Buch lesen: «Adlerholz»

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Irene Dorfner

Adlerholz

Leo Schwartz ... und der Holzschmuggel

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

VORWORT

ANMERKUNG:

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

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10.

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14.

Liebe Leser!

1.

Von der Autorin sind bisher folgende Bücher erschienen:

Über die Autorin Irene Dorfner:

Impressum neobooks

Impressum

Copyright © 2014 Irene Dorfner

3. Auflage Copyright © 2021 Irene Dorfner

All rights reserved.

Cover und Text ©

Irene Dorfner. Postfach 1128, 84495 Altötting

Lektorat: FTD-Script, D-84503 Altötting

VORWORT

Die Sonne, der Mond und die Sterne wären schon lange verschwunden … wären sie in der Reichweite gieriger menschlicher Hände.“

(Havelock Ellis)

Ich wünsche ganz viel Spaß beim Lesen des neunten Falles mit Leo Schwartz & Co.!!

Liebe Grüße aus Altötting

Irene Dorfner

ANMERKUNG:

Die Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Der Inhalt des Buches ist reine Fantasie der Autorin. Auch hier sind Ähnlichkeiten rein zufällig. Die Örtlichkeiten wurden den Handlungen angepasst.

Mein Dank gilt ganz besonders dem Hotel Kraft in Florenz!

und jetzt geht es auch schon los:

1.

Mit vorgehaltener Waffe wurde er dazu gezwungen, sich dem Ufer der Alz zu nähern. Was hatte der Mann vor?

Ihm war kotzübel, am liebsten hätte er sich übergeben. Aber er musste bei klarem Verstand bleiben und auf jede Kleinigkeit achten. Vielleicht hatte er doch noch eine Chance, irgendwie aus dieser verfluchten Situation rauszukommen. Denk nach! Und vor allem: Bleib verdammt nochmal ruhig!

„Wollen Sie Geld? Ich bezahle Ihnen jede Summe, die Sie verlangen! Ich bin reich,“ sagte er so ruhig wie möglich, obwohl das gelogen war. Er verfügte weder über Bargeld, noch über irgendwelche Wertgegenstände – im Gegenteil. Durch den Kauf einer Wohnung hatte er sich finanziell bis an seine Belastungsgrenze verschuldet. Aber das war im Moment zweitrangig. Jetzt musste er irgendwie aus dieser Situation rauskommen. Wenn ihm das mit Hilfe einer Lüge gelingen sollte, war das völlig egal.

Bisher hatte der Fremde kein Wort gesagt. Er hatte durch seine Körpersprache und Zeichen unmissverständlich klargemacht, was er von ihm verlangte.

Wie war es nur so weit gekommen? Der Tag war wie jeder andere verlaufen, nichts hatte auf das hier hingedeutet. War er unvorsichtig geworden? Hätte er besser aufpassen sollen? Es lief doch alles perfekt. Direkt vor seinem Zuhause in Kastl hatte der Mann ihn abgefangen und mit vorgehaltener Waffe gezwungen, sich in den Wagen zu setzen. Natürlich war er den Anweisungen gefolgt, was hätte er auch sonst tun sollen? Die Umgebung war trotz der späten Stunde noch voller Menschen, die es sich in ihren Gärten gemütlich machten oder auf der Straße ein Schwätzchen hielten. Auch Hundebesitzer trieb es jetzt nach draußen, da die Temperaturen nun erträglich waren. Sogar auf dem nahen Spielplatz hatten sich einige Jugendliche eingefunden, die lachten und sich unterhielten. Nein, hier konnte er nichts riskieren, das war für Unbeteiligte viel zu gefährlich, Widerstand zu leisten. Diese Tatsache und auch die kalten Augen des Mannes, die ihm sofort Angst eingeflößt hatten, machten ihm klar, dass er sich fügen musste. Mit dem Typen war nicht zu spaßen. Im Wagen hatte der Mann ihm die Hände am Rücken mit Kabelbinder zusammengebunden. Natürlich hatte er sofort versucht, sich von den Fesseln zu befreien, aber es gelang ihm nicht – die Kabelbinder waren bis zur Schmerzgrenze fest zugezogen und ließen ihm keinen Spielraum. Die Fahrt begann und er versuchte, irgendwie aus dem Wagen zu kommen, aber der war verschlossen – er war gefangen. Jetzt versuchte er ununterbrochen, den Mann in ein Gespräch zu verwickeln, aber der reagierte nicht, blickte nur stur geradeaus.

