Geschmacksrevolution Fermentieren

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DIE LAKTOFERMENTATION

Solange eine Pflanze lebt, werden Mikroorganismen, die einen Verderb der Pflanze wie z. B. Fäulnis auslösen, zumeist in Schach gehalten. Stirbt sie ab, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit und der Verderb kommt, je nach Lagerungsbedingungen, früher oder später. Die Schale oder Haut wird durchlässiger und Mikroben bekommen Zugang zu Nährstoffen, die sie für ihr Wachstum brauchen. Zum Verderb führen in der Regel Mikroben, die für ihren Stoffwechsel Sauerstoff benötigen (aerobe Organismen). Um ihn hinauszuzögern, werden viele, vor allem leicht verderbliche Lebensmittel verpackt oder mit verschiedenen Konservierungsmethoden haltbar gemacht. Fermentieren wir Gemüse, so handelt es sich um die milchsaure Vergärung oder Laktofermentation. Das Potenzial reicht weit über die bekannten Klassiker Sauerkraut, Kimchi, Oliven und Salzgurken hinaus. Sie ist neben der alkoholischen Gärung eine der ältesten biologischen Konservierungsmethoden. Milchsäurebakterien (abgekürzt: MSB, LAB – Lactic Acid Bacteria) säuern das Gemüse ein und machen es dadurch haltbar. Als anaerobe Organismen braucht ihr Stoffwechsel keinen Sauerstoff.

Milchsäurebakterien

MSB kommen wie andere Bakterienstämme, Hefen und Pilze überall vor: an Oberflächen von Pflanzen, auf menschlicher Haut, auf Schleimhäuten, in Milch und auch in unseren Därmen. Die Bezeichnung geht auf den Umstand zurück, dass Biologen sie erstmals in Milch entdeckt haben. Veganer dürfen sich also davon nicht in die Irre leiten lassen. Auf unseren Schleimhäuten und Häuten nehmen MSB eine wichtige Funktion wahr: Sie schnappen sich den Platz und besetzen ihn gemeinsam mit vielen anderen, unserem Organismus gut gesinnten Mikroben. Sie produzieren ein wenig Säure und bilden mit ihr gemeinsam einen Schutzmantel. Krankmachende Keim haben wenig Chance sich anzusiedeln und werden so verdrängt.

MSB sind eine sehr vielseitige Gruppe von Bakterien, manche haben eine Stäbchenform, andere sind eiförmig. Der Großteil ist uns gut gesinnt (physiologisch), nur wenige, vereinzelte Stämme sind krankmachend (pathogen). Die bekannteren aus der Gruppe der physiologischen sind Döderlein-Bakterien, Laktobacillus acidophilus oder casei, die als Probiotika Verwendung finden.

Die amerikanische Lebensmittelbehörde FDA verlieh Milchsäurebakterien den sogenannten »GRAS«-Status. Das bedeutet »Generally recognized as safe«. Eine Einnahme von lebenden physiologischen Milchsäurebakterien wird generell und ohne maximales Limit als unbedenklich angesehen.

WAS SIE BRAUCHEN
1. Salz

MSB tolerieren Salz besser als Mikroben, die Lebensmittel verderben lassen. Sie werden von Salz in ihrem Wachstum gehemmt, je mehr umso stärker. Salz hilft dabei, den MSB Vorschub zu leisten und im Gegenzug unerwünschte Keime im Wachstum zu behindern.

Als Faustregel gedacht: Festere Gemüsesorten lassen sich gut mit zwei Prozent Konzentration fermentieren, weichere (Gurken, Zucchini, Tomaten, Spargel, etc.) besser mit 3,5 Prozent Salz. Denn die Weichheit von Gemüse steht im Zusammenhang mit dem Gehalt von Wasser und Ballaststoffen, die den Zellen Festigkeit und Struktur geben.

Die Salzkonzentration hat nun folgende Auswirkungen:

•Bei null Prozent Salzgehalt verrottet und verfault Gemüse und Obst mit der Zeit an der Luft.

