Sexueller Mißbrauch und Heilung aus dem Selbst - eine Therapieerfahrung nach der Psychoenergetik nach Peter Schellenbaum

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Sexueller Mißbrauch und Heilung aus dem Selbst - eine Therapieerfahrung nach der Psychoenergetik nach Peter Schellenbaum
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Ingrid Weißbach

Sexueller Mißbrauch und Heilung aus dem Selbst - eine Therapieerfahrung nach der Psychoenergetik nach Peter Schellenbaum

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Inhaltsverzeichnis

Titel

I. Vorwort – Warum Psychoenergetik nach Peter Schellenbaum?

1. Die erotische Spur – das Ziel der Psychoenergetik

II. Zur Arbeit von Peter Schellenbaum

1. Zur Psychoenergetik nach Peter Schellenbaum

2. Zum Begriff Selbstfindung oder Individuation

3. Die Begriffe Selbstfindung und Individuation im Wandel der Zeit

4. Integratives Bewusstsein

5. Individuation heute

6. Zur Methodik von Peter Schellenbaum

III. Der „Existenzielle Moment der Empfängnis“ – ein zentraler Begriff innerhalb der Psychoenergetik

1. Klärung der Begriffe innerhalb der Bezeichnung „Existenzieller Moment der Empfängnis“

2. Der Begriff „existenziell“

3. Der Begriff „Moment“

4. Der Begriff „Empfängnis“

IV. Fallbeispiel - Traum

V. Traumanalyse

1. Arbeit am Traum durch Gedanken und Assoziationen

2. Weiterer Versuch, mich gedanklich und assoziativ dem Traum zu nähern

3. Zweite Analysestunde

4. Der Existenzielle Moment der Empfängnis

5. Komplextraum oder Kreativtraum?

6. Das Symbol des durchstochenen Ohres

7. Unvermittelter Zugang zum Trauminhalt

8. Weitere Entschlüsselung des Symbols der vier Ohrlöcher

9. Tieferer Zugang zum Trauma

10. Im Wiederholungszwang

11. Der Traum des eigenen Beziehungsmusters

12. Der Dialog mit dem Kind

13. Der Dialog mit der schwarzen Frau

VI. Die heilende Beziehung zum Therapeuten

1. Nachbetrachtung

Literaturverzeichnis

Impressum neobooks

I. Vorwort – Warum Psychoenergetik nach Peter Schellenbaum?

Der Begriff Missbrauch war in meiner Zeit, den Sechziger- und Siebzigerjahren, noch nicht so geläufig wie heute – schon gar nicht in dem deutschen Land hinter der Mauer, in dem ich groß geworden bin. Selbst wenn einige der Therapeuten, die ich aufsuchte, dieses Thema in meiner Lebensgeschichte vermuteten, gab es niemanden, der es direkt benannte.

Vielmehr ging es um „Anpassen“, „Einordnen“ und „Vergessen“, denn die meisten Therapeuten orientierten sich damals noch an Sigmund Freud, der den Satz prägte: „Das Leben zu ertragen, bleibt jedoch die erste Pflicht der Lebenden.“

Glücklicherweise konnte ich später beginnen, das Trauma aufzuarbeiten. Doch kaum hatte ich alle Puzzleteile der verdrängten Ereignisse erfasst, kam es mir vor, als läge das eigentliche Problem viel tiefer, denn die Worte Schuld und Vergebung verschafften mir keine dauerhafte Erleichterung.

So stellte sich mir die Frage, wie denn die seelische Wunde heilen könnte und ich ahnte, allein durch Aussprache, Erklärungen und eventuelle Entschuldigungen ging es nicht. Die eigentliche Frage bestand nämlich darin, wie es möglich sein könnte, auf neue Weise lieben zu lernen und das hatte nur mit mir selbst zu tun. Eine Erkenntnis, die meine Verantwortung am Geschehen mit einbezog, auch wenn das unbequem war.