Wo wollte der Mann hin? Sie fuhren nach Burgkirchen, am Werk Gendorf vorbei und bogen nun am Kreisverkehr nach rechts.

„Was wollen Sie von mir? Machen Sie endlich den Mund auf!“, schrie er nun panisch, worauf der Mann unvermittelt ausholte und ihm direkt ins Gesicht schlug. Der Schlag kam so plötzlich und mit solch einer Wucht, dass er zur Seite schleuderte und kurze Zeit benommen war. Das darf nicht passieren, reiß dich zusammen! Du musst jetzt bei klarem Verstand bleiben!

Der Wagen stoppte schließlich und sie warteten, sie warteten endlos lange. Der Mann sagte immer noch kein Wort, ging ab und zu aus dem Wagen, um eine Zigarette zu rauchen. Aber was tat er denn da? Bückte er sich tatsächlich, um die Zigarettenstummel aufzuheben? Das taten nur Profis! Oh mein Gott! Er schwitzte aus allen Poren und der Schweiß brannte in seinen Augen. Durch den Schlag blutete er am Auge, das nun rasend schnell auch noch zuschwolI, bis er auf dem Auge fast nichts mehr sah. Im Wagen herrschten inzwischen tropische Temperaturen. Dazu kam diese unermessliche Angst, denn er ahnte, was ihm bevorstand.

Der Mann ging einige Meter und beobachtete den Himmel, bevor er das Handy zur Hand nahm und nur wenige Worte sprach. Er kam zum Wagen zurück, öffnete die hintere Tür und zerrte ihn unsanft aus dem Wagen, wobei er ihm abermals seine Waffe direkt vors Gesicht hielt.

„Was wollen Sie von mir, verdammt nochmal? Was soll das alles? Wollen Sie Geld? Wertsachen? Nehmen Sie meine Brieftasche und meine Uhr!“, schrie er ihn verzweifelt an. „Hören Sie, wir sind doch erwachsene Menschen, wir können doch miteinander reden und finden bestimmt eine Lösung.“ Er redete einfach darauf los und wiederholte einige Sätze. Er musste dringend Zeit gewinnen, vielleicht spielte ihm das Schicksal doch noch in die Hände.

„Chiudi il becco!“, schrie ihn der Mann an und trieb ihn immer weiter vor sich her.

Er verstand ihn nicht.

„Was willst du von mir?“, jammerte er.

„Chiudi il becco!“, rief der erneut und es klang sehr bestimmt. „Dai!“, fügte er unmissverständlich hinzu und zeigte mit seiner Waffe in die Richtung, in die er gehen sollte. Das war eindeutig italienisch – oder irrte er sich? Konzentrier dich!

Er atmete tief durch und blickte verzweifelt um sich. Es war stockdunkel, es musste weit nach Mitternacht sein. Egal, er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Am heutigen Augusttag war es schon den ganzen Tag über schwül und unglaublich heiß gewesen. In den letzten Stunden hatte sich ein Gewitter zusammengebraut, das sich nun demnächst zu entladen drohte. Weit entfernt konnte man bereits einige Blitze erahnen und er glaubte auch, Donner zu hören. Eins – zwei – drei -… zählte er automatisch mit, wie er es von seiner Großmutter gelernt hatte. So konnte man die Entfernung in Kilometern errechnen, wie weit das Gewitter noch entfernt war. An was für einen Schwachsinn denke ich denn jetzt? Wen interessiert das? Bleib ruhig und versuche, nicht durchzudrehen! Wieder hatte er das Bild seiner Großmutter vor Augen, wie sie in ihrer bunten Schürze am Herd stand, im Topf rührte und ihn anlächelte. Er konnte sein Lieblingsessen sogar riechen! War er jetzt völlig verrückt geworden? Reiß dich gefälligst zusammen!