Ein bis fünf Prozent Salzgehalt lässt eine milchsaure Vergärung zu.

•Ab acht Prozent zeigt Salz seine zunehmend konservierende Wirkung.

•Im Bereich von fünf bis zwölf Prozent ist eine milchsaure Fermentation noch möglich. Manche MSB-Stämme werden bereits ausgeschlossen. Die Ergebnisse sind für einen puren Genuss bereits zu salzig.

•Ab zwölf Prozent beginnt der Übergang zum Konservieren durch Einsalzen. Salz entzieht bzw. bindet so viel Wasser, dass das Wachstum von Mikroben dadurch gehemmt wird.

2. Geeignete Gärgefäße

Ein Sauerstoffabschluss ist der zweite Faktor fürs Gelingen. Das Prinzip ist einfach: Steht ausreichend Lake (Salzwasser) über dem Gemüse, kommt keine Luft und somit kein Sauerstoff an das Gemüse heran. Auch das unterstützt ein Wachstum der MSB und hemmt die Vermehrung von Fäulnismikroben. Manche Gemüse- und Obstsorten sind allerdings Luftikusse und steigen an die Oberfläche.

Bei der Gärung entstehen zusätzlich Gase, die das Gärgut nach oben drücken. Daher kommt eine Beschwerung und fallweise eine Abdeckung zum Einsatz, um alles dauerhaft unter der Oberfläche der Lake und fern von Sauerstoff zu halten. Eine Abdeckung unter dem Gewicht sorgt manchmal dafür, dass auch kleinere Teile durch Ritzen nicht an die Oberfläche aufschwimmen. Bei Pasten, die kaum überstehende Lake haben, trennt sie das Gärgut von der Luft.

3. Zeit für Ihre mikrobiellen Helfer

Was passiert nun im Gärgefäß, wenn die Milchsäuregärung losgeht? MSB ernähren sich vom Zucker (Kohlenhydraten) im Gemüse und wandeln ihn vor allem in Milchsäure und zu Beginn auch noch in das Nebenprodukt Kohlendioxid um. Mit der Dauer sinkt der pH-Wert mehr und mehr in den sauren Bereich (max. 3,0–3,5 ph-Wert). Die Fermentation soll möglichst schnell in Gang kommen, damit die entstehende Säure zusätzlich zum Salz unerwünschte Mikroben am Wachstum hemmt. Die Milchsäure ist es, die ein Verderben des Gemüses verhindert. Sie lässt aber auch den typisch milchsauren, pikanten Geschmack entstehen.

Bei optimalem Verlauf der Fermentation bilden sich nach einem oder zwei Tagen Gasbläschen und es beginnt zu blubbern, wenn sie aufsteigen. Es ist Kohlendioxid (CO2), das vor allem in der ersten Woche der Fermentation entsteht. In luftdicht verschlossenen Gefäßen entsteht nun Überdruck. Manche Gefäße lassen zu starken Überdruck ab, ohne dass wir sie öffnen müssen. Das hören wir dann als Zischen oder Blubbern. Restlicher Sauerstoff wird auf diesem Weg aus den Gefäßen verdrängt, und es entsteht eine schützende Blase aus Kohlendioxid. Sie schützt, weil Unerwünschtes wie Schimmel oder Kahmhefe Sauerstoff zum Wachsen braucht.

Ab dem zweiten Tag beginnt sich die Lake im Gefäß oft einzutrüben. Das ist ganz normal und vielleicht kennen Sie es noch von Salzgurkengläsern: Sie liegen in wesentlich trüberer Flüssigkeit als Essiggurken. Die Stärke der Eintrübung variiert. Nach ungefähr einer Woche wird es in den Gefäßen ruhiger, die Gärung läuft aber trotzdem weiter. Nur hören und sehen wir nichts mehr davon.

