Gute Nacht, Mr. Sharon

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Gute Nacht, Mr. Sharon
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Ingrid Müller

Gute Nacht, Mr. Sharon

Wie ich den Krieg überlebte.

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Deutsche Erstausgabe 2015

K R I E G

Die Geburt

Die Bombe

Die Krankheit

Der Bonze

Mein Vater

Die Patin

Meine Mutter

Tante Emmy

Das Schwesterchen

Exodus

Hitlers Eierlikör

F R I E D E N

Die Eingeborenen von Trizionesien

Mr. Watson

Kohlenklau und Co.

Briten und andere Katastrophen

Freunde

Von Engeln und Wundern

London

Die Rache

J’accuse – Ich klage an

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Impressum

Deutsche Erstausgabe 2015

Copyright 2015 Ingrid Müller. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Jede – auch auszugsweise - Verwertung, Vervielfältigung, Übersetzung, Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen bedarf der Zustimmung der Autorin.

K R I E G

Die Geburt

„Uuuund pressen, pressen, pressen! Hecheln, hecheln, hecheln. Uuuund noch mal pressen, pressen, pressen!“

Ich lag im Kreißsaal, und die Geburt unseres ersten Kindes stand kurz bevor. Die Hebamme schrie ihr „Pressen, Pressen, Pressen – und Hecheln, Hecheln, Hecheln“ in den Raum, und jetzt, da das Köpfchen des Kindes sichtbar wurde, drückte sie mir eine Lachgasmaske ins Gesicht. Ich glaubte zu ersticken und schrie:

„Nein, ich will das nicht!!“

Aber sie ließ nicht locker.

„Kommen Sie, das hilft Ihnen.“

„NEIN“, ich schlug um mich.

„Jetzt kommt das Kind!“

Sie hob mich in eine halbe Sitzposition und stützte meinen Rücken ab, damit ich zwischen meine Beine sehen konnte. Da kam der Kopf heraus, und während das Baby noch in mir steckte, riss es das kleine Mündchen auf und schrie. Der Arzt zog es raus. Ein Mädchen. Alles dran. Die Hebamme nahm das Kind, um es zu reinigen und zu wickeln, während der Arzt die Nachgeburt entsorgte. Dann wurde mir die Kleine in die Arme gelegt. Sie war erschöpft eingeschlafen. Ich betrachtete sie, aber meine Gedanken beschäftigten sich mit etwas ganz Anderem.

Dieses war mein erstes Kind, doch es kam mir so vor, als habe ich das schon einmal erlebt. Warum war mir alles so vertraut? Tief in den Furchen meines Gehirns gab es eine Zelle, die eine Information gespeichert hatte, und ich bemühte mich krampfhaft, diese abzurufen. Es gelang mir nicht. Tagelang überlegte ich, dann gab ich auf. Alles Einbildung. Aber plötzlich machte es „klick“, und ich wusste es.

Ich erinnerte mich daran, dass ich in meiner ganz frühen Kindheit einen ständig wiederkehrenden Traum hatte, aus dem ich jedes Mal schreiend aufwachte. Ich befand mich in einer engen Röhre und drohte zu ersticken. Ich wollte schreien, aber es ging nicht. Ich wurde vorwärts geschoben und glaubte zerquetscht zu werden. Dann sah ich vor mir einen blassen Lichtschimmer, es wurde hell und ich schrie, hörte begütigende Stimmen, und dann schlief ich ein. Ich konnte es selbst nicht glauben, aber ich habe mich an meine eigene Geburt erinnert, die in den Albträumen immer wieder ablief. Als ich etwa 6 Jahre alt war, fiel mir eines Tages auf, dass ich diesen Traum lange nicht mehr gehabt hatte, und schon damals fragte ich mich, was das wohl zu bedeuten habe. Aber ich vergaß es, bis zu dem Tag, an dem meine kleine Tochter aus mir herausschlüpfte.

