. Wir saßen alle zusammen an einem langen Tisch und ließen es uns schmecken. Nur als es einmal gekochte Maiskörner als Beilage gab, beschwerte sich Peter Anajew übellaunig:

„Wie könnt ihr nur so etwas essen! Ihr seid wie die Pferde, nur die Schwänze fehlen euch noch!“

Er war, wie ich später erfuhr, aus dem Norden und kannte Mais als Lebensmittel nicht. Damals aßen die Leute nur regionale Produkte, denn es blieb ihnen meistens nichts anderes übrig.

Als ich siebeneinhalb war, verbrachten wir den Sommer in Feodosja. Dort lernte ich meinen zwei Jahre jüngeren Freund Georg (Jura) Bosse kennen. Die Bosses hatten sich in derselben Datscha eingemietet wie wir und anstatt mit seiner zwölfjährigen Schwester Olga spielte ich dauernd mit Jura. Nach so einem Bruder hatte ich mich immer gesehnt! Auch als die Eltern in einem gemieteten Boot eine Rundfahrt nach Jalta und Lavadia machten, wollt en wir Kinder nicht mit. Was könnte es in Jalta schon zu sehen geben?

Sein Vater erlaubte es Jura, auf dem Boden zu schlafen, und ich bettelte bei meiner Großmutter so lange, bis sie mir auch eines Nachts eine Decke auf dem Boden ausbreitete und ich dort bis zum Morgen auf dem harten Untergrund ausharrte, dies aber nie wiederholen wollte, so glücklich ich über die Erfüllung meines Wunsches gewesen war.

Da die Bosses in Charkow lebten, dauerte unsere Freundschaft an, bis ich zwölf war und mein Vater auf die Halbinsel Kolyma im hohen Norden versetzt wurde. Als ich zwei Jahre später mit 14 zurückkam, hatten wir uns auseinandergelebt.

Doch seine Schwester Olga galt als altklug und streng, ich hatte Angst vor ihr, weshalb ich die ganzen Jahre fast nur mit Jura sprach. Viel später fand ich heraus, dass Olgas und Juras Mutter den Sohn der Tochter so sehr vorzog, dass das ältere Mädchen immer verschlossener wurde. Jedes Jahr besuchten die Familien einander, meist im Frühling, aber einmal auch zur Weihnachtszeit.

Dies waren noch keine wirklich schlechten Zeiten. Doch als Stalin an die Macht kam, wurde alles allmählich immer schwieriger und gefährlicher. Zunächst machte er sich an die Vernichtung der „alten“ Intelligenz, derjenigen, die vor der Revolution in leitenden Positionen waren, doch dann vertrieb er und merzte auch noch die nachfolgenden Funktionäre aus.

Als kleines Mädchen bekam ich natürlich nichts davon mit, denn meine Eltern sprachen in meiner Gegenwart nie über Politik.

Es war unter Stalin streng verboten Weihnachten zu feiern. Weihnachtsbäume galten als „religiöses Vorurteil“, in Jusowka gab es keine zu kriegen, doch in Charkow wurden sie vereinzelt zum Verkauf angeboten. Meine Mutter kaufte also bei unserem Adventsbesuch bei der Familie Bosse eine kleine Fichte, wickelte sie in ein Tuch ein und nähte dieses sorgfältig zusammen. Zu der Zeit war es allgemein nicht üblich mit Koffern zu verreisen. Jeder hatte sein geschnürtes oder zugenähtes Bündel auf Reisen dabei. Diese Bündel bestanden aus einem Sackleintuch, das auf der einen Seite mit Knöpfen, auf der Gegenseite aber mit Knopflöchern ausgestattet war. Unten nähte man sie zu, an den Seiten und oben war ein Saum, durch den ein Strick geführt wurde, den man dann zusammenziehen konnte. War das Bündel zugeknöpft und der Strick verknotet, hatte man ein prima Reisegepäck. Der Strick wurde im oberen Teil noch mit Leder verstärkt, damit man das Bündel auch tragen konnte.

 

Als meine Mutter das Tannenbäumchen aus Charkow auspackte, standen nicht nur meine Großeltern, sondern auch mein Onkel Konstantin (Kostja) und meine Tante Sonja mit dabei.