Während der Fermentation spielt eine Schar verschiedener MSB-Stämme und weiterer Mikroben zusammen. In der Fachsprache nennt man das Sukzession. MSB reagieren dabei auf das saurer werdende Milieu. Sie lösen einander ab. Die Fermentation entwickelt sich – je nach Temperatur – mindestens drei Wochen und läuft dann langsam aus. Sie findet ihr Ende, wenn die MSB entweder keine Nährstoffe mehr finden oder es ihnen endgültig zu sauer geworden ist.

DIE VIER PHASEN DER MILCHSÄUREGÄRUNG

In der ersten, der sogenannten heterofermentativen Phase (Tag eins bis ca. drei) sinkt der pH-Wert idealerweise rasch ab. Bei optimalen Bedingungen wird sie meist vom Bakterienstamm Leuconostoc mesenteroides eingeleitet. Der verbliebene Sauerstoff wird von aeroben Mikroben verbraucht. Milchsäure, Kohlendioxid, aber auch ein wenig Essigsäure und Alkohol entstehen als geschmacksbildende Abbauprodukte. Bei niedrigeren Salzkonzentrationen (weniger als fünf Prozent und Temperaturen unter 24 °C) dominiert im besten Fall der Bakterienstamm Leuconostoc mesenteroides den Beginn. Höhere Temperaturen oder auch höhere Salzkonzentrationen lassen die erste Phase überspringen und es wird gleich das Milchsäurebakterium Lactobacillus plantarum aktiv. Die typische Gasbildung bleibt hier aus.

In der zweiten Phase (ca. ab Tag drei) vermehren sich weiterhin heterofermentative MSB-Stämme: Pediococcus, Leuconostoc und Lactobacillus brevis dominieren häufig.

In der dritten Phase (ca. ab Tag sieben) übernehmen zunehmend Lactobazillen, die säuretoleranter sind (häufig L. plantarum, L. sakei und L. curvatus). In dieser sogenannten homofermentativen Fermentation entsteht nur mehr Milchsäure, und die Bildung von CO2 läuft zunehmend aus. In den Gärgefäßen wird es ruhig.

In der vierten und letzten Phase (ca. ab Woche drei) wandeln MSB auch schwer erreichbaren Zucker in Säure um. Geschmacklich kommen wir hier zunehmend in einen Bereich, der bereits sehr und für manche zu sauer ist. Die Milchsäurekonzentration kann hier auch wiederum abnehmen, da Propionsäurebakterien im Rahmen einer sogenannten Sekundärgärung wiederum Milchsäure verstoffwechseln können.

WILD ODER MIT STARTERKULTUREN FERMENTIEREN

Starterkulturen werden in der Fermentationsbewegung aktuell unterschiedlich beurteilt: Im deutschsprachigen Raum wird für Gemüse die wilde Fermentation vorgezogen. Von mancher Seite wird ein Beimpfen sogar mit dem Argument strikt abgelehnt, es würde übersehen werden, dass die Bakterienzusammensetzung in Starterkulturen nicht mit jenen auf dem Gemüse ident sei. Der phasenhafte Verlauf verschiedener Bakterienstämme würde ausgebremst oder übersprungen werden. Wichtige Enzyme und Aromen würden sich daher nicht bilden und dem Fermentierten würde so mikrobielle Vielfalt verloren gehen. Die Diskussion wird in den USA weniger dogmatisch geführt. Starterkulturen werden manchmal auch bei Gemüseansätzen empfohlen. Betont wird, dass der Gärprozess damit sicherer ablaufen und schneller in Gang kommen würde. Fraglich ist, ob hier nicht auch kommerzielle Interessen von Firmen durchschlagen, die Starterkulturen vertreiben.

 

Bei frischem, einwandfreiem und roh essbarem Gemüse brauchen Sie grundsätzlich keine Starterkultur. Es bringt ausreichend viele der »guten« MSB für eine Fermentation mit, selbst wenn wir es waschen und schälen. Spontane Fermentation hat sich über sehr lange Zeit bei den Klassikern Sauerkraut, Salzgurken, Kimchi und Oliven bewährt. Manch professionelle Sauerkrautproduzenten haben vor einiger Zeit mit Starterkulturen experimentiert und sind wieder zur spontanen Vergärung zurückgekehrt.