Die Bombe

Es war im Januar, morgens um 7 Uhr; es war ein sonniger und frostig-kalter Tag, als ich mich entschloss, diese Erde für eine Weile mit meiner Anwesenheit zu beglücken. Und es war Sonntag. Das erzählten mir meine Eltern immer wieder, und meine Mutter fügte regelmäßig hinzu:

Ja, Du bist ein Sonntagskind. Und Sonntagskinder haben Glück im Leben.“ Ich dachte, irgendwann würde die Tür aufgehen und das Glück käme hereinspaziert. Zunächst aber war mein kleines Leben in Gefahr. Als ich zweieinhalb Jahre alt war, brach der II. Weltkrieg aus. Am Anfang merkten wir nichts davon, bis zu der Bombe

*****

Im ersten Weltkrieg wurden die Schulen in den Städten geschlossen, alle schulpflichtigen Kinder evakuiert und in ländliche Regionen verfrachtet. Mein Vater kam auf einen Bauernhof im Jeverland, und aus dieser Zeit stammte sein Kontakt zu der Bauersfamilie, der jahrzehntelang anhielt. Die Familie hatte drei Töchter, und besonders zu Annie hatte er bis zu ihrem Tod regelmäßigen Kontakt, nachdem deren Eltern gestorben waren. Für meinen Vater war diese Zeit auf dem Bauernhof wohl die beste Zeit seiner Jugend. Seitdem liebte er die Landschaft, die Nordsee, das Watt, die Marschen, und als sich meine Eltern nach dem Krieg endlich wieder einen Urlaub leisten konnten, kam nur die Nordsee in Frage. Der Schwarzwald oder die Ostsee gefielen ihm nicht. Nur an der Nordsee wollte er seine Urlaube verbringen.

Nun, da der Krieg an Intensität zunahm und die Versorgungslage immer kritischer wurde, luden uns die Jeverländer ein, bei ihnen Urlaub zu machen, damit wir uns mal wieder richtig satt essen könnten. Meine Mutter wollte das Haus nicht verlassen, und so fuhr ich mit meinem Vater allein los. Es war eine anstrengende Reise mit dem Zug. Häufiges Umsteigen, langes Warten auf den Anschlusszug und schließlich noch ein Marsch von dem Bahnhof des kleinen Ortes hinaus aufs Land. Ich war etwa fünf Jahre alt und völlig erschöpft, als wir dort ankamen. Ich erinnere mich daran, dass wir einfach in das Haus gingen, dessen Tür nicht abgeschlossen war, und in eine Bauernstube traten, wo um einen großen Tisch herum viele Leute saßen, die alle aufsprangen mit Ausrufen der Freude und Überraschung. Mich ignorierte man zuerst, bis auf ein riesiges Hundevieh, das auf dem Boden gelegen hatte und sich träge erhob, um mich zu beschnüffeln. Er war fast so groß wie ich, und ich hatte Angst. Dann sagten sie, was alle Hundebesitzer sagen:

„Der tut nix“.

Der tat wirklich nichts, er war sozusagen eine Seele von Mensch. Er spielte mit Begeisterung Verstecken, was wir in den nächsten Tagen ausprobieren konnten. Wir gingen mit ihm in die Scheune, stellten ihn in eine Ecke und sagten ihm, er dürfe nicht gucken. Dann versteckten wir uns hinter riesigen Strohballen, mein Vater pfiff und im nächsten Augenblick war das Tier schwanzwedelnd zur Stelle. Ich konnte es nicht glauben.

„Der hat geguckt. Noch mal.“

Wir stellten ihn wieder in die Ecke, und ich guckte über die Schulter zurück, aber der Hund rührte sich nicht. Mein Vater pfiff, und der Hund war da.

„Jetzt suchen wir uns mal ein richtig schweres Versteck,“ sagte mein Vater.

Wir türmten Strohballen auf und verschanzten uns dahinter. Nach dem Pfiff war er sofort da, grub uns aus und freute sich. Ich war begeistert vom Landleben.

An einem Tag durfte ich mit dem Bauern auf dem Pferdewagen fahren. Er hatte zwei Ackergäule vorgespannt, und ich saß mit ihm auf dem Kutschsitz. Ich war völlig fasziniert, wie die Pferde den Weg fanden, ob geradeaus, rechts herum oder links herum, immer wussten sie, wohin wir wollten. Das waren intelligente Tiere! Ob ich auch mal lenken wolle. Ich wollte. Der Bauer erklärte mir, dass man den Tieren mit einem Zug am Zaumzeug die Richtung angeben müsse, in die sie gehen sollten. Ich glaubte das nicht. Meine Hochachtung war so groß, dass ich meinte, die Tiere wüssten das von allein. Um ein Haar landeten wir im Graben, wenn der Bauer nicht völlig panisch am Zaumzeug gerissen hätte. Das wurde dann auf Jeverländer Platt, von dem ich nichts verstand, zum Besten gegeben. Alle lachten und erklärten mir, dass das ganz dumme Viecher seien, denen man alles sagen müsse.