Doch wie konnte ich die Gefühle der Scham und Schuld, die Gefühle der Angst vor Nähe und Kontrollverlust überwinden, beziehungsweise wandeln – Gefühle, die ich in einer frühkindlichen Zeit erlernte, in der sie mir als überlebenswichtige Strategie dienten?

Wie konnte ich jetzt, als beruflich erfolgreiche Frau, gefühlsmäßig sozusagen „nachreifen“, denn mit dem Erkennen des Fehlverhaltens und dem Erlernen von neuen Strategien hatte das meiner Meinung nach nichts zu tun. Ich ahnte bereits, dass es irgendetwas in mir gab, das aus sich selbst heraus wachsen konnte.

Etwas, das wie von selbst wusste, wohin es wollte.

Es konnte nicht so sein, wie es Sigmund Freud beschrieben hatte, dass man nur die Pflicht habe, sich genügend in die Gesellschaft zu integrieren, um zufrieden zu sein. Alles das hatte ich ja versucht und eigentlich auch erreicht.

Was also wollte ich?

Die Antwort auf die Frage war ebenso einfach wie mit Scham besetzt: Ich wollte glücklich sein! Und es kam mir vor, als hätte ich keine Erlaubnis dafür.

Sofort aber wurde mir klar: Wer das Glück suchte, musste es zunächst verloren haben. Und so war es auch bei mir. Ich kannte das Glück aus diesen kleinen Momenten, in denen ich hingegeben und erfüllt vom Dasein, die einfache Freude darüber empfand, dass ich am Leben war und mir die Welt wie ein Wunder erschien. Das Trauma aber hing in dieser Welt wie ein bleiernes Gewicht, das mich nach unten zog, wenn das Glück an meine Tür klopfte, und vor allem dann, wenn es um Liebe ging. Doch gerade Liebe und Hingabe waren die beiden Fähigkeiten, die ich am schmerzlichsten vermisste.

Weil aber nach dem Energieerhaltungssatz Energie in einem abgeschlossenen System weder aus dem Nichts entsteht noch ins Nichts verschwindet und sich nur wandelt, bleibt auch die angestaute psychische Energie in uns erhalten und ermöglicht durch die Wandlung letztlich die Heilung. Wie aber verschaffen wir uns Zugang zu den verborgenen Kräften des Unbewussten? Und wie gelingt es uns, die angestaute Energie wieder fließen zu lassen, um die verdrängten Gefühle wahrzunehmen und zu verarbeiten?

All diese Fragen und die Beschäftigung mit Hermann Hesse, C. G. Jung und dem Buddhismus, hatten mich bereits in die richtige Richtung geführt, denn ich bin inzwischen von der Existenz einer Lebenskraft überzeugt, die jedem von uns unserer Bestimmung näher kommen lässt, sofern wie sie zulassen. Jedes Lebewesen trägt von Anfang an sein eigenes Entwicklungsgesetz in sich, das sich sowohl in ihm selbst vollzieht als auch im gesamten Kosmos zu finden ist. Diesem Gesetz im Einklang mit der Welt zu folgen, bedeutete Glück – das wusste ich inzwischen.

Dennoch lebte ich viele Jahre mit dem Defizit der Bindungsangst und mit einem Gemisch aus Wut, Trotz und Verschlossenheit. Und obwohl ich immer wieder versuchte, mir die Unverhältnismäßigkeit meiner Gefühle zu erklären, weiß ich heute, es ist unmöglich, ein Trauma ohne fremde Hilfe zu überwinden – eben weil man die mit dem Trauma verbundenen Gefühle verdrängt hat und dafür keine Selbstwahrnehmung besitzt. Dadurch bleiben diese Gefühle auf dieser unteren Entwicklungsstufe in uns verkapselt und führen ein uns unbewusstes Eigenleben, das unsere Entwicklung beeinträchtigt.

Diese Beeinträchtigung wollte ich aber nicht mehr hinnehmen und so sah ich mich erneut nach einer Therapie um.

