Buch lesen: «Engelchen...»

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Irene Dorfner

Engelchen...

Leo Schwartz ... und Vater Tod

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

VORWORT

ANMERKUNG:

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Liebe Leser!

1.

2.

Von der Autorin sind bisher folgende Bücher erschienen:

Über die Autorin Irene Dorfner:

Impressum neobooks

Impressum

Copyright © 2016 Irene Dorfner

Copyright überarbeitete 2. Auflage 2021 –

© Irene Dorfner, Postfach 1128, 84495 Altötting

www.irene-dorfner.com

All rights reserved.

Lektorat: FTD-Script Altötting

EarL und Marlies Heidmann, Spalt

VORWORT

Das Schlimmste, das man der Wahrheit antun kann, ist,

sie zu kennen und

dennoch zu ignorieren.“

Jacques Benigne Bossuet (1627 – 1704)

Ich wünsche ganz viel Spaß beim Lesen des 18. Falles mit Leo Schwartz & Co.!!

Liebe Grüße aus Altötting

Irene Dorfner

ANMERKUNG:

Die Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Der Inhalt des Buches ist reine Fantasie der Autorin. Auch hier sind Ähnlichkeiten rein zufällig. Die Örtlichkeiten wurden den Handlungen angepasst.

und jetzt geht es auch schon los:

1.

Dienstag, 30. August – 14.30 Uhr

„Guten Abend, gut‘ Nacht, mit Rosen bedacht,…“ sang Maja Ettl leise und streichelte ihrer Tochter Lina dabei über den Kopf. Ihr 4-jähriger Sohn Marco schlief tief und fest und hörte sie nicht. Seinen Teddybären hielt er fest im Arm. Er hatte das Schlafmittel ohne Widerspruch geschluckt, aber die 7-jährige hatte sich gewehrt und eine große Menge wieder ausgespuckt. Wie lange würde es brauchen, bis auch sie endlich schlief? Solange Lina wach war, konnte sie das Feuerzeug nicht zünden. Ihre Tochter hatte sie angefleht, das Feuerzeug wegzulegen. Ahnte sie, was sie vorhatte? Lina war für ihr Alter sehr klug. Sie wollte schon immer alles ganz genau wissen und beobachtete alles um sich herum. Noch bevor sie im letzten Jahr eingeschult wurde, kannte sie alle Buchstaben auswendig, ohne dass sie jemand dazu drängte. Auch Zahlen und Farben waren ihr vertraut. Wie sehr hätte sie ihrer Tochter gewünscht, dass sie ihren Weg ginge und alles erreichen würde, was sie sich vornahm. Aber nicht in dieser schlechten, herzlosen Welt, die sich einen Dreck um ihre Tochter, geschweige denn um ihren Sohn scherte. Marco war Autist, aber das hatte sie nie gestört. Ihr Sohn lebte nun mal in seiner eigenen Welt und das hatte jeder zu akzeptieren. Marcos Betreuung traute sie niemandem zu. Niemand würde sich um die Pflege und Förderung kümmern, die er brauchte. Vor allem würde niemals jemand ihre Kinder so sehr lieben, wie sie es tat. Sie war die Mutter der beiden und das wollte man ihr wegnehmen. Sie fühlte sich dazu verpflichtet, sie vor der grausamen Welt zu schützen.

„Weißt du wieviel Sternlein stehen,…“ schloss sie das nächste Schlaflied nahtlos an, denn Lina wollte immer noch nicht schlafen. Das Mädchen hatte einen starken Willen und wehrte sich vehement gegen den Schlaf. Aber das würde ihr nichts nützen. Irgendwann schlief sie ein und so lange musste Maja warten. Sie wollte nicht, dass ihre Tochter die Explosion mitbekam, das wollte sie ihr nicht zumuten. Vielleicht brauchte sie das Feuerzeug nicht und das ausströmende Gas würde alle drei still und leise töten. Das wäre die einfachste Lösung, aber das war ihr sicher nicht vergönnt. Die Küche war offen gestaltet und die angrenzenden Räume waren riesig. Bis sich das hier mit Gas füllte, brauchte es sehr lange. Zu lange! Draußen stand der Feind und es war nur eine Frage der Zeit, wann man sich gewaltsam Zugang verschaffen würde. Die Zeit drängte, aber das durfte sie sich nicht anmerken lassen. Je ruhiger sie blieb, desto schneller schlief ihre Lina ein.