Hier standen sie nun im Dickicht des Alzufers, das nur wenige Meter von ihm entfernt war. Er war sich sicher, dass das hier die Alz war, denn das Werk Gendorf war unverkennbar noch in Sichtweite. Er zwang sich, ruhig zu atmen, was ihm immer schwerer fiel. Weit und breit war niemand zu sehen. Wo sind denn die Hundebesitzer und Nachtschwärmer, wenn man sie brauchte? Hier um Hilfe zu rufen war aussichtslos, trotzdem musste er es versuchen. Er schrie so laut er konnte und versuchte schließlich, vor diesem Irren wegzulaufen. Dabei war ihm jetzt vollkommen egal, wenn er schießen würde, denn er würde sowieso irgendwann schießen, das war ihm vollkommen klar. Er rannte um sein Leben, stolperte und der Mann zog ihn problemlos wieder auf die Füße. Sieh ihm in die Augen und lächle. Hatte er das nicht irgendwann mal gelernt? Egal, er versuchte es, aber der Mann sah ihn nicht einmal an, schubste ihn und deutete mit der Waffe, dass er weitergehen soll.

Dann hörte er nur noch zwei aufeinanderfolgende Schüsse und spürte einen heftigen, stechenden Schmerz.

2.

„Nein danke, ich möchte nichts essen. Sag mir endlich, was du von mir willst,“ sagte Werner Grössert genervt. Seine Mutter hatte ihn um ein dringendes persönliches Gespräch gebeten, was bis dato nur sehr selten vorgekommen war. Vor allem bestand sie auf einen neutralen Ort weit außerhalb von Mühldorf am Inn, wo sie jeder kannte. Werner schlug den Biergarten am Rande von Altötting vor, wo er tags zuvor mit seiner Frau gewesen war und vorzüglich gegessen hatte. Werners Mutter war hier im Biergarten in Altötting in ihrem sündhaft teuren Kostüm, dem vielen funkelnden Schmuck und der ganzen Erscheinung völlig fehl am Platz, ebenso wie der 39-jährige Werner Grössert selbst, der auch zur Arbeit bei der Mordkommission Mühldorf am Inn immer korrekt gekleidet im Anzug erschien, auch an solch heißen Tagen wie heute. Das Gewitter der letzten Nacht hatte keinerlei Abkühlung gebracht, denn es war hier in der Gegend mit Donner und Blitz nur vorbeigezogen. Knapp dreißig Kilometer weiter hatte das Unwetter hingegen riesige Schäden angerichtet. Die Landkreise Mühldorf und Altötting waren beinahe komplett verschont worden, aber die tropischen Temperaturen der letzten Tage setzten sich nun unvermittelt fort. Die Bedienung brachte Wasser in Bierkrügen, was Frau Grössert mit einem Naserümpfen zur Kenntnis nahm. Sie hasste es, aus solchen Gläsern zu trinken, aber das war jetzt nicht wichtig.

„Ich möchte zuerst klarstellen, dass das Gespräch hier unter uns bleibt. Auch zu deinem Vater kein Wort,“ sagte Frau Grössert bestimmt, während sie sich den Schweiß von der Stirn tupfte und sich dabei nervös umblickte. Sie saßen an diesem heißen Augusttag völlig alleine hier in der Ecke und konnten ungestört reden.

„Meinetwegen.“

„Gut, dann verlasse ich mich darauf. Meine Zeit ist knapp und ich komme daher gleich auf den Punkt. In den letzten Wochen werden dein Vater und ich terrorisiert.“ Sie atmete tief durch und ließ die Worte wirken. Werner Grössert schien keineswegs beeindruckt oder erschreckt, sondern musste schmunzeln.

„Übertreibst du da nicht ein wenig?“

„Keineswegs. Dein Vater bekommt seit geraumer Zeit merkwürdige Post. Aber was viel schlimmer ist: Jemand hat uns die Steuerprüfung auf den Hals gehetzt. Stell dir das vor: Die Steuerprüfung in unserer Kanzlei! Wenn sich das herumspricht!“

Die Rechtsanwaltskanzlei Grössert wurde bereits in der dritten Generation in Mühldorf geführt und genoss einen ausgezeichneten Ruf. Natürlich war das Ehepaar Grössert, beide Juristen, nicht glücklich darüber gewesen, als ihr einziger Spross Werner seinerzeit nicht Jura studieren wollte, womit die Nachfolge der Kanzlei gesichert wäre, sondern eine Karriere bei der Polizei vorzog. Frau Grössert hatte ihren Sohn sogar angefleht, diese Entscheidung zu überdenken und rückgängig zu machen, bis sie schließlich aufgab und nur noch einen losen Kontakt zu ihrem Sohn pflegte. Seitdem ließ sie ihn bei jeder Gelegenheit deutlich spüren, wie enttäuscht sie von ihm war. Dr. Grössert war noch drastischer mit seiner Reaktion. Er sprach seitdem nicht mehr viel mit seinem Sohn, mied ihn, wo er nur konnte, und behandelte ihn wie einen Fremden.