Der Vergleich

2017 hat sich die Gelegenheit ergeben, einen Vergleich zwischen wild oder mit Starterkulturen fermentiertem Gemüse in einem Labor untersuchen zu lassen. Unter denselben Rahmenbedingungen (Salzkonzentration, Temperatur und Gärdauer) habe ich Rote Rüben und Sauerkraut jeweils einmal wild und einmal mit Starterkulturen vergoren und dann ins Labor geschickt. Der Laborbefund hat keine deutlichen Unterschiede gezeigt: In beiden waren ähnlich viele MSB (Gesamtanzahl an Keimen) und eine ähnlich hohe Bildung an Milchsäure festzustellen. Bei allen Proben war derselbe MSB-Stamm (Lactobacillus buchneri) dominant. Die beiden spontan vergorenen Proben waren genauso frei von unerwünschten und krankmachenden Keimen wie die mit Starterkultur fermentierten. Meine Frage, ob sich die mikrobielle Vielfalt unterscheidet, konnte leider nicht beantwortet werden, weil es dazu andere, aufwendigere Untersuchungsmethoden gebraucht hätte.

Was tun mit üblich roh nicht verzehrbaren Sorten?

Kennen Sie die Gemeinsamkeit von Roten Rüben, Spinat, Mangold, Sauerampfer, Rhabarber und Portulak? Sie alle zählen zu den oxalhaltigen Gemüsesorten. Oxalsäure bindet Kalzium und verhindert die Aufnahme von Eisen. Reagiert es mit Kalzium, kann eine Bildung von Nierensteinen angefeuert werden. Das ist der Grund, warum es heißt, dass sie nicht in großen Mengen roh gegessen werden sollten. Oxalsäure wird nicht nur durch Kochen, sondern auch durch die Gärung reduziert. Die Bakterien in den Fermentationsgefäßen gehen dieser Umbauarbeit nach. Ein Blanchieren zuvor ist demzufolge nicht nötig. Wer ganz sichergehen will, blanchiert oxalhaltiges Gemüse und vergärt mit Starterkulturen.

In Polen und Finnland gibt es eine lange Tradition, Pilze mit Gemüse zu vergären. Einige Fermentationsbücher listen sie unkommentiert als »zum Fermentieren geeignet«. Nachdem ich bereits eine Person kenne, die sich mit selbst fermentierten Pilzen beunruhigende Zustände über eine ganze Nacht zugezogen hat, gebe ich Ihnen den einfachen und vereinfachenden Grundsatz mit auf den Weg: Fermentieren Sie Pilze nur blanchiert.

Es heißt, grüne Bohnen (Fisolen) sollen roh nicht gegessen werden, da sie das giftige Phasin enthalten, das erst durch Kochen abgebaut wird. Es gibt auffallend viele Erfahrungsberichte – nicht nur vom US-Ernärhungsjournalisten Sandor Katz – über den Verzehr von rohen grünen Bohnen ohne jegliche negative Anzeichen oder Wirkungen. Katz ging diesem Widerspruch nach und weist darauf hin, dass es sich um einen schlichten Verwechslungsfehler handeln könnte. Der Grundsatz, niemals rohe grüne Bohnen zu essen, ließe sich auf eine Studie aus den 1920er Jahren zurückführen, in der frische grüne Bohnen mit den getrockneten Bohnen, also den Samen, irrtümlicherweise gleichgestellt wurden. Dieser Fehler würde seither weiter getragen und verbreitet. Wir werden sehen, ob dies in Zukunft Bestätigung findet.

Nicht nur in Südosteuropa gibt es die Tradition, grüne, unreife Tomaten zu verarbeiten. Ob Laktofermentation das darin enthaltene giftige Solanin abbaut oder nicht, wird derzeit kontrovers diskutiert. Solanin wird durch Kochen nicht abgebaut. Tomaten zuerst zu kochen und dann mit Starterkulturen zu fermentieren, ist also keine sichere Lösung des Problems. Verwechseln Sie jedoch unreife, grüne Tomaten nicht mit grün bleibenden, alten Tomatensorten, die wieder vermehrt angebaut werden.