Alle drei saßen auf dem Küchenboden des schmucken Einfamilienhauses in Mühldorf am Inn, das sie und ihr Mann zur Hochzeit vor sieben Jahren von ihren Schwiegereltern geschenkt bekamen. Alles sah nach außen hin rosig aus und die kleine Familie führte ein Bilderbuchleben, um das sie viele beneideten. Aber niemand kannte die Wahrheit. Alle hatten ihnen die Komödie abgenommen. Seit ihr Schwiegervater tot war, war es ruhig geworden. Trotz seines Todes war sie erleichtert und hatte wieder zuversichtlich in die Zukunft geblickt. Anfangs war sie skeptisch, ob die Fassade trotz des Todes des tyrannischen Familienoberhauptes aufrechterhalten werden konnte oder ob nicht doch ein Funken Wahrheit an die Oberfläche gespült wurde. Aber nichts geschah. Alles lief einfach weiter. Und sie fing an, ihr Leben zu genießen und die Vergangenheit hinter sich zu lassen.

Vor drei Wochen begann der Alptraum und ihr Leben fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Maja hatte keine Kraft mehr und musste dem allen ein Ende setzen. Sie konnte nicht mehr kämpfen. Vor allem nicht gegen einen scheinbar übermächtigen Feind, von dem sie nicht einmal wusste, wer es war. Egal. Wer auch immer sie vernichten wollte, hatte gewonnen. Sie gab auf. Aber ihre Kinder hatte sie bei sich und sie beschloss, sie mit sich zu nehmen.

Endlich wurde Lina ruhiger und Maja griff langsam zum Feuerzeug, wobei sie darauf achtete, dass ihre Tochter nichts davon mitbekam.

Nur noch wenige Augenblicke, und sie hatte endlich Ruhe.

2.

Vor dem Haus in der Ahornstraße war viel los. Neben Polizei, Krankenwagen und vielen Schaulustigen hatten sich auch die Beamten der Kriminalpolizei Mühldorf eingefunden. Während Polizei und Feuerwehr hauptsächlich damit beschäftigt waren, die Straße zu räumen und die Anwohner und Schaulustigen zum Weggehen zu bewegen, suchten die Kriminalbeamten verzweifelt nach einem Weg, irgendwie ins Haus zu kommen. Der Strom wurde längst abgedreht, aber die Gasleitung war immer noch nicht gekappt worden.

„Wie lange dauert das denn noch,“ sagte Leo Schwartz verärgert. Der 51-jährige, gebürtige Schwabe stach auch heute wieder nicht nur durch seine Größe von 1,90 m hervor, sondern durch ein schwarzes T-Shirt, auf dem ein neofarbener Kopf eines unbekannten Freiheitskämpfers prangte. Vor allem die sonnenverbrannte Haut, die sich inzwischen von Kopf und Armen ablöste, sowie die Badelatschen, zogen alle Blicke auf sich. Aber das war alles nebensächlich und interessierte Leo nicht.

Es war heiß, sehr heiß. Für Ende Juni nicht ungewöhnlich, aber die Hitze erschwerte die Arbeit.