1. Die erotische Spur – das Ziel der Psychoenergetik

Ich fand zu Peter Schellenbaum, der in der Schweiz in Orselina bis 2014 sein Institut für Psychoenergetik leitete. Zwar hatte ich erst ein einziges Buch von ihm gelesen und das auch noch vor etlichen Jahren, jedoch zog mich gerade dieser Titel wieder an: „Die Wunde der Ungeliebten“.

Ja, das traf auf mich zu. Die Wunde der Ungeliebten, verbunden mit der Scham, sie thematisieren und damit heilen zu können – das war mein Problem. Zudem war es das Wort „Liebe“, das mich anzog – ein Wort, dass ich noch nie zuvor bei einem Therapeuten gehört hatte, denn bisher war es nur um „Überwinden“, „Ertragen“, und „Vergessen“ gegangen.

 

Dass aber dem Leiden des nicht richtig geliebt worden seins auch das Leiden des nicht richtig lieben Könnens folgte, hätte ich nicht gewagt, zu formulieren und so war ich hier richtig. Die endlich angesprochene offene Wunde der seelischen Verletzung wird bei Peter Schellenbaum als Quelle für Depressionen, innere Lähmung und Leid bis ins erwachsene Alter hinein benannt. Jedoch bleibt er nicht beim „bedauernswerten Einzelschicksal“ stehen. Vielmehr geht Peter Schellenbaum einen Schritt weiter und stellt den Zusammenhang zwischen dem individuellen Ungeliebt-Sein und dem "Mangel an Geborgenheit in der Welt" her. Denn so gesehen, wird der Mensch niemals genug geliebt. Er kann nicht zurückkehren ins Paradies der Unschuld und Symbiose. Es bleibt immer ein Rest an Ungestillt-Seins und Alleinseins in der Welt, was ihn dazu veranlasst, die Bindung mit eben dieser Welt zu suchen. Damit geht es um die dem Menschen eigene existenzielle Erfahrung des „In die Welt geworfen Seins“ oder des Ungeliebt-Seins als verletzbares, unvollkommenes und vergängliches Wesen.

Dieser Bezug erweist sich bei Peter Schellenbaum therapeutisch als äußerst fruchtbar und belebend. Das individuelle Schicksal kann so nämlich mit den Gesetzen des Kosmos und der Evolution verbunden werden, und der Einzelne kann sich dadurch mit sich selbst versöhnen.

Das heißt, auch wenn ich die Vergangenheit nicht ändern kann, und auch wenn ich mit Defiziten lebe, so bin ich doch angeschlossen an das große Ganze des Menschseins, der Natur und des Kosmos, deren stete Eigenschaft es ist, sich zu wandeln, sich zu entwickeln und miteinander in Beziehung zu sein.

Peter Schellenbaum sagt dazu: "Die Geschichte der meisten Ungeliebten ist eine Geschichte der Überanpassung. Für sie geht es darum, eine neue Einstellung zu den Ausgestoßenen, den Parias, den Unberührbaren zu bekommen. Den inneren Unberührbaren und Ausgesonderten zu berühren, Kontakt mit ihm aufzunehmen und den vor Welt und Lebensfreude überbordenden Krishna aus ihm zu befreien, dahin strebt die unbewusste Sehnsucht der aus Mangel an Liebe überangepassten Menschen." (1)

Es gilt also, den angestauten Lebensfluss wieder zu befreien. Ein Lebensfluss, der nach Peter Schellenbaums Meinung in seiner reinsten Form Liebe zu sich selbst und zur Welt ist. Dahin ging meine Sehnsucht, das wollte ich wiedererlernen, denn es war mir verloren gegangen und dennoch auf irgendeine Weise vertraut.

Dabei hatte ich nicht die geringste Vorstellung, wie das geschehen sollte. Ja, ich hatte zu Beginn der Therapie noch nicht einmal dieses klare Ziel vor Augen. Jedoch hatte ich zum ersten Mal die feste Absicht, mich zunächst selbst heilen zu wollen, bevor ich mich wieder in eine neue Partnerschaft stürzte, die wieder in dieselbe Sackgasse führte.