„Nun mal langsam. Du sagtest, Vater bekommt merkwürdige Post. Seit wann erlaubt dir Vater, dass du seine Post liest?“

„Das tut doch jetzt hier nichts zur Sache. Mein Gott, verstrick dich doch nicht in Kleinigkeiten, sondern fokussiere dich auf das Wesentliche. Ich habe die Post aus dem Papierkorb gefischt und grob überflogen. Kein Wort davon zu deinem Vater, du hast es mir versprochen! Ich sehe, dass du mich noch nicht ganz verstanden hast, denn um diese Post geht es nicht primär. Das war nur eine Information am Rande, damit du den Ernst der Lage verstehst und mir glaubst, dass es jemand auf uns abgesehen hat.“

„Raus mit der Sprache, was willst du von mir?“

„Du bist doch bei der Polizei - tu etwas und hilf uns! Wende diese Steuerprüfung von uns ab!“ Frau Grössert nahm den riesigen Bierkrug mit beiden Händen und trank ein Schluck Wasser. Sie war völlig aufgebracht, die ganze Sache nahm sie sehr mit.

„Wie stellst du dir das vor, Mutter? Ich bin bei der Mordkommission. Wie sollte ich eine Steuerprüfung aufhalten?“

„Aber du bist Polizist und kannst deinen Einfluss geltend machen. Du hast doch meines Wissens nach sogar einen Freund beim Finanzamt. Dieser Bernd Sowieso arbeitet doch dort und hat es trotz seiner niederen Herkunft ziemlich weit gebracht, wie ich gehört habe. Ich dachte, du hast in den letzten Jahren durch deine Arbeit bei der Polizei darüber hinaus eventuell Menschen kennengelernt, die in diesem Falle helfen können. Natürlich würden wir uns das einiges kosten lassen.“

„Moment! Du willst, dass ich Menschen besteche, um diese Steuerprüfung abzuwenden? Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden?“ Werner Grössert war wütend und enttäuscht, denn das, was seine Mutter hier verlangte, kam für ihn auf keinen Fall in Frage. Er war nicht bestechlich und würde auch niemals auf die Idee kommen, irgendjemanden zu bestechen.

„Versteh doch, Junge! Wir können es uns in unserer Position nicht leisten, dass Interna aus unserem Privatleben oder sogar aus unserer Kanzlei in falsche Hände gelangen. Man weiß doch, wie so etwas läuft. Wenn Behörden eine Durchsuchung vornehmen, finden die immer irgendetwas, auch wenn es nur Kleinigkeiten sind. Ich möchte gar nicht an das Getuschel der Leute denken, die ganz bestimmt Wind von der Sache bekommen, irgendjemand quatscht doch immer! Außerdem ist Mühldorf im wahrsten Sinne des Wortes ein Dorf. Hier geschieht doch nichts, ohne dass es gleich die Runde macht. Nicht auszudenken, wenn auch noch die Presse auf uns aufmerksam wird. Es gibt viele Neider, die nur auf eine Gelegenheit warten, um uns zu schaden. Nein, Junge, du musst etwas unternehmen, und zwar umgehend. Wir sind doch eine Familie und müssen in schweren Zeiten zusammenhalten.“

„Wo sind diese Briefe, von denen du gesprochen hast?“

„Natürlich wieder da, wo sie hingehören: Im Müll.“

„Was genau stand darin?“

„Nichts Besonderes und darum geht es auch nicht. Vergiss doch endlich diese Briefe, Herrgott nochmal! Kümmere dich um diese Steuerprüfung, darum geht es. Hörst du mir eigentlich zu? Verstehst du überhaupt, worum es geht und was auf dem Spiel steht?“

Werner Grössert sah seine Mutter an und schüttelte den Kopf.