„Die Gaswerke sind dran,“ sagte Werner Grössert äußerlich gefasst, aber innerlich brodelte es. Dem 40-Jährigen schien die Hitze nichts auszumachen, denn auch heute sah er wieder wie aus dem Ei gepellt aus. Er trug wieder einen sündhaft teuren, modernen Anzug, dessen Stoff in der Sonne glänzte. Werner machte sich große Sorgen, denn er kannte Maja persönlich. Für ihn stellte sich nicht die Frage, warum sie ihrem Leben ein Ende setzen und ihre Kinder mitnehmen wollte, er konnte sie irgendwie verstehen. Man hatte ihr übel mitgespielt und das war das Resultat. Erneut ging er die Pläne des Hauses durch und suchte mit Hochdruck nach einem Weg, irgendwie doch noch ins Haus zu gelangen. Hans Hiebler stand ihm zur Seite. Den 55-jährigen Junggesellen umgab wieder ein betörender Herrenduft. Außerdem war er braungebrannt und trug zu seinem weißen Leinenhemd Jeans und Slipper, alles farblich aufeinander abgestimmt. Hans machte sich von allen die größten Sorgen, denn Maja hatte bei ihm Hilfe gesucht und er hatte in seinen Augen kläglich versagt. Er kannte die 41-jährige Frau von klein auf. Sie wuchs auf einem der Nachbarbauernhöfe auf, die an seinen grenzten. Ihn und Maja trennten zwar viele Jahre, aber trotzdem lief man sich immer wieder über den Weg.

„Das Haus ist wie eine Festung gebaut,“ sagte Werner verzweifelt. „Die Fenster können wir vergessen, die sind alle vergittert. Die Haustür ist so solide, dass man sie sprengen müsste. Und der Keller ist von außen nur durch die Garage zu erreichen.“

„Was ist mit dem Garagentor?“

„Das ist verschlossen und müsste aufgeschweißt oder ebenfalls gesprengt werden. Das ist doch nicht zum Aushalten! Wir kommen nicht ins Haus!“

„Wo bleibt Susanne Ettl? Sie müsste doch schon längst hier sein!“, rief Leo verärgert. Seit die Mühldorfer Kripo den Abschiedsbrief gefunden hatte, suchten sie mit Hochdruck nach der Schwägerin, die sich offensichtlich in der Schweiz aufhielt. Aber wo? Nur sie hatte einen Hausschlüssel. Und nur sie konnte vielleicht zu ihrer Schwägerin durchdringen und sie zur Aufgabe überreden. Die Polizei hatte alle möglichen Freunde aufgetrieben, die vergeblich versucht hatten, Maja von ihrem Vorhaben abzuhalten. Eigene Familienangehörige hatte Maja nicht. Außer ihrer Schwägerin Susanne war niemand übriggeblieben.

Keiner zweifelte daran, dass Maja ihr Vorhaben durchziehen wollte.

Maja interessierte nicht, was vor ihrem Haus ablief. Sie wartete nur darauf, dass ihre Tochter endlich einschlief. Vorher konnte sie das Feuerzeug nicht betätigen. Sie spürte das Gas, das sich immer mehr ausbreitete. Ein einziger Funke würde genügen. Nur ein einziger Funke und dann war endlich alles vorbei.

Linas Augen wurden schwerer und schwerer. Maja sang unvermittelt weiter. Seltsam. Gerade jetzt fielen ihr alle Schlaflieder ein, die sie jemals gehört hatte. Dabei war es ihr gleichgültig, ob sie die Liedtexte richtig wiedergab. Es war nur wichtig, dass sie weitersang und ihre Tochter endlich einschlief.

3.

Vier Wochen vorher.

Mittwoch 3. August

„Ich brauche keinen Arzt, mir geht es gut,“ wehrte sich Maja gegen die festen Griffe der beiden Sanitäter, die sie sanft, aber bestimmt aus dem Bett zogen. Sie hatte keine Chance gegen die beiden und musste sich geschlagen geben. Schon seit Tagen fühlte sie sich schlapp und hatte keinen Appetit. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie ihren Mann, der neben der Tür stand.

„Sandro, hilf mir,“ flehte sie ihren Mann an. Aber der schüttelte mit Tränen in den Augen den Kopf.

„Es ist besser so Liebes, glaub mir,“ flüsterte er.

„Lina und Marco,“ bäumte sie sich von der Trage auf und wurde sofort unsanft wieder zurückgedrückt.