Natürlich ging ich nicht von Anfang an mit diesen Erwägungen in die Therapie – vielmehr wurde ich von einem unbewussten Ahnen getrieben, alle Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben und hier etwas zu finden, von dem ich wusste, es tut mir gut. So hatte ich das große Glück, in Peter Schellenbaum den Therapeuten zu finden, der imstande war, meine Liebe auszuhalten, die Hingabe zu erwidern und dennoch die nötige Distanz zu wahren, damit die therapeutische Beziehung als Leitbild für eine reale Beziehung in mir entstehen konnte.

Jetzt, da ich diesen Satz aufschreibe, bin ich erstaunt, wie einfach das zu erfassen ist, was mich viele Therapiestunden und starke innere Kämpfe gekostet hat. Zu Beginn aber sprang ich ins Therapiegeschehen mit dem Mut eines verzweifelten Kindes, das, ohne schwimmen zu können, von einer brennenden Brücke springt und darauf hofft, über Wasser zu bleiben. So ungefähr erscheint mir meine Situation zu Therapiebeginn jetzt, obwohl sie mir damals längst nicht so dramatisch vorkam. Doch ohne diese existenzielle Not – so viel weiß ich inzwischen – beginnt niemand eine ernsthafte Psychotherapie.

Die Therapie und Ausbildung bei Peter Schellenbaum begann mit dem Erlernen der von ihm geprägten Methode der Psychoenergetik, die sowohl von der leiblichen Dimension des psychischen Ausdrucks ausgeht als auch von der Existenz einer unstrukturierten Entwicklungsenergie, die vom Beginn seiner Zeugung an im Menschen existiert und im positiven Fall auf die erotische Spur führen kann. Damit erweiterte Peter Schellenbaum die Tiefenpsychologie in revolutionärer Weise. Vor allem die Arbeit mit der unstrukturierten Entwicklungsenergie, die über das menschliche Ich hinaus in Beziehung zur Welt und zur allgemeinen Entwicklungsenergie gesetzt wird, kann hierbei nicht genug hervorgehoben werden. Denn genau dieser Ansatz ist vergleichbar mit der Entdeckung der Relativitätstheorie, die das Bezugssystem von Raum und Zeit erweitert und in größere Zusammenhänge stellt. Nicht anders die Psychoenergetik – sie führt aus dem engen Ichverhaftetsein hinaus in die Beziehung zum Du und zur Welt.

Mit der erotischen Spur wiederum meint Peter Schellenbaum die Entwicklung zur Ganzheit, die sich aus dem unendlichen Potential eines Menschen ergibt und die sich lebenslänglich fortsetzen kann. So lässt sich die traumatische Energie mit Hilfe der Psychoenergetik in die erotische Energie, als Wachstumsenergie verwandeln – ein Weg durch Liebe. Dabei ist mit Liebe im therapeutischen Sinne hier die aktive und ganzheitliche Bezogenheit des Therapeuten zum Klienten gemeint, wobei die körperliche Bezogenheit eine große Rolle spielt, denn die Psychoenergetik arbeitet vor allem mit Energiesignalen. Diese Energiesignale zeigen sich vor allem durch den Leib, der hier als beseelter Körper verstanden wird. Schildern wir nämlich ein mit psychischer Energie geladenes Ereignis, so ist auch unser Körper an dieser Beseeltheit beteiligt.

Das kennen wir alle: Sobald uns etwas bewegt, bewegt sich unser Körper mit. Niemand kann beispielsweise mit stoischer Gelassenheit von einem Moment überbordender Begeisterung erzählen: Wir rutschen auf dem Stuhl hin und her, bewegen Arme und Beine, wir lachen, unsere Stimme überschlägt sich, wir schlagen uns auf die Schenkel und so weiter. Ebenso verhält es sich beim Schildern traumatischer Ereignisse – jedoch gerät in diesen Fällen unsere Energie ins Stocken, was sich auch körperlich bemerkbar macht: Unsere Mimik wird sparsamer, die Stimme leiser oder brüchiger, die Schultern stehen anders, unsere Hände machen andere Bewegungen und vieles andere mehr, was es aufmerksam zu erspüren gilt.