„Dir als Juristin dürfte klar sein, dass ich da überhaupt nichts machen kann. Wie soll ich eine Steuerprüfung abwenden? Diese Befugnisse habe ich nicht. Und Schmiergelder werde ich auf keinen Fall anbieten, das kannst du vergessen. Aber gut, dir zuliebe werde ich Bernd kontaktieren, obwohl ich das sehr ungerne mache. Ich kann nur darauf hoffen, dass ich irgendwelche Details erfahre. Aber mehr kann ich nicht tun.“

„Das ist alles? Sei mir nicht böse, aber ich dachte, dass du mehr Möglichkeiten hast.“

„Tut mir leid. Wie gesagt, bin ich bei der Mordkommission und habe mit Steuern und Ähnlichem nichts zu tun. Warum hast du so große Angst? Ihr habt euch doch nichts vorzuwerfen?“

„Natürlich nicht.“

„Dann wird bei dieser Prüfung auch nichts rauskommen. Beruhige dich, das wird sich alles aufklären. Aber wenn nochmals Post in der von dir angesprochenen Art bei euch ankommt, informierst du mich umgehend, verstanden? Denn so etwas fällt in meine Zuständigkeit und da habe ich jede Menge Möglichkeiten.“

Sie nickte nur, obwohl sie genau wusste, dass ihr Sohn niemals diese Briefe in die Hände bekommen dürfe, denn was darin stand, würde für Werner Schockierendes offenbaren.

Werner Grösserts Handy klingelte.

„Es tut mir leid, Mutter, ich muss zur Arbeit.“

Beide hatten die junge Frau nicht bemerkt, die abseits stand und sie beobachtete. Sie konnte zwar kein Wort verstehen, aber schon allein an der Gestik der beiden und an dem Ort des Treffens konnte sie ahnen, dass es um ihre Briefe ging, die sie Dr. Wilhelm Grössert anonym zukommen ließ. Die Gedanken an die Texte ihrer Briefe ließen sie schmunzeln, denn sie hatte es natürlich darauf angelegt, den Empfänger zu schockieren und ihm Angst einzujagen, was ihr offenbar gelungen war. Schon seit einigen Tagen war sie dem Ehepaar Grössert auf Schritt und Tritt gefolgt, hatte nicht nur vor dem Privathaus, sondern auch vor der Kanzlei stundenlang gestanden und nur beobachtet - und endlich hatte sie ihn mit eigenen Augen gesehen: Das war also Werner Grössert! Bislang kannte sie ihn nur von alten Fotos und von Erzählungen und wusste nicht, wie sie ihn finden konnte, denn bei seinen Eltern ließ er sich die letzten Tage nicht blicken, und im Telefonbuch stand er nicht. Sie kannte nun sein Aussehen, die Nummer seines Wagens mit Mühldorfer Kennzeichen – und sie brauchte nicht mehr lange zu warten und sie würde herausbekommen, wo und wie er lebte und was er beruflich machte. Anwalt war er jedenfalls nicht geworden, das hatte sie bereits recherchiert, denn unter dem Namen Werner Grössert gab es im Landkreis Mühldorf und weit darüber hinaus keinen Anwalt und keine Kanzlei. Sie war davon ausgegangen, dass Werner längst in die Kanzlei seiner Eltern eingestiegen war, aber das hatte sich mit nur einem Anruf als Irrtum herausgestellt.

Sie war sehr aufgeregt und freute sich darauf, Einzelheiten über das Leben von Werner Grössert herauszufinden und war sehr gespannt und wahnsinnig neugierig.

Die nächste Phase ihres Planes war bereits eingeleitet und sie würde von jetzt an Werner Grössert nicht mehr aus den Augen lassen!

3.

Auf dem Weg zum Fundort der Leiche bei Burgkirchen dachte Werner Grössert über das seltsame Gespräch mit seiner Mutter nach. Sie hatte doch tatsächlich die Frechheit besessen und ihn gebeten, Bekannte mit Schmiergeld zu bestechen, um diese Steuerprüfung abzuwenden. So unverschämt dieser Vorschlag auch war, so verzweifelt musste seine Mutter sein, wenn sie solche Geschütze auffuhr. Und was war mit diesen Briefen? Warum hatte sie sie erwähnt und dann wieder darauf bestanden, dass sie nicht wichtig seien? Da steckte mehr dahinter, denn sie hatte immer ein leichtes Zucken in den Augen, wenn sie flunkerte, und dieses Zucken konnte er deutlich sehen. Und dann diese Steuerprüfung. Warum war sie so nervös deswegen? Er war sich sicher, dass in der Kanzlei alles zum Besten bestellt war, obwohl er seinen Eltern durchaus zutraute, dass sie es besonders in finanzieller Sicht mit dem Gesetz nicht ganz so genau nahmen. Lag darin der Grund für ihre Besorgnis? Egal, er musste auf jeden Fall nachforschen, denn so unsympathisch seine Eltern auch waren, es waren nun mal seine Eltern und er fühlte sich verpflichtet, ihnen zu helfen. Zumindest in diesem Punkt stimmte er mit seiner Mutter überein: Sie waren eine Familie und mussten zusammenhalten, obwohl seine Eltern sich bisher in diesem Punkt zurückhielten. Seit seiner Entscheidung, zur Polizei zu gehen, hatten sie ihn gemieden und hielten sich diesbezüglich mit ihrer Enttäuschung nicht zurück. Ganz schlimm war es seit seiner Heirat, denn mit der Wahl seiner Frau, die aus einfachen Verhältnissen stammte, und äußerlich nicht deren Vorstellung entsprech, waren sie bis heute nicht einverstanden. Werner ärgerte sich jetzt über seine Eltern und dachte einen Moment darüber nach, sie jetzt auch im Stich zu lassen – aber dann wäre er auch nicht besser als sie! Nein, er musste helfen und ihnen zur Seite stehen.