„Ich kümmere mich um die beiden, mach dir keine Sorgen,“ sagte Sandro Ettl. Seine Frau so zu sehen, schnürte ihm die Kehle zu. Maja war immer stark gewesen und darum hatte er sie immer bewundert. Er war nie so stark wie sie. Er hielt sich lieber im Hintergrund und ließ andere vorpreschen. Außerdem hasste er Probleme. Er ging allem Unangenehmen aus dem Weg. Dafür hatte er seine Maja, die wie ein Fels in der Brandung immer parat stand, wenn es Schwierigkeiten gab. Aber seit Tagen erkannte er seine Frau nicht wieder. Sie lag nur noch im Bett, aß und trank nichts und faselte nur dummes Zeug. Es war richtig gewesen, Hilfe zu holen.

Der Arzt entschied, Maja zu fixieren, woraufhin sie ihn anstarrte.

„Das ist zu Ihrem Besten,“ sagte er nur. Dr. Salzberger konnte nicht riskieren, dass die an sich körperlich kräftige Frau durch eine Unachtsamkeit von der Trage fiel. Die Folgen wären für ihn katastrophal. Er hatte versprochen, sich um die Patientin zu kümmern, wofür er fürstlich belohnt wurde. Zur Sicherheit gab Dr. Salzberger der Patientin, die er bis dato persönlich nicht kannte, eine Beruhigungsspritze. Sie wirkte schnell und er konnte sie endlich abtransportieren lassen.

Sandro Ettl sah dem Krankenwagen hinterher. Er fragte nicht, wohin seine Frau gebracht wurde, es war ihm im Moment auch egal. Geschockt von dem Zustand seiner Frau und dem, was er die letzten Tage beobachten musste, stand er einfach nur da und beantwortete die Fragen Dr. Salzbergers.

„Wer hat den Notarzt alarmiert?“

„Unser Kindermädchen Elena fand meine Frau in diesem Zustand. Sie bekam es mit der Angst zu tun und hat mich im Büro angerufen. Meine Mutter hat alles weitere in die Wege geleitet.“

Dr. Salzberger machte eifrig Notizen.

„Was ist mit meiner Frau?“

„Das finden wir heraus, machen Sie sich keine Sorgen. Nimmt Ihre Frau Medikamente?“

„Keine Ahnung. Müsste ich nachsehen,“ murmelte Sandro Ettl, ohne Anstalten zu machen, sich zu bewegen.

„Wenn Sie das bitte tun würden?“ Als sich Sandro Ettl immer noch nicht rührte, fügte er hinzu: „Es ist sehr wichtig.“

Wie ferngesteuert setzte er sich in Bewegung und ging ins Bad. Die Hausapotheke war übersichtlich und bestand aus den üblichen Medikamenten eines Durchschnittsbürgers. Und aus einigen Naturheilmitteln, die keine Gefahr darstellten.

„Vielleicht im Schlafzimmer?“, bohrte Dr. Salzberger nach. Er hatte kein Mitleid mit Herrn Ettl, dafür hatte er schon viel zu viel Elend gesehen.

Sandro ging ins Schlafzimmer und öffnete die Schublade des Nachttisches seiner Frau. Erschrocken starrte er auf den Inhalt. Das alles soll seine Frau eingenommen haben?

„Was ist das für Zeugs?“

„Schlafmittel, Psychopharmaka, Schmerzmittel,“ sagte Dr. Salzberger und machte sich eifrig Notizen. „Leidet Ihre Frau an Angstzuständen? War sie in Behandlung?“

„Nein!“, rief Sandro viel zu laut. „Meine Frau war bis vor zwei Wochen kerngesund. Das hier passt nicht zu ihr. Maja hasste Medikamente und würde dieses Teufelszeugs niemals anrühren. Woher hat sie das?“

„Beruhigen Sie sich,“ sagte Dr. Salzberger. „Nur noch eine Frage, dann bin ich weg. Wer ist der Hausarzt Ihrer Frau?“

„Sie vertraut Ärzten nicht. Sie gibt ihnen die Schuld am Tod ihrer Eltern. Ihrer Meinung nach wurden sie falsch behandelt und sind deshalb gestorben. Seit ich Maja kenne, geht sie zu einem Heilpraktiker. Auch unsere Kinder vertraut sie keinem Arzt an, weshalb es immer wieder Streit in der Familie gab.“

„Welcher Heilpraktiker?“

„Sein Name ist Philipp Zach. Er hat seine Praxis in Ampfing in der Bahnhofstraße. Was ist los mit Maja?“ Sandro sah Dr. Salzberger flehend an. Wartete er wirklich auf eine Antwort? Sollte er eine Diagnose aus dem Handgelenk schütteln? Er hatte keine Antwort für den Mann seiner Patientin. Stattdessen hielt er ihm das Klemmbrett vor.