Beachten Sie bei Wildobst, dass es roh verzehrbar ist. Holunderbeeren sollten Sie jedenfalls vor dem Fermentieren kochen. Sie enthalten Sambunigrin, das erst durch Erhitzen zerstört wird.


Obst bringt eine ganz andere mikrobielle Bewohnerschaft mit als Gemüse. Sie haben es vielleicht bereits mit überreifem Obst und ganz ohne Mikroskop beobachtet: Früchte beginnen mit der Zeit gärig zu riechen und entwickeln schließlich einen alkoholischen Geschmack. Einfach ausgedrückt: Auf Früchten wohnen mehr Hefen und am Gemüse mehr Milchsäurebakterien. Daher entwickelt Obst zu allererst eine alkoholische Gärung, wie sie auch bei der Wein- oder Mostherstellung genutzt wird.

Obst ist eine herrlich aromatisierende Zutat bei der Gemüsefermentation und lässt uns delikate sauersüße Mischungen herstellen. Bei Mischungen von Gemüse mit Obst kann es vorkommen, dass zusätzlich zum milchsauren ein alkoholischer Prozess ins Laufen kommt. Passiert es, werden Sie es schmecken können. Seien Sie daher mit Obstzugaben bei wilder Vergärung nicht zu großzügig. An dieser Stelle gilt es, lenkend mit der Zugabe von MSB, also Starterkulturen, und eventuell erhöhten Salzkonzentrationen einzugreifen.

Versuche von Fermentistas weltweit bringen darüber hinaus zutage, dass sich mehr Obstsorten pur zu milchsauren Delikatessen verwandeln lassen als hinlänglich bekannt ist. Salzzitronen und unreif gepflückte Pflaumen (»Umeboshi-Pflaumen«) sind wohl die traditionsreichsten und jene, die in letzter Zeit am meisten Aufmerksamkeit bekommen haben. In vielen Rezepten werden sie jedoch mit so viel Salz verarbeitet, dass eine milchsaure Gärung eigentlich auszuschließen ist und ihre Herstellung mehr einem Konservieren durch Salz zuzurechnen ist. Deutlich reduzierte Salzkonzentrationen zeigen in der Praxis bei ausgewählten Obstsorten überzeugend haltbare und delikate Ergebnisse. Beachten Sie, dass Obst milchsauer zu fermentieren ein Experimentierfeld ist, zu dem sich bei Weitem nicht so viel Definitives sagen lässt wie zur Gemüsefermentation.

Was sich als Starterkultur eignet …

… ist alles, was eine hohe Anzahl an lebenden Milchsäurebakterien enthält.

Zur Auswahl stehen:

•Einwandfreie und geschmacklich passende Restlake

Molke von selbstgemachtem Joghurt oder Milchkefir

Brottrunk (Getränk von milchsauer fermentiertem Brot; gibt es unpasteurisiert in Drogerien)

•Selbstgemachter Rejuveljac aus vergorenen Getreidesprossen

Sie fragen sich, welchen Unterschied diese Starterkulturen machen? Sie sind in der mikrobiellen Zusammensetzung jeweils abweichend. Am besten können Sie das an selbstgemachtem Wasserkefir oder Kombucha erkennen: Als Starterkulturen von Säften führen sie meist in eine leichte Alkoholbildung. So manche Fermentista greift auch zu probiotischen Kapseln. Das ist mir persönlich am wenigsten sympathisch, weil letztlich noch weniger nachvollziehbar ist, was wir in die Gärgefäße einbringen, wenn wir sie verwenden.

Längst ist noch nicht alles erforscht und viele Details noch nicht so bekannt wie häufig erwartet. Bis gesicherteres, d. h. laborgestütztes Wissen zur Verfügung steht, können wir Erfahrung entlang unserer Geschmacksempfindungen sammeln. Genau das hat die Menschheit über sehr viele Jahrhunderte gemacht.