Hier setzt die Psychoenergetik an, denn genau hier, im allerkleinsten und spontan geäußerten leiblichen Energiesignal, erkennen wir als Erstes, wo sich etwas in uns wandeln will. Dieser alles entscheidende Augenblick wird in der Psychoenergetik nach Peter Schellenbaum der „existenzielle Moment der Empfängnis“ genannt. Ein Moment, in dem wir unsere Entwicklungsenergie aus uns selbst heraus empfangen, in einem winzigen Energiesignal, das, wie ein Embryo, noch eingebettet und begleitet sein will, ehe es zu einem neuen Entwicklungsschritt heranreift. So versteht sich die Psychoenergetik nach Peter Schellenbaum nicht nur als Therapie im Sinne des Heilens von psychischen Störungen, sondern vor allem als Weg zur Individuation und als Prozess zum sinnlichen Erwachen und Erleben seiner selbst in Verbindung zur Welt.

Von einem der wichtigsten Prozesse, die ich innerhalb meiner Heilung durchlebte, soll in diesem Buch die Rede sein. Zunächst stelle ich einige wichtige Elemente dieser Therapiemethode vor, beleuchte danach die Begriffe Individuation und „Existenzieller Moment der Empfängnis“ und zeige letztlich anhand eines eigenen Fallbeispiels in Form einer Traumanalyse diese Methode auf.

Dabei werden von mir viele Querbezüge sowohl zum tiefenpsychologischen Individuationsbegriff nach C. G. Jung als auch allgemein menschliche Erfahrungen mit einbezogen.

Bei den Personen Frau X und Herr Y im Fallbeispiel handelt es sich nicht um reale Personen. Jedoch trugen sich die realen Ereignisse mit Personen zu, die sich in ähnlicher Konstellation zu mir, der Träumerin, befanden. Dennoch sind die Vorgänge, um die es hier geht, weitestgehend authentisch.

II. Zur Arbeit von Peter Schellenbaum

Peter Schellenbaum erweiterte den tiefenpsychologischen Ansatz von C. G. Jung um die Dimension des Leiblichen und den Begriff der vorstrukturierten Energieerfahrung. Daraus entwickelte er die Psychoenergetik oder die Leib-Psychotherapie nach Schellenbaum (im Folgenden kurz Psychoenergetik genannt). Diese Methode ist eng an die leib-seelische Erfahrung geknüpft. Sie führt aus dem engen Ichverhaftetsein früherer tiefenpsychologischer Ansätze hinaus und versteht sich nicht nur im psychotherapeutischen Sinne des Heilens, sondern vor allem als Prozess und Weg zum sinnlichen Erwachen und Erleben seiner selbst in Verbindung zum Du und zur Welt. So stellt die Psychoenergetik kein festes Lehrgebäude dar, das anhand theoretischer Erkenntnisse und Strukturen erfassbar und nur auf bestimmte psychische Störungen anwendbar ist. Vielmehr handelt es sich um eine tiefenpsychologische Methode, die blockierte menschliche Lebensenergie wieder zum Fließen bringt und dabei auch das Transzendente für den einzelnen Menschen sinnlich erfahrbar machen kann. Innerhalb der Psychoenergetik ist das Thema des existenziellen Momentes der Empfängnis ein besonderes und zentrales Geschehen.

Peter Schellenbaum sagt dazu. „ … der existenzielle Moment der Empfängnis, dem das Kind näher als der Erwachsene ist, (bezieht sich) auf größere Weckbarkeit im Lebenspotential, auf Verfügbarkeit für Entwicklungssignale aus der eigenen Anlage. … Als innere Führungsinstanz des Erwachsenen bedeutet das Kind daher dessen Selbst.“ (1)

Es handelt sich also um den Moment des reinen Geschehenlassens und des Empfangens neuer Keime aus dem eigenen Entwicklungspotential, so, wie es gesunde Kinder täglich spielerisch erleben. In diesem Moment zeugen und empfangen wir uns gleichzeitig selbst – und zwar aus der Stille und der Leere heraus in größtmöglicher Offenheit gegenüber unserem Unbewussten.