„Unterschreiben Sie bitte hier und hier. Machen Sie sich keine Sorgen, Ihre Frau ist bei mir in den besten Händen. Ich werde mich persönlich um sie kümmern. Sobald ich eine Diagnose habe, melde ich mich bei Ihnen. Bis dahin bitte ich Sie, Geduld zu haben.“

Sandro nahm seine Jacke und machte Anstalten, den Arzt zu begleiten.

„Sie bleiben hier. Kümmern Sie sich um die Kinder. Soll ich Ihnen etwas zur Beruhigung hierlassen?“

Sandro schüttelte den Kopf und Dr. Salzberger verabschiedete sich und verschwand, so schnell er konnte.

Dr. Salzberger wählte die eingespeicherte Nummer, die ganz oben auf seiner Liste stand.

„Die Patientin ist auf dem Weg in meine Klinik.“

„Sehr gut. Wie ist ihr Zustand?“

„Augenscheinlich schlecht, sie stand unter starken Beruhigungsmitteln. Physisch ist sie in sehr gutem Zustand, sie wird sich schnell erholen.“

„Dann sehen Sie zu, dass das nicht geschieht. Ich brauche ein Gutachten, das jeder Prüfung standhält.“

„Ich kümmere mich darum.“

„Gut. Die vereinbarte Zahlung habe ich angewiesen.“

4.

Maja Ettl verstand kein Wort von dem, was die Menschen an ihrem Bett miteinander sprachen. Wo war sie? Und was war hier los? Sie versuchte, sich zu bewegen, aber das gelang ihr nicht. Reiß dich zusammen! Sie konzentrierte sich nur auf ein Gesicht, das sich dicht über sie beugte. Wer war das? Ein Mann. War er es? Panik stieg in ihr auf. Dann spürte sie einen Schmerz an ihrem Arm. Sie kämpfte gegen den Schlaf an und musste sich ihm geschlagen gegeben.

Sie kam wieder zu sich und sah sich um. Die Sonne schien und wenn sie sich konzentrierte, konnte sie die Vögel singen hören. Wo war sie?

Reiß dich zusammen!

Sie saß in einem Rollstuhl in einem Garten, den sie nicht kannte. Neben ihr saß eine Frau und las in einem Buch. War das ein Buch? Nein, sie tippte in ein Handy! Maja bemühte sich zu sprechen, was ihr nicht gelang. Ihre Kieferknochen gehorchten ihr nicht und ihre Zunge war so dick angeschwollen, dass sie den ganzen Mundraum ausfüllte. Sie versuchte, ihre Hände zu bewegen, die reglos in ihrem Schoß lagen. Nur der Zeigefinger der rechten Hand gehorchte ihr, alle anderen Glieder waren bleischwer und sie war nicht in der Lage, sie zu bewegen. Die Frau blickte von ihrem Handy auf und lächelte sie an. Maja bemühte sich, mit ihren Augen zu sprechen. Ob die Frau sie verstand? Offensichtlich nicht, denn sie widmete sich wieder ihrem Handy. Unter größter Anstrengung versuchte Maja, ihre Glieder zu bewegen, bis sie schließlich erschöpft aufgab.

„Gehen wir rein, Sie sehen müde aus,“ sagte die Frau, stand auf und schob sie in ein ihr unbekanntes, großes Haus. Wo war sie hier? War das die Realität oder träumte sie nur? Maja versuchte, die Umgebung wahrzunehmen. Je länger sie durch die Gänge geschoben wurde, desto mehr war sie davon überzeugt: Das war ein Krankenhaus! Was zum Teufel machte sie in einem Krankenhaus? Sie war noch nie in ihrem Leben krank gewesen und hatte es sogar bei den Entbindungen ihrer Kinder strikt abgelehnt, in ein Krankenhaus zu gehen. Ihre Kinder! Wo waren sie? Ging es ihnen gut? Sie wurde unruhig, was die Frau, die sie nun in ein Bett legte, zu bemerken schien.