 

Leider war die schöne Zeit abrupt, früher als geplant, zu Ende. Wir schliefen auf dem Speicher, von dem ein Teil abgetrennt und zu einem Gästezimmer umgebaut war. Eines Morgens wurde ich wach, und das Bett meines Vaters war leer. Ich wartete, und als er nicht wiederkam, kriegte ich Angst, stand auf und lief heulend den Gang entlang zur Treppe. Doch da erschien er, fasste mich bei der Schulter und führte mich ins Zimmer zurück.

„Wir müssen sofort nach Hause“, sagte er traurig.

„Die Mutti hat angerufen. Unser Haus ist von einer Bombe getroffen worden.“

Es war eine Brandbombe, die durch das Dach geschlagen, aber auf dem Dachboden liegen geblieben war. Sie hatte ein großes Loch in die Decke gebrannt, das bis zum Ende des Krieges nicht repariert wurde und immer wieder besichtigt werden konnte. Das Dach wurde ausgebessert, der Schaden hielt sich in Grenzen. Anders beim Nachbarn. Dort war eine Bombe durch das Dach und zwei Zimmerdecken bis in das Erdgeschoss gefallen und hatte das Haus in Brand gesetzt. Es wurde eine Menschenkette gebildet, die Wassereimer weiterreichte, und während meine Mutter Wasser schleppte, hatte sich unsere Bombe durch die Zimmerdecke gefressen. Die anschließenden Löscharbeiten setzten das Haus unter Wasser, und meine Mutter hatte die ganze Nacht gewischt und war ziemlich erschöpft, als wir von unserer Reise zurückkamen.

Ab jetzt war der Krieg ganz nah. Um die Bevölkerung bei Luftangriffen zu warnen, hatten die Behörden Sirenen installiert, die durch unterschiedliche Tonlängen den Grad der Gefahr heulend verkündeten: Voralarm, Vollalarm, akute Luftgefahr. Spätestens bei der letzten Stufe sollten alle Bewohner im Luftschutzkeller sein, was bei uns bedeutete, wir gingen in die Waschküche. Bei Dunkelheit musste das Licht ausgemacht werden. Die Kellerfenster wurden zugemauert, damit ja kein Lichtschein nach außen dringe. Die feindlichen Flieger sollten nicht erkennen können, wo dort unten Häuser standen. Was war dieser Hitler doch für ein Filou! Den Alliierten haben wir es so richtig gezeigt.

Es half uns aber nicht. Die feindlichen Flugzeuge ließen Bombenteppiche auf uns herabfallen. Es waren die berüchtigten schaurig schönen „Christbäume“, die das Ruhrgebiet in Schutt und Asche legten. Am Ende des Krieges bestand unsere Stadt aus Ruinen. Es sah so aus, wie Schiller es in seiner „Glocke“ nach dem Feuersturm beschrieben hat:

In den öden Fensterhöhlen wohnt das Grauen,

und des Himmels Wolken schauen

hoch hinein.

Die Krankheit

Der Krieg allein war nicht Unheil genug. Unser Leben wurde auch dominiert von Krankheiten. Ich erinnere mich noch schwach daran, wie meine Mutter als Folge einer Diphterie bewegungsunfähig mit Rheuma auf der Couch lag. Männer mit einer Bahre kamen und trugen sie hinaus. Mein Vater und ich besuchten sie einmal im Krankenhaus, was eine Himmelsreise war. Heute ist das kein Problem mehr. Man setzt sich ins Auto und fährt hin. Damals mussten wir uns durch mehrmaliges Umsteigen in Zug und Straßenbahn sowie einem anschließenden Fußmarsch den Krankenhausbesuch geradezu erkämpfen.

Irgendwann hatte ich als Kleinkind eine Lungenentzündung. Mir ist noch in Erinnerung, wie mich mein Vater keuchend quer durch die Stadt schleppte, bis wir endlich das Kinderkrankenhaus erreichten.

So richtig habe ich es in meiner frühen Kindheit nicht begriffen, dass mein Vater schwer erkrankte. Irgendwann einmal war meine Mutter sehr aufgeregt und sagte, der Papa sei im Krankenhaus. Heute weiß ich, dass er auf der Straße mit einem Blutsturz zusammen gebrochen war. Er hatte offene Tuberkulose und lag wochenlang auf der Isolierstation.