Werner Grössert bog von der Straße ab und fuhr direkt zur Kleingartenanlage Burgkirchen. Dort war der Treffpunkt mit den Kollegen der Mordkommission Mühldorf. Schon die ganze Fahrt über hatte er den roten Kleinwagen bemerkt, der immer im gleichen Abstand hinter ihm fuhr. Tatsächlich bog der Wagen ebenfalls ab und fuhr in die gleiche Richtung, wie er selbst. Zufall?

Da vorn stand sein Kollege Leo Schwartz, der ihn nun auch bemerkte und winkend auf ihn zuging. Werner parkte seinen Wagen auf dem geschotterten Parkplatz. Was war mit diesem roten Kleinwagen? War er immer noch hinter ihm? War er jetzt schon so paranoid, dass er überall Verbrechen sah? Er stieg aus und blickte sich noch einmal um und sah in die Richtung, wo er den roten Kleinwagen zuletzt gesehen hatte – er war nicht mehr da. Na also, nur Hirngespinste!

„Eine Leiche in der Alz, der Mann mit dem Hund dort hinten hat ihn gefunden. Ich flehe dich an, übernimm du den Mann. Der spricht so einen wilden bayrischen Dialekt - ich verstehe kein Wort.“ Leo sah Werner verzweifelt an. Der neunundvierzigjährige Schwabe war vor knapp einem Jahr von Ulm nach Mühldorf am Inn versetzt worden, nachdem es dort einen unschönen Vorfall gegeben hatte, über den er bisher noch nicht gesprochen hatte. Werner Grössert war von Natur aus nicht neugierig und interessierte sich auch nicht dafür. Er hatte sich an den neuen Kollegen schnell gewöhnt und mochte ihn sehr – bis auf sein unmögliches Outfit. Auch heute war Leo Schwartz wieder seltsam gekleidet: Jeans, alte Lederstiefel und ein dunkles T-Shirt mit dem Aufdruck einer Rockband, die Werner nicht kannte.

„Du bist allein hier? Wo sind die anderen?“

„Unterwegs, sie dürften jeden Moment eintreffen.“

Werner ging zu dem Mann mit Hut, der nervös wartete. An seiner Seite saß ein Rauhaardackel, der immer aufsprang und an der Leine zog.

„Wia lang dauert denn des no? Mei Wasti muss doch Gassi, der hot sei Gschäftl no net gmacht.“

Werner verstand nun das Problem von Leo Schwartz, denn zu dem Dialekt nuschelte der Mann auch noch fürchterlich.

„Sie haben die Leiche gefunden?“

Er nickte.

„I hob glei gsegn, dass den dabreselt hot. Der war meisaltout.“

„Haben Sie die Leiche angefasst oder sonst irgendetwas berührt?“

„Na! I glang nix o. Ko i jetz geh?“

„Ich brauche nur noch Ihre Personalien.“

„Hinterberger,“ sagte er knapp und zog seinen Personalausweis hervor. Werner Grössert notierte sich die Daten.

„Dann können Sie jetzt gehen, vielen Dank Herr Hinterberger. Wenn wir noch Fragen haben, kommen wir auf Sie zurück.“

„Kimm Wasti, jetz derf ma Gassi geh. Pfüa God,“ grüßte er freundlich, wobei er leicht den Hut hob.