Wir verbrachten das folgende Osterfest auf dem Gut meiner Großeltern mütterlicherseits. Sie hatten ein Schwein und Hühner. Ich sah zum ersten Mal Küken schlüpfen. Und meine Oma Sabine hatte Grassamen in eine Schüssel mit Erde getan, die aufgegangen waren. Die ganze Schüssel war voll mit dichtem grünem Gras, in das sie gefärbte Eier legte. Natürlich gab es zu jener Zeit keine Eierfarben, doch man legte die Eier z.B. in kochendes Zwiebelhautwasser, dann wurden sie gelb. Um sie rot oder blau zu färben, tat man dann anschließend noch etwas Tinte ins Wasser.

Von Opa bekam ich zu Ostern ein Bilderbuch für Kinder, das mit Versen ausgestattet war. Es hieß „Die Abenteuer von Grischka in der Arktis“. Es war mir schon vorher leicht gefallen, Gereimtes schnell auswendig zu behalten und nie wieder zu vergessen. Der Rhythmus klang in meinem Kopf nach, so schien es mir.


Das russische „r“ ist für Kinder schwer auszusprechen, die meisten sagen daher zuerst „l“, wenn ein „r“ in einem Wort vorkommt. Als ich viereinhalb war, gelang mir das zum ersten Mal, eben durch das Lesen der Abenteuer „Grischkas“.

Denn dieses Mal sprach ich auch das „r“ perfekt aus.

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Es heißt allgemein, wer in Sprachen und Literatur begabt ist, ist auch musikalisch. Das trifft auf jeden Fall für mich nicht zu. Mein Vater sang sehr schön und spielte gut Klavier. Das hat mich nie begeistern können und ich lernte trotz vielen Übens nie gut Klavierspielen.

Bevor ich in die Schule kam, hatte ich auch Privatunterricht in Deutsch. Der Lehrer kam zweimal die Woche zu uns und spielte mit mir „Schwarzer Peter“. Meine Deutschkenntnisse kamen mir später im Leben sehr gelegen.

Meine Großeltern beaufsichtigten mich öfter und mein Großvater brachte mir, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, manchmal einen Bonbon oder einen Keks mit. Dabei sagte er jedes Mal: „Ich habe heute Hoka getroffen und sie hat mir das für dich gegeben“. Natürlich hatte er Hoka erfunden, aber als kleines Mädchen wusste ich das nicht und traute mich auch nie zu fragen, wer das denn sei. Ich traf sie auch nie auf der Straße und stellte sie mir schließlich wie einen riesigen Osterhasen vor.

Von zwei anderen bleibenden Erinnerungen aus meiner frühen Kindheit muss ich unbedingt auch noch erzählen. Als ich vier war, gingen meine Eltern einmal abends aus und ließen mich mit dem Dienstmädchen alleine zurück. Ich hatte einen schlechten Traum, wachte auf und rief nach meiner Mutter. Das Mädchen beruhigte mich, indem sie mir erklärte, Mama und Papa seien bei den Großeltern und kämen bald wieder. Als ich dann, da ich genau wusste, dass die Großeltern ganz in der Nähe wohnten, bat, auch dorthin gehen zu dürfen, meinte sie:

„Tanja, es ist jetzt dunkel draußen. Und im Dunkeln sind die Wölfe. Wenn du jetzt rausgehst, fressen dich die Wölfe.“

Ich fürchtete mich entsetzlich und hörte auf mit der Bitte zu meiner Mutter gehen zu dürfen. Ich dachte nicht daran, dass die Wölfe auch meine Mutter fressen könnten, aber ich habe mich danach eine lange Zeit vor der Dunkelheit gefürchtet. Selbst als Erwachsene, wenn ich in ein dunkles Zimmer gehen sollte, von dem ich genau wusste, dass dort kein Wolf lauern konnte, stellte ich mir einen geöffneten Wolfsrachen mit seinen spitzen Zähnen vor.

Die andere unvergessene Erinnerung ist meine Enttäuschung darüber, dass ich mit fünf Jahren noch nicht erwachsen war. Auf Russisch heißt es nämlich „vier Jahre alt“ jedoch „fünf Sommer alt“. An meinem fünften Geburtstag lag morgens ein Buch auf meinem Bett. Es hieß „Mischa im Blaubeerwald“. Ohne ihm die geringste Beachtung zu schenken, rannte ich zum Kleiderschrank mit dem Spiegel in der Tür und war erschüttert, dass ich immer noch das gleiche kleine Mädchen war wie am Abend zuvor.



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