Danach war er sehr lange zur Rehabilitation in einer Lungen-Fachklinik. Als er wieder nach Hause kam, kennzeichnete er ein Essbestecke durch Kratzer, und meine Mutter erklärte mir, dass wir mit diesem Besteck nicht essen dürften, um uns nicht anzustecken. Das war ein genialer Einfall, denn dieses Besteck kam mit allen anderen gemeinsam in die Spülschüssel und wurde mit demselben Geschirrtuch abgetrocknet. Die Krankheit war jedoch soweit verheilt, dass sie nicht mehr ansteckend war.

Ich musste erleben, wie grausam die Umwelt auf Krankheiten reagiert. Die Kinder in der Nachbarschaft durften nicht mehr mit mir spielen, obwohl ich gesund war. Erwachsene trieben mich davon, wenn ich auf der Suche nach Spielgefährten irgendwo auftauchte. Selbst Jahre später, nachdem unsere Klassenlehrerin von der Krankheit meines Vaters durch eine Intrige erfuhr, setzte sie mich unter einem Vorwand in die leere letzte Bank und sagte, ich habe eine ansteckende Krankheit, man müsse mich isolieren.

Mein Vater starb kurz vor seinem achtzigsten Geburtstag. Nach jahrzehntelanger Medikamenten-Einnahme hatte sein Arzt ihn Jahre vorher für geheilt erklärt.

Einen Vorteil hatte die Krankheit: mein Vater musste nicht in den Krieg. Niemand in unserer Familie hat sich angesteckt, aber die Niedertracht der Mitmenschen hat uns das Leben schwer gemacht.

Der Bonze

Unsere Straße verband die zwei parallel verlaufenden Straßen Reichshofstraße und Richthofenstraße miteinander. An der Richthofenstraße lag das Gelände des Militärflughafens mit Hangars und den Kasernen. Irgendwo war auch die Flak aufgestellt, die – sobald die Sirenen Vollalarm tuteten – ihr beruhigendes Geknatter von sich gaben. Sie würden uns vor den feindlichen Bombern schützen. Ich habe nie erlebt, dass sie einen getroffen hätten, stattdessen trafen die Bomben uns umso besser.

Wenn wir unsere Straße bis zum Ende gingen, trafen wir auf das Flughafenhotel, ein kantiger roter Backsteinbau. Im Erdgeschoss gab es ein Restaurant mit vorgelagerter Terrasse, von der aus man das Treiben auf dem Flugfeld beobachten konnte. An einem schönen sonnigen Sonntag Nachmittag gingen meine Eltern mit mir dort hin, um das Starten und Landen der Propellermaschinen zu beobachten. Ich fand es ungemein interessant, noch dazu, da ich eine Limonade zu trinken bekam. Als am Nebentisch Kartoffelsalat serviert wurde, den ich sehnsüchtig betrachtete, bestellte mein Vater eine Portion für mich. Der zerstörte allerdings meinen Kinderglauben daran, dass Kartoffelsalat grundsätzlich lecker sei. Ich wollte meine Eltern nicht enttäuschen und stocherte lustlos darin herum.

„Schmeckt es dir nicht?“ fragte mein Vater grinsend.

„Dooch.“

Meine Eltern amüsierten sich.

„Hast du gedacht, der schmeckt hier so wie der bei der Mutti? Du musst ihn nicht essen. Lass ihn stehen.“

Ich war erleichtert. Es war der scheußlichste Kartoffelsalat meines Lebens.

Plötzlich brach auf der Terrasse Hektik aus. Uniformierte Männer liefen aufgeregt hin und her. Eine Maschine war gelandet und fuhr bis dicht an die Terrassenstufen. Die Uniformierten bildeten Spalier, die Flugzeugtür flog auf, ein offensichtlich hoher Militär sprang heraus, federte die Terrassenstufen hinauf, das Spalier brüllte mit ausgestreckten Armen „Heil Hitler“ und stürzte dann hinter dem eilig auf das Restaurant zusteuernden Offizier her. Er schien mächtig Hunger zu haben.