Nun traf auch der Kollege Hans Hiebler ein. Der 52-Jährige kam aufgrund der Temperaturen in hellen Jeans, Slippern und einem kurzärmeligen, weißen Hemd, das seine Bräune noch unterstrich. Dazu trug er eine moderne Sonnenbrille zum neuen Haarschnitt, der ihn um Jahre jünger aussehen ließ. Er sah einfach blendend aus und hatte immer gute Laune. Hans war vor allem bei Frauen sehr beliebt.

„Grüß euch, Kollegen. Wo ist die Leiche?“

„Unterstehen Sie sich, dort hinzugehen, bevor ich persönlich den Ort freigegeben habe,“ hörten sie hinter sich die Stimme von Friedrich Fuchs, dem Leiter der Spurensicherung. Der kleine, hagere fünfunddreißigjährige Mann ging mit rotem Kopf und energischen Schritten an den Kriminalbeamten vorbei und direkt auf die Leiche zu. Seine Kollegen konnten kaum folgen.

„Los, Tempo, Tempo,“ trieb Friedrich Fuchs seine Leute an. „Sofort absperren, bevor uns diese Stümper alles kaputt machen. Wir können von Glück reden, dass das gestern nur ein trockenes Gewitter war.“

Grössert, Hiebler und Schwartz standen wenige Meter abseits und mussten warten, bis Fuchs sie mit Informationen versorgte, was eine Ewigkeit zu dauern schien. Fuchs mochte niemand besonders gern, denn er war pedantisch, launisch und nicht wirklich freundlich – aber er machte hervorragende Arbeit.

„Hatte unser Chef nicht von einem neuen Vorgesetzten gesprochen? Wann kommt der? Wenn ich ehrlich bin, brauchen wir nicht zwingend eine Vertretung, wir kommen auch so gut zurecht.“

Ihre Vorgesetzte und Leos Lebensgefährtin Viktoria Untermaier war vor einigen Wochen schwer verletzt worden und musste gegen ihren Willen nun doch zur Reha, denn der Heilungsprozess verlief nicht so, wie es sich die Ärzte und vor allem Viktoria selbst erhofft hatten. Sie hatte starke Schmerzen und die Wunde heilte nur sehr langsam. Auch ihre Psyche hatte durch dieses Ereignis sehr gelitten; sie schlief schlecht, hatte Alpträume und wachte nachts mehrmals schweißgebadet auf. Leo, die Ärzte und auch die Kollegen hatten sie geradezu angefleht, diese Reha zu machen, bis sie schließlich klein bei gab. Sie war nach ihrem Krankenstand nun schon zwei Wochen auf Kur und ihr Posten musste dringend besetzt werden. Rudolf Krohmer, der Chef der Mühldorfer Polizei, drückte sich um diese Angelegenheit und hoffte, diese so lange hinausschieben zu können, bis Viktoria Untermaier wieder fit war und arbeiten konnte. Aber das Innenministerium lag ihm im Nacken, denn den Posten für so lange Zeit unbesetzt zu lassen, war ungewöhnlich und konnte nicht geduldet werden. Krohmer war nicht zu beneiden, denn er konnte diesen Posten nicht mit den eigenen Leuten besetzen. Leo Schwartz war für diesen Posten zu neu im Team, außerdem hing ihm immer noch die Sache in Ulm nach, weswegen er vor einem Jahr hierher nach Mühldorf am Inn versetzt wurde. Schade eigentlich, denn er hatte die richtigen Voraussetzungen. Werner Grössert war zu jung, obwohl er sich bestimmt sehr gefreut hätte, wenn man ihm diesen verantwortungsvollen Posten zumindest zeitweilig übertragen hätte. Hans Hiebler hatte sofort abgelehnt, als er ihn gefragt hatte, denn er befand sich dafür als ungeeignet und hatte keinerlei Ambitionen, dort jemals hinzugelangen - er war zufrieden mit seinem Job und seinem Rang und wollte daran nichts ändern. Dem Chef der Mühldorfer Polizei blieb somit nichts anderes übrig, als ein Gesuch nach München zu richten, was er auf Drängen auch getan hatte. Es hatte sich tatsächlich eine geeignete Person gefunden, wovon die Mühldorfer Kriminalbeamten noch nichts ahnten. Krohmer würde sie erst später davon unterrichten.

„Mensch, Fuchs, jetzt machen Sie es doch nicht so spannend! Was können Sie uns sagen?“ Hans Hiebler war ungeduldig, denn er wartete nicht gerne, vor allem nicht in dieser brütenden Hitze.