Wir empfangen den Keim eines neuen Schrittes unserer Individuation wie bei einer Geburt, und das nicht nur in einem einzigen, einmaligen Prozess, wie Peter Schellenbaum betont, sondern immer wieder aufs Neue. „Nicht nur in psychotherapeutischer Begleitung, sondern auch ohne sie ist unser Leben, sofern wir es aus dem existenziellen Moment der Empfängnis gestalten, eine lebenslängliche Geburt.“ (2)

Denn genau das, was sich bei der realen Empfängnis in uns vollzieht, vollzieht sich auch im Psychischen. Wie bei der Verschmelzung einer Ei- und einer Samenzelle, bei der es zur Empfängnis eines Kindes kommt, wird in der Seele ein Wachstumskeimling empfangen, bei dem zuvor zwei Qualitäten miteinander verschmolzen sind. Doch es handelt es sich dabei nicht um die Verschmelzung zweier Zellen, sondern um die Verschmelzung zweier psychischer Energiequalitäten zu einem winzigen Ganzen. Ein Ganzes, das bereits die gesamte Information eines kommenden Entwicklungsschrittes enthält.

Was aber verschmilzt dort mit wem, und welcher Art ist das Zusammenspiel von Klient und Therapeut in diesem kreativen Prozess?

1. Zur Psychoenergetik nach Peter Schellenbaum

Die Methode der Psychoenergetik besitzt, wie bereits erwähnt, sowohl psychotherapeutischen als auch lebenspraktischen Wert, der in unserer modernen Industriegesellschaft mehr denn je gefragt ist, denn laut Statistik erfahren die psychischen Krankheiten in den modernen Industrieländern derzeit einen erheblichen Aufwärtstrend. Es scheint also nicht nur eine Sinnkrise auf allen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und institutionellen Ebenen zu geben, sondern vor allem auch in der Psyche des modernen Menschen. Eine Krise, die dem Menschen nicht mehr zu erlauben scheint, seine psychische Energie in vollem Umfang zu erfahren. Deshalb fühlen sich viele Menschen sinnentleert, worauf die Psychoenergetik zu antworten weiß. Was aber können wir uns unter der Methodik der Psychoenergetik vorstellen und was unterscheidet sie von anderen Methoden?

Peter Schellenbaum versteht darunter vor allem die psychologische Erschließung einer wertfreien und an keine festen Muster gebundene Lebensenergie, die zuallererst leiblich erfahren wird. Diese Lebensenergie kann entweder auf der erotischen Spur frei fließen und zur Entwicklungsenergie werden, oder sie kann auf der traumatischen Spur blockiert sein und damit nur auf Umwegen der Entfaltung dienen.

„Die Psychoenergetik richtet ihre Aufmerksamkeit gleichzeitig auf die ‚winzige Bewegung’ des Körpers und die verbale Äußerung. Würde sie das eine oder andere aus dem Auge verlieren, wäre das Gespür für die derzeitige Energiebewegung oder -stockung verloren … Die Grundfrage lautet also immer: Befinde ich mich in einer ganzheitlichen Lebensbewegung oder stocke ich?“ (1)

 

Mit dem Leib ist dabei stets der beseelte und geistig reflektierte Körperausdruck gemeint, im Gegensatz zum nur physischen und reflexhaften Körper. Die erotische Spur hingegen meint die Öffnung hin zum Ganzheitsbewusstsein. Peter Schellenbaum erläutert den Begriff Eros im Zusammenhang mit seiner Arbeitsweise wie folgt:

„Die Wege zu diesem (Ganzheitsbewusstsein, Anm. I. W.) sind Erfahrungswege des Eros. Das Wort Eros hat bereits bei Platon die Bedeutung der Ganzwerdung durch die Sprengung der Ich-Grenzen in der Hingabe. Dabei bleibe ich bei diesem Wort, obwohl es in jüngerer Zeit oft ganz anders, nämlich in der Verengung auf bloße Sexualtechniken, gebraucht wird.“ (2)