Auf der Terrasse flüsterte man „Wer war das denn?“ Niemand wusste es, aber wir saßen am Rande des großen Weltgeschehens und hatten einen kurzen Blick auf den strahlenden Glanz des tausendjährigen Reiches tun dürfen. Mich hatte das Ereignis sehr beeindruckt. Ich lief für die nächste Zeit umher und schrie jedem, der mir auf der Straße begegnete mit ausgestrecktem Arm „Heil Hitler“ entgegen. Die Reaktionen waren unterschiedlich. Einige lachten, andere grüßten ernst zurück und wieder andere ignorierten mich. Eines Tages kam mir ein sehr altes Ehepaar entgegen und als ich strahlend meinen Hitlergruß schmetterte, geriet die Frau völlig außer sich und begann zu weinen. Der Mann beruhigte sie und sagte: „Es ist doch noch ein Kind.“

Ich ahnte, dass dieser Hitler äußerst bösartig sei und hatte ein schlechtes Gewissen. Meine „Heil-Hitler-Huberei“ stellte ich von da an ein. Die Leute müssen gedacht haben, ich käme aus einer streng gläubigen Nazi-Familie. Das Gegenteil war der Fall. Mein Vater hielt Hitler für einen gefährlichen Idioten. Jeden Tag, wenn er von der Arbeit nach Hause kam und in der Zeitung die Siegesmeldungen der deutschen Wehrmacht las, schüttelte er resigniert den Kopf, und meine Eltern unterhielten sich mit gedämpfter Stimme über die Unsinnigkeit des Krieges. Auch wenn Besucher kamen, wurde leise, fast flüsternd, darüber geredet, dass wir den Krieg verlieren würden. Das war äußerst gefährlich, denn solche zersetzenden Äußerungen konnten jemanden ins KZ bringen, wenn er von einem missgünstigen Menschen denunziert wurde. Ich sollte das alles gar nicht mitbekommen, aber ich sperrte Mund und Nasenlöcher auf, denn nichts war so interessant, wie wenn sich die Erwachsenen über die drohende Katastrophe unterhielten. Meine Mutter schärfte mir ein, dass ich zu niemandem auch nur das Geringste sagen dürfe, was in unserem Haus gesprochen würde, weil dann unser Leben in Gefahr sei.

Eines Tages hieß es, Hitler komme zu uns, um die Soldaten zu besuchen und führe dann im offenen Wagen vom Flughafenhotel die Richthofenstraße entlang. Die Nachbarn waren aufgeregt und wollten den Führer doch mal aus der Nähe sehen. Mein Vater verkündete:

„Da gehe ich nicht hin.“

An dem besagten Tag stand ich mit meiner Mutter hinter der Gardine und wir sahen, wie die Volksmassen durch unsere Straße Richtung Flughafenhotel strömten.

„Kommt da weg“, forderte mein Vater. „Man muss ja nicht sehen, dass wir nicht hingehen.“

Für diesen feierlichen Tag war Beflaggung Vorschrift. Jeder musste eine Hakenkreuzfahne hissen. Zu dem Zweck war an jeder Hausfassade eine Halterung angebracht, in die an bestimmten Tagen die Fahne zu stecken war. Von manchen Fassaden wehten riesige Tücher. Meine Eltern hatten die kleinst mögliche Flagge gekauft, was sich gegen die der Nachbarn recht popelig ausnahm und zu spöttischen Kommentaren führte. Hitler fuhr wenige Meter entfernt an unserem Haus vorbei, und ich habe ihn nicht gesehen. Auch diese Verhaltensweisen meiner Eltern hätte zu schweren Konsequenzen führen können.

Unsere Nachbarin, die Frau Kellner, erhielt eines Tages eine Vorladung von der Gestapo. Sie war eine mürrische unzugängliche Frau und hatte häufig Streit mit den Nachbarn. Dann stand sie im Garten und schrie ihre Beschuldigungen gegen diese lautstark in die Gegend und beschimpfte sie als Spitzbuben. Irgendjemand hatte sich offensichtlich gerächt und sie bei der Gestapo angeschwärzt.

„Die sehen wir nicht wieder“, flüsterten meine Eltern entsetzt.

Wie Frau Kellner uns später erzählte, hatte sie das auch so gesehen. Sie hatte ihre irdischen Angelegenheiten geregelt und sich auf Nimmerwiedersehen von ihrem Mann verabschiedet. Nach zwei Stunden war sie wieder zu Hause. Sie hatte sich energisch gegen die Beschuldigungen gewehrt und offenbar einen vernünftigen Polizisten angetroffen, der die anonymen Vorwürfe für nicht glaubwürdig hielt. Sie hatte Glück. Es wurden da ganz andere Geschichten über die Gestapo kolportiert. Aber vielleicht hatte sie diesen „Spitzbuben“ ja auch eingeschüchtert.