Wann Sie Starterkulturen brauchen

Starterkulturen brauchen Sie bei Ausgangsprodukten, die keine ausreichende Besiedelung durch MSB (mehr) aufweisen, um eine wilde Vergärung zu gewährleisten. Dazu zählen:

•Alles, was Sie gekocht haben. Also alle Gemüse- und Obstsorten, die üblicherweise roh nicht verzehrt werden.

•Bei Ansätzen von purem Obst und bei Mischungen von Gemüse mit hohem Anteil von zuckerreichen Obstsorten unterdrückt die Verwendung von Starterkulturen eine alkoholische Gärung.

•Wenn ungewiss ist, ob noch genügend vitale MSB vorhanden sind, z. B. bei Vergärung getrockneter Senfsamen zu Senf. Hier ist ungewiss, ob noch genügend MSB aus der Trockenstarre erwachen.

•Meerrettich bzw. Kren wie in Österreich gesag wird, ist an dieser Stelle noch erwähnenswert. Erst mit der Verwendung von Starterkulturen ist er richtig köstlich gelungen.

•Bei der Verwendung von Left-Over-Gemüse (»gerettetes Gemüse«), das nicht mehr frisch ist, können Starterkulturen zur Risikoreduktion von Fehlgärungen erwogen werden.


Das Mikrobiom – unser Gesundheitszentrum

Forschungen zum Mikrobiom stellen bisherige wissenschaftliche Annahmen zu Krankheitsursachen und Gesundungsfaktoren auf den Kopf. Mikrobiom bezeichnet die jeweilige mikrobielle Gemeinschaft, die auf und in Lebewesen, aber auch im Erdboden zu finden ist. Dabei bilden Mikroben unsichtbare, lebendige und komplexe Verbindungen untereinander und offensichtlich auch nützliche Netzwerke zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen und Erdreich.

Durch genetische Untersuchungsmethoden ist im letzten Jahrzehnt eine genauere Analyse aller im menschlichen Körper lebenden Mikroorganismen erleichtert worden. Die ursprüngliche Bezeichnung »Darmflora« wird immer häufiger durch den Begriff »intestinales Mikrobiom« oder, wissenschaftlich exakter, »intestinale Mikrobiota« ersetzt. Damit ist die Gesamtheit aller Mikroorganismen gemeint, die in riesiger Schar verschiedenster und komplex miteinander interagierender Mikroben als Gemeinschaft im Darm leben. Dazu gehören nicht nur Bakterien wie MSB, sondern auch Hefen, Archaeen (Urbakterien), Pilze und Viren (Bakteriophagen). Das Mikrobiom jedes Menschen ist ähnlich einzigartig wie dessen Fingerabdruck und baut sich in etwa bis zum dritten Lebensjahr auf. Sofern es nicht durch verschiedene Faktoren gestört wird, bleibt es über die Lebensjahre relativ stabil. Gerät es ins Ungleichgewicht, spricht man von Dysbiose.

Über das Mikrobiom von Pflanzen und Boden ist bisher längst nicht so viel bekannt wie über das menschliche. So zeichnet jede Gemüse- und Obstsorte eine spezielle Gemeinschaft an Mikroben aus, genauso wie die Böden, in denen sie wachsen. Laut einer jüngeren Studie an der TU Graz leben die meisten der 100 Millionen Mikroben eines Apfels im Kerngehäuse. Im Fruchtfleisch sitzen mehr als an der Schale. Essen Sie nun einen Apfel, nehmen Sie den Mikrobenmix auf. Zwischen Pflanzen und Erdboden dürften sich ähnliche Prozesse abspielen. (Wer sich für die großen Zusammenhänge zwischen der Gesundheit von Mensch, Pflanzen und Boden interessiert, dem lege ich das aktuelle Buch von Martin Grassberger »Das leise Sterben« ans Herz.)