Mit dem Begriff der Psychoenergetik als zentralem Begriff, arbeitet Peter Schellenbaum insofern, als dass die unmittelbare Erfahrung der Lebensenergie zu seinem Grundanliegen gehört. Durch die Auseinandersetzung mit dem Werk des Jesuiten, Paläontologen und Naturphilosophen Teilhard de Chardin zu diesem Energiebegriff angeregt, schreibt er: „Teilhard befreite sich schreibend von der dogmatischen Enge einer angelernten und ‘aufgezwungenen Theologie‘ und stellte als einziges Wahrheitskriterium das Potential an seelischer Belebung auf.“ (3)

Und weiter: „Durch meine Beschäftigung mit Teilhards Energetik stieß ich auf C. G. Jungs Schrift: ‘Über die psychische Energetik und das Wesen der Träume‘. Auch in diesem Buch beeindruckte mich der Bezug auf menschliche Energiebewegungen jenseits aller trennenden Wertungen.“ (4)

Das heißt, die Lebensenergie wird in diesem psychotherapeutischen Prozess nicht durch die analytische Distanz neutralisiert, sondern durch Hingabe ersetzt, was das Geschehen wesentlich lebendiger macht und das Fließen der Energie erst ermöglicht. Diese Hingabe soll im erweiterten Sinne Hingabe an das Leben und an alle zukünftigen Bindungen lehren, denn die Verbindung von Analytiker und Klient besteht somit in einer realen, sich jeden Moment neu konkretisierenden Verbindung. Dank ihrer Bewusstwerdung kann sie für den Klienten zu einem neuen Beziehungsmodell zu anderen Menschen und zum Leben werden.

Peter Schellenbaum: „Tiefgreifende Veränderungen der Persönlichkeit geschehen nur in der Hingabe an einen Menschen oder ein Werk. In der ungeteilten Hingabe werden Sie selbst zu einem einheitlichen Menschen. Die Erfahrung der Ganzheit ist immer eine dynamische Erfahrung der Bewegung. Sich ganz einer Tätigkeit hinzugeben, sei diese geistig oder körperlich, heißt, zu einer einzigen strömenden Bewegung zu werden.“ (5)

Gerade das aber bedeutet, sich selbst und die Welt als Ganzes zu erfahren, was für uns moderne, westliche Menschen eine der größten innerlichen Herausforderungen zu sein scheint – wir können analysieren, reflektieren, rationalisieren und organisieren, aber es gelingt uns viel weniger, uns an ein Du und an die Welt zu verlieren. Zwar haben wir inzwischen verschiedene fernöstliche Meditationstechniken erlernt und viele Menschen beschreiten verschiedene Wege zur Bewusstseinserweiterung. Doch werden diese Techniken mehr pragmatisch und partiell genutzt, als würden wir unser Auto auftanken, um wieder für eine Weile mit ihm fahren zu können, anstatt unsere eigene Lebensenergie in Fahrt zu bringen, um uns aus uns selbst heraus zu bewegen und mit der Welt in Beziehung zu setzen.

Meines Erachtens haben wir eine tief verwurzelte Angst vor der ganzheitlichen Hingabe an ein Du und an die Welt. Wir haben Angst, uns in Liebe zu verströmen, weil sich damit unsere mühsam erworbene Ich-Identität zumindest zeitweilig auflöst und wir den Zustand der Leere aushalten müssen, dem einer Erweiterung unseres Ichs vorausgeht. Da uns aber der Zeitgeist unserer zutiefst rationalen Welt diese Ich-Identität als größtmögliches Ziel vorgaukelt und von uns in hohem Maße Pragmatismus und Selbstbeherrschung verlangt, haben wir die tiefe Angst, in der Hingabe und mit dem Verlieren des Ichs, alles zu verlieren. So, wie sich der Jüngling Narziss aus der griechischen Mythologie in Unkenntnis seiner selbst in sein eigenes Spiegelbild verliebte und sich daran verlor. Damit aber entsagte er dem Ruf der Welt nach Hingabe und des Sichverströmens, woran er schließlich zugrunde ging. Wir haben meines Erachtens Angst, dass in einer tiefen Berührung mit einem Du und mit der Welt all unsere Sehnsüchte nach Liebe, Erotik, spielerischem Sein, Hingabe und göttlicher Erfahrung aufbrechen, uns überschwemmen und uns dafür untauglich machen, im Jetzt zu „funktionieren“. Deshalb wagen wir nicht, unsere Sehnsüchte zu formulieren, geschweige denn, sie auszuleben. Peter Schellenbaum erklärt dieses Paradoxon so:

„Die widersprüchliche Bemühung, sich um des Lebens willen aus dem Leben herauszuhalten, war der unbewusste Mythos des Bürgertums in Wien um die Jahrhundertwende. Erst in der Abenddämmerung seiner Entkräftung kann ein schicksalhafter Mythos durchschaut und durchbrochen werden. Der Mythos einer distanzierten Autonomie hat heute ausgespielt. Seine Energiebesetzung ist einer Zeit zunehmenden Leidens an der Einsamkeit und Vereinzelung zurückgegangen. Die mittlerweile ’atomisierte Gesellschaft’ sucht einen neuen Mythos.“ (6)

Was aber ist es, was wir nicht zu gewinnen wagen und dennoch sehnlichst erhoffen? Oder anders gefragt: Was genau ist es, was wir in der Hingabe befürchten? Ist es nicht die gleichzeitige Angst davor, entweder sozusagen „auszufließen“ und die eigenen Konturen zu verlieren, oder aber vom anderen „überschwemmt“ zu werden, das heißt, das eigene Ich in der Gegenwart des anderen nicht mehr zu spüren? Das aber ist nichts anderes als das Verlieren der Gefühlsaufmerksamkeit zum leib-seelischen Organismus und somit zum Selbst.

„Die Fähigkeit, allein, das heißt bei sich zu sein, während jemand anderer anwesend ist, sogar in einer intimen Beziehung, führt Sie zu der beglückenden Erfahrung, dass die Liebe manchmal ihr Versprechen einhalten kann. Die Vernichtungsangst, die manche Menschen gerade in der ihnen wichtigsten Beziehung quält, stammt aus der Unfähigkeit zur gleichzeitigen Bezogenheit auf sich selbst und das Du.“ (7)

Das wiederum setzt voraus, dass der Mensch ein eigenes Selbst entwickelt. Doch der Begriff der Selbstfindung hat in der jetzigen westlichen Welt meines Erachtens einen eher abwertenden Charakter angenommen. Selbstfindung oder Individuation versteht sich im Mainstream derzeit im Sinne des oben beschriebenen autonomen Ich-Menschen, der sich in narzisstischer Weise mit seinen Eigenheiten von der Welt abgesondert hat und nun unter seiner Vereinsamung leidet, da es ihm immer weniger gelingt, die Verbindung zum großen Ganzen herzustellen. Diese Abwertung ist umso bedauerlicher, da die Zeit gerade jetzt nach visionären Persönlichkeiten verlangt; nach selbstbestimmten und ganzheitsbezogenen Persönlichkeiten, die der Gesellschaft richtungsweisende Impulse geben können. Einer Gesellschaft, deren Werte durch das Versagen der Religionen, durch Globalisierung, Rationalisierung und Wirtschaftskrisen stark ins Wanken geraten sind und dem Einzelnen keinen Halt mehr geben können. So sind heute immer mehr Menschen der Wohlstandsgesellschaft auf der Suche nach dem persönlichen Lebenssinn.

Es scheint also nicht nur aus tiefenpsychologischer Hinsicht, sondern auch aus gesellschaftlicher Sicht notwendig zu sein, den Begriff der Selbstfindung oder Individuation zunächst in seiner Gesamtheit zu betrachten, denn nach C. G. Jung schließt Individuation den Menschen nicht von der Gesellschaft aus, sondern führt ihn mitten in die Gesellschaft hinein.