Die Schwester meiner Mutter hatte im Dorf ein Milchgeschäft, und so erhielten wir immer etwas mehr Milch als uns nach den Lebensmittelmarken zugestanden hätte. Meine Mutter half gelegentlich aus, indem sie mit einer Nuckelpinne durch das Dorf fuhr und aus den Kannen mit einem Maß die Milch in die Gefäße der herbeigeeilten Kundinnen füllte. Eines Tages hatte meine Tante eine Sonderration Butter erwischt und gab meiner Mutter einige Stücke für den Verkauf ohne Lebensmittelmarken. Sie solle die Butter nach freiem Ermessen verteilen. So kam eine alte verhärmte Jüdin an den Wagen, und da gerade niemand in Sichtweite war, gab meine Mutter ihr ein Päckchen, was eine überwältigende Reaktion zur Folge hatte. Meine Mutter musste eindringlich auf die Frau einreden, ihre Dankbarkeits-Bekundungen zu bremsen, denn Juden bevorzugt Lebensmittel zu geben, wurde mit KZ bestraft.

Es war die Zeit, wo meine Eltern sich gegenübersaßen und über den Küchentisch gebeugt flüsternd unterhielten. Im Dorf erzählte man sich schreckliche Dinge, die ich nicht richtig verstand. Ich wurde aufmerksam, als mein Vater ausrief:

„Das glaube ich einfach nicht.“

 

Auch meine Mutter äußerte sich zweifelnd. Aber dann kam sie aus dem Dorf zurück und berichtete, dass schon wieder eine jüdische Familie verschwunden sei und dass das Textilgeschäft, das alteingesessene Juden seit Jahrzehnten geführt hatten, jetzt einen neuen Besitzer habe.

Jedes mal, wenn sie aus dem Dorf zurück kam, erzählte sie meinem Vater abends, was wieder gemunkelt wurde.

„Man gibt ihnen Seife und Handtuch und sagt, sie kämen zum Duschen,“ flüsterte sie.

„Und dann kommt Gas aus den Duschen.“

Grauen lag in der Luft, und obwohl ich die leise Unterhaltung nicht genau verstand, schnappte ich Halbsätze auf, wenn meine Eltern erregt die erfahrene Neuigkeit kommentierten.

Begierig verfolgten sie die Nachricht vom Vorrücken der Alliierten. Wenn doch die bald kommen würden, um den Krieg zu beenden!

Um das Ereignis, das eintrat, richtig bewerten zu können, muss man sich klar machen, welchen Bedrohungen wir täglich ausgesetzt waren. Nicht allein die Gefahr aus der Luft und das Geheul der Sirenen bei Tag und Nacht, sondern auch die Angst, von der Gestapo abgeholt zu werden, bestimmten unser Leben.

Wie viele Bewohner unserer Straße Mitglieder der NSDAP waren, konnte man nur ahnen. Von einem wusste man es aber ganz genau. Er war der Ortsgruppenleiter für unseren Bezirk, ein missmutig aus wässrig-blauen Augen blickender Mann mit Tränensäcken und einer ungesunden Gesichtsfarbe. Die Leute schienen Angst vor ihm zu haben. Meine Mutter bezeichnete ihn als Großschnauze. Als unsere Häuser nach dem Bombenangriff brannten, war er urplötzlich aufgetaucht, hatte das Kommando an sich gerissen und jedem gesagt, was er zu tun habe. Allerdings musste meine Mutter zugeben, dass er in dem kopflosen Durcheinander beherzt die Situation gemeistert und effektiv die Brände gelöscht hatte, auch wenn unser Haus anschließend unter Wasser stand.