„Bleiben Sie ruhig, Frau Ettl. Alles ist in Ordnung. Ich gebe Ihnen eine Spritze und dann können Sie sich ausruhen.“

Hilflos musste Maja mit ansehen, wie die Frau eine Injektion in die Kanüle in ihrem Handrücken spritzte. Sie wollte sich wehren, hatte aber keine Kraft. Sie spürte, dass sie langsam müde wurde. Nein, sie durfte nicht schlafen! Sie wollte wach bleiben und versuchen, hier irgendwie wegzukommen.

„Sehen Sie Frau Ettl, alles wird gut. Schlafen Sie! Ich sehe ab und zu nach Ihnen. Hier bei uns sind Sie in besten Händen. Dr. Salzberger kommt morgen und kümmert sich um Sie. Nicht mehr lange, und es wird Ihnen bessergehen.“

Maja hörte die letzten Worte der Fremden nicht mehr und fiel in einen traumlosen Schlaf.

5.

„Wo ist meine Frau?“, rief Sandro Ettl ins Telefon. „Ich möchte sie sehen!“

„Das kann ich leider nicht erlauben. Besuche sind in dem momentanen Zustand Ihrer Frau nicht angeraten.“

„Ich bin der Ehemann und ich bestehe darauf, meine Frau besuchen zu dürfen.“ Sandro war außer sich. Maja war seit drei Tagen weg und er vermisste sie. Die Kinder fragten ständig nach ihr und er wusste nicht mehr, was er ihnen sagen sollte. Gestern früh erfuhr er von seiner Mutter, wo Maja hingebracht wurde. Er war überrascht, dass sie in einer Privatklinik am Chiemsee war. Eine vernünftige Erklärung bekam er von seiner Mutter nicht. Sie betonte immer nur, dass Maja dort in besten Händen sei. Seine Mutter gab sich fürsorglich und das machte ihn misstrauisch. Vor allem, weil sie und Maja sich noch nie verstanden haben. Hatte er seine Mutter falsch eingeschätzt? Sorgte sie sich mehr um Maja, als er es erwartet hatte? Nachdem Sandro mehrmals vergeblich versucht hatte, Dr. Salzberger telefonisch zu erreichen, war er heute früh zum Chiemsee gefahren, der nur knapp eine Stunde entfernt war. Man hatte ihn nicht zu seiner Frau gelassen. Ging es ihr so schlecht? Was zum Teufel war mit ihr los? Wütend und voller Sorge fuhr er unverrichteter Dinge wieder nach Hause. Dabei nahm er sich fest vor, sich nicht mehr abwimmeln zu lassen. Er bestand darauf, mit Dr. Salzberger zu sprechen, was ihm nach mehreren Anläufen endlich gelang.

„Ich verstehe Ihre Sorgen, Herr Ettl. Aber in erster Linie muss ich an Ihre Frau denken. Sie braucht absolute Ruhe, die wir ihr zugestehen sollten. Besuche kann ich noch nicht erlauben. Ich melde mich bei Ihnen.“

„Wenn ich bis morgen früh keine Informationen von Ihnen bekomme, hetze ich die Polizei und die Presse auf Sie.“ Noch während Sandro sprach, wusste er bereits, dass er das niemals tun würde. Am Telefon war er stark, aber der Mut verließ ihn schnell wieder.

Dr. Salzberger legte auf und atmete tief durch. Wie lange würde sich Sandro Ettl noch hinhalten lassen? Er konnte den Aufenthalt der Patientin in seiner Klinik ohne schlechtes Gewissen verantworten, obwohl die Medikation an der Grenze war. Was sollte er tun? Ihm waren die Hände gebunden.