„Sie werden sich schon gedulden müssen, bis ich Ihnen Auskunft geben kann,“ antwortete Fuchs, ohne auch nur einen Moment aufzublicken. Er genoss diesen Moment der Macht und wollte jede Sekunde auskosten. Er fand, dass seine Arbeit und vor allem seine Person von den Kollegen nicht genug gewürdigt wurde und fühlte sich momentan sehr wichtig.

Plötzlich stieg eine ältere Frau in derben Wanderschuhen, Jeans und einer bunten Bluse über die Absperrung und ging direkt auf Friedrich Fuchs zu, noch bevor die Polizisten eingreifen und sie zurückhalten konnten. Natürlich hatten sie die Frau gesehen, nahmen aber an, dass sie eine Spaziergängerin war.

„Was fällt Ihnen ein?“, schrie Friedrich Fuchs aufgebracht, sprang auf und rannte auf die Frau zu. „Machen Sie sofort, dass Sie wegkommen. Sind Sie blind? Sehen Sie nicht, dass das ein abgesperrter Tatort ist?“

Ohne ein Wort zu sagen, zeigte die kleine, schlanke 58-jährige Frau mit den feuerroten Locken ihren Ausweis.

„Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie nicht sofort erkannt habe, aber die Sonnenbrille.... Mein Name ist Friedrich Fuchs, Leiter der Spurensicherung Mühldorf. Natürlich kenne ich Sie Frau Westenhuber, es ist mir eine Ehre.“

Friedrich Fuchs war sehr kleinlaut geworden, flüsterte nun fast. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und verbeugte sich leicht.

„Was haben wir?“, fragte die Frau knapp mit Blick auf die Leiche.

Die Polizisten Grössert, Hiebler und Schwartz hatten die Szene beobachtet und waren nun ebenfalls über die Absperrung getreten. Wer war die Frau? Und warum verhielt sich Fuchs so unterwürfig und gab bereitwillig Auskunft?

„Männliche Leiche, ca. 35-40 Jahre alt, südländischer Typ, er hat keinerlei Papiere, Handy oder Ähnliches bei sich. Im Rücken hat er zwei Einschüsse, außerdem waren die Hände auf dem Rücken mit einem Kabelbinder fixiert. Die Verletzung im Gesicht wurde ihm beigefügt, als er noch lebte.“

„Und dafür haben Sie so lange gebraucht? Na ja,“ sagte Frau Westenhuber mit tiefer Stimme.

„Das ist natürlich auch nur ein grober Erstbericht.“

„Natürlich.“

Sie ließ Fuchs stehen und gab den Polizisten einen Wink, ihr zu folgen.

„Ich möchte mich bei Ihnen vorstellen: Waltraud Westenhuber mein Name. Ich bin für die Zeit der Abwesenheit von Frau Untermaier deren Vertretung und hoffe auf eine gute, faire Zusammenarbeit. Ich bin kein Freund von Herumgequatsche, sondern liebe es, wenn Dinge beim Namen genannt werden. Für mich zählen hauptsächlich Fakten, wobei ich für jede Anregung oder auch für jede Phantasie durchaus zugänglich bin. Sie müssen Leo Schwartz sein,“ wandte sie sich an Leo. „Ich habe schon viel von Ihnen gehört und bin beeindruckt. Allerdings können Sie sich solche Alleingänge wie bei Ihrem letzten Fall in Ulm bei mir abschminken. Wenn Sie vorhaben, auf eigene Faust fremde Personen in den Fall zu involvieren, bekommen Sie mächtig Ärger. Hier passiert nichts ohne mein Wissen und ohne meine Zustimmung, haben wir uns verstanden?“ Leo nickte nur und verstand sofort, worauf sie anspielte. Die Frau kannte seine Akte. Und sie hatte offensichtlich von seiner Freundin und Ulmer Pathologin Christine Künstle gehört, die ihm hier in Mühldorf in dem einen oder anderen Fall unbürokratisch schon mal zur Hand ging und unterstützt hatte. Christine war auch bei den Mühldorfer Kollegen sehr beliebt und bislang griff er gerne auf sie zurück, vor allem, wenn sie medizinische oder pathologische Hilfe benötigten.

€1,99

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Umfang:
371 S. 2 Illustrationen
ISBN:
9783847610496
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