Eines Tages schellte es an unserer Haustür, die meine Mutter öffnete. Unangemeldete Besucher wurden grundsätzlich nicht in die Wohnung gelassen, sondern gleich draußen abgefertigt. Eine deutsche Hausfrau ließ nur jemanden eintreten, wenn die Wohnung tipp topp aufgeräumt und auf Hochglanz poliert war. Es könnte ja sein, dass andernfalls der Besucher herum erzählte „bei denen sieht es ja aus...!“

Dieser jedoch verschaffte sich herrisch Zutritt mit der Bemerkung

„Ich muss ihren Mann sprechen.“

Es war der Ortsgruppenleiter. Er kam in die Küche und sagte zu meinem Vater, er müsse ihn unter vier Augen sprechen. Mein Vater schrumpfte in sich zusammen und schlich mit dem Bonzen ins Nebenzimmer. Meine Mutter blickte schreckensstarr auf die Zimmertür, hinter der die zwei Männer verschwunden waren, und schob nervös ihre Töpfe auf dem Herd hin und her. Als ich fragte, was denn los sei, flüsterte sie heiser, ich solle still sein. Wir lauschten angestrengt, ob wir irgendetwas hören könnten, aber es gab weder Schmerzensschreie noch Hilferufe.

Nach kurzer Zeit ging die Tür wieder auf, und mein Vater hatte seinen feierlichsten Gesichtsausdruck angeknipst: nach innen gerichteter Blick mit leicht belustigtem Zucken in den Mundwinkeln. Die Männer verabschiedeten sich freundschaftlich und stellten ein erneutes Treffen in Aussicht. Als die Haustür sich hinter dem Besucher geschlossen hatte, schlackerte mein Vater mit den Handgelenken und lachte lautlos in sich hinein. Wir stellten ungeduldig neugierige Fragen, aber mein Vater machte es spannend. Mehrfach öffnete er seinen Mund, setzte zum Sprechen an, schüttelte den Kopf, lachte still vor sich hin und platzte dann heraus:

„Die wollen mir das Ritterkreuz verleihen.“

Meine Mutter guckte entsetzt. Für sie war das die Vorhölle. Mein Vater war im Visier der Nazis. Ritterkreuz? Für was denn?

Die Lage in Deutschland war trostlos. Um die Moral im Lande wieder aufzurüsten, hatte der Führer sich entschlossen, eine Ladung Ritterkreuze unter das staunende Volk zu werfen. Zu Fressen gab es nichts mehr, aber Ritterkreuze hatten wir noch genug, und die Bonzen vor Ort mussten geeignete Kandidaten finden, denen sie die Dinger andrehen konnten. Mein lungenkranker Vater hatte gerade sein 25-jähriges Firmenjubiläum hinter sich gebracht, und außerdem arbeitete er in einer Firma, die kriegswichtige Büromöbel herstellte. Daher hatte sein Arbeitgeber ihn für eine Verleihung vorgeschlagen, und der Bonze kam und fragte, ob mein Vater die Ehre annehmen würde. Der sagte ja, was sollte er anderes tun? Wenige Tage später erschien der Bonze wieder; im Schlepptau einen weiteren ebenso miesepetrigen Nazi. Sie verschwanden wieder im Nebenzimmer und hängten meinem Vater die Auszeichnung um. Wir durften nicht dabei sein. Wie mein Vater anschließend berichtete, war das eine peinliche Vorstellung, denn der Bonze hatte versucht, eine feierliche Ansprache zu halten, sich dabei aber ungelenk völlig verheddert.

Fünfundzwanzig Jahre später war mein Vater immer noch in derselben Firma. Die neue Bundesregierung machte es wie die alte: sie verteilte ebenfalls Orden, die hießen jetzt Bundesverdienstkreuz. Jeder, der 50 Jahre in einer Firma gearbeitet hatte, konnte eine solche Auszeichnung bekommen. Der Arbeitgeber meines Vaters wollte für ihn das Bundesverdienstkreuz beantragen, aber mein Vater hielt es für Unfug und sagte das auch. In der Zeitung standen dann Name und Adresse der neu Geadelten. Mit einem kleinen Nebensatz wurde erwähnt, dass ein weiterer Aspirant verzichtet habe. Das empörte meinen Vater. Man hätte auch seinen Namen und seine Adresse angeben müsse, um seinen Protest öffentlich zu machen.

„Hätteste doch ganz gerne mal in der Zeitung gestanden,“ spottete ich. „Du kannst den Orden immer noch anfordern.“

„Kommt nicht in Frage.“

„Schade“, ätzte ich. „Stell Dir vor, wie toll sich das in Deiner Todesanzeige macht:

Ritterkreuzträger und Träger des Bundesverdienstkreuzes.“

Er stimmte etwas verhalten in unser Gelächter ein, aber selbst diese verlockende Aussicht konnte ihn nicht überzeugen.

Sein Ritterkreuz habe ich übrigens 1945 an einen amerikanischen Besatzungssoldaten verhökert.