„Der Ehemann macht Schwierigkeiten,“ sagte Dr. Salzberger, nachdem er die vertraute Nummer gewählt hatte. „Er drängt auf einen Besuch und droht mit Polizei und Presse.“

„Sandro? Nie im Leben! Der spielt sich nur auf. Machen Sie Ihre Arbeit und belästigen Sie mich nicht mit Kleinigkeiten.“

„Polizei und Presse sind für mich keine Kleinigkeiten. Mein guter Ruf und der meiner Klinik steht auf dem Spiel.“

„Wenn Sandro zur Polizei gehen will, was ich bezweifle, dann soll er das tun. Was kann er schon ausrichten? Sie sind der Arzt und entscheiden, ob die Patientin Besuch empfangen kann, oder nicht. Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Und die Presse hat ganz sicher kein Interesse an einem Krankheitsfall. Was macht das Gutachten?“

„Der Termin ist am 10. August. Ich habe einen der renommiertesten Fachärzte gewinnen können: Dr. Aicher. Seine Gutachten wurden vor Gericht noch nie angezweifelt.“

„DER Dr. Aicher aus Trier?“

„Genau der,“ sagte Dr. Salzberger nicht ohne Stolz. „Jetzt gilt es, die Patientin darauf vorzubereiten, dass Dr. Aicher das attestiert, was wir uns wünschen.“

„Das ist Ihre Aufgabe und dafür werden Sie fürstlich belohnt. Der Termin am 10. August ist perfekt.“

„Sie können sich nicht vorstellen, was ich unternommen habe, um Dr. Aicher für unsere Sache zu gewinnen.“

„Auch dafür werden Sie bezahlt.“

„Ihnen ist klar, dass die Patientin nach dem Gutachten und dem zu erwartenden Gerichtsentscheid die nächsten Jahre ihres Lebens in geschlossenen Anstalten verbringen wird?“

„Ja, das wird wohl so sein. Armes Ding! Aber das ist nicht mein Problem. Ich brauche dieses Gutachten und dafür müssen Opfer gebracht werden.“

Dr. Salzberger hatte einen Anflug von Skrupel. Seit Dr. Aicher zugesagt hatte, bekam er nach anfänglicher Euphorie Bauchschmerzen. Was, wenn der Spezialist den Schwindel durchschaute? Dann wäre er ruiniert und würde nie wieder seinen Beruf ausüben können. Welche andere Wahl hätte er denn?

Die Schadensersatzansprüche aus einem Behandlungsfehler, den er aus seiner Sicht nicht zu verantworten hatte, brachen ihm das Genick. Er hatte alles beleihen müssen, was in seinem Besitz war, um die horrende Summe begleichen zu können. Und dann war die Heizung seiner kleinen Privatklinik kaputtgegangen. Wie hätte er die Reparatur, geschweige denn eine neue Heizung bezahlen sollen? Die Bank gab ihm keinen Cent mehr und Freunde hatte er keine, die er um Geld bitten konnte. Das würde er auch nie wagen, dafür schämte er sich zu sehr. Er hatte sich in den Jahren einen sehr guten Ruf erarbeitet, den er durch einen finanziellen Engpass nicht aufs Spiel setzen wollte. Aber die Geldsorgen lasteten schwer auf ihm und er würde nicht mehr lange durchhalten können. Als er schon aufgeben wollte, bekam er dieses verlockende Angebot, dem er nicht widerstehen konnte. Mit der Summe könnte er eine Heizung und sogar einen kleinen Urlaub finanzieren, den er sich redlich verdient hatte. Hoffentlich lief alles so, wie er es sich vorstellte. Er nahm die Akte Maja Ettl und besah sich die Medikamentenliste, die Dr. Aicher natürlich niemals zu Gesicht bekam. Für ihn lag bereits eine Akte für die Patientin bereit, an der er lange gearbeitet hatte. Dr. Salzberger schüttelte langsam den Kopf. Die Medikation musste bis zum Eintreffen Dr. Aichers zurückgeschraubt werden, um sie dann kurzfristig wieder zu erhöhen. Nur so konnte gewährleistet werden, dass die Patientin so reagierte, wie sie sollte. Er gab sofort eine entsprechende Anweisung an die Pflegekraft Silke.

€2,99

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0+
Umfang:
271 S. 2 Illustrationen
ISBN:
9783738079777
Verleger:
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