Der Regenbogen ohne Himmel

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Später stand er in Ediths Stube. Wie Faust in Gretchens Kammer kam er sich vor, ohne aber deren Schicksal heraufbeschwören zu wollen. Durch die niedrigen Fenster konnte man den wunderschönen Sternenhimmel sehen. Es war angenehm kühl geworden, die Grillen zirpten leise.

Am Sonntagmorgen, als Helmut in seinem Zimmerchen aufstand, war die Herrschaft bereits zur Kirche gefahren. So gehörten den beiden an diesem Vormittag zwei ungestörte Stunden. Edith war in besonders ausgelassener Stimmung. Sie verbreitete überall ansteckenden Optimismus, ob in der Küche, im Garten oder in Gesellschaft der anderen Erntehelfer.

Helmut lernte ihre hiesigen Freundinnen kennen, die alle ein herzliches Verhältnis zu ihr hatten. Da er bei der Herrschaft als Ediths Bräutigam galt und das wohl in gewisser Hinsicht nach außen seinen Besuch rechtfertigen helfen musste, trugen sie Ringe wie zwei Verlobte. Ein Spiel, das Edith immer wieder zum Lachen reizte und ihr offenbar auch Freude bereitete.

Helmut fragte sich, ob es wirklich nur ein Spiel war und bleiben würde? Könne man sich mit zwanzig Jahren denn schon verloben und für die Zukunft fest binden? Doch er sei ja bald einundzwanzig. Aber daran liege es wohl nicht. Die Eltern würden bestimmt keine Schwierigkeiten machen. Nur traute er sich selbst nicht über den Weg. Natürlich liebte er Edith, hatte Sehnsucht nach ihren Lippen und der Wärme ihres festen, anschmiegsamen Leibes. War das aber die große Liebe, das letzte unbedingte Wollen? Er wusste die Antwort nicht. Vielleicht fehlt mir doch noch die Reife, gestand er sich ein.

Mittags saßen alle mit der Herrschaft am Tisch. Man kam den „Verlobten“ äußerst freundlich, ja liebenswürdig entgegen. Die Gutsfrau, die hier alle unter sich Adele nannten, belegte Helmut auffällig oft mit Beschlag. Dann ging ihre Unterhaltung im bunten Zickzack von Goethe über Raffael, da Vinci, Michelangelo, Schumann und Schiller bis zur Hühnerzucht und zum Rezept eines Apfelstrudels. Edith raunte ihn mehr als einmal mit einem kleinen Rippenstoß an, ob denn Adele oder sie Besuch habe.

Nach einer gemütlichen Jause, die sich die Herrin nicht nehmen ließ, gingen die beiden an die Oder baden. Mit Stolz stellte er fest, dass Edith mit ihrer Figur auch das Badetrikot nicht zu scheuen brauchte. So weit entkleidet hatte er die junge Frau noch nicht gesehen. Öffnet sie jetzt noch ihren Knoten, dachte er, so dass sich die Fülle des blonden Haars über Nacken und Schultern ergießt, dann gleicht sie einem Engel. Den zu küssen konnte keine Sünde sein.

Der Bruder einer von Ediths Freundinnen konnte in Cosel Kinokarten besorgt. So sahen sie am Abend den Film Glück unterwegs. Wie stimmungsvoll und passend. Nach einem kleinen Nachttrunk wanderten sie unterm Sternenhimmel nach Kobelwitz zurück. Leichter Dunst schwebte über der Oderniederung. Edith erzählte von ihrer fernen niederdeutschen Heimat und den Angehörigen.

Es war zwei Uhr morgens, als Helmut auf leisen Sohlen ihre Kammer verließ und unbemerkt sein Zimmerchen im ersten Stock erreichte.

Er kuschelte sich in die Decke: Schönere Urlaubstage hatte er noch nie erlebt. Obwohl Edith im Bett lag, als er sich hinausschlich, war doch nichts geschehen, was das Licht der Sonne zu scheuen hätte. Er wollte sich dieses Mädel aufbewahren. Wenn sie beide denn stark blieben.

Am frühen Morgen wurde Helmut von zarter Hand geweckt. So könnte es immer sein, hoffte er verträumt.

Glühende Hundstagshitze brütete diese Tage über dem Gut. Ein Erntewagen nach dem anderen rollte in die große Scheune. Edith hatte den Nachmittag frei bekommen. In seinen Arm geschmiegt, las sie ihm auf dem Bettrand die Briefe ihrer Angehörigen und Freundschaften vor. So viel Vertrauen war zwischen ihnen. Helmut vergaß alles, den Krieg, die Verwundung, die ungewisse Zukunft. Nur sein Mädel spürte er, ihre Lippen auf den seinen.

Der kurze Urlaub ging am Montag zu Ende. Nach einem herzlichen Abschied von der Herrschaft wanderten sie am Nachmittag auf Cosel zu. Am Oderufer wehte eine angenehme Kühle vom Wasser her, sie setzten sich noch einmal nieder.

In Cosel fanden sie noch ein gutes Abendbrot und gingen danach in der Abenddämmerung auf den Bahnhof zu. Die Mondsichel war schon zu sehen, die ersten Sterne blinkten. Durch ihre dünne Bluse hindurch glaubte Helmut, Ediths Herzschlag zu spüren, wenn sie sich an ihn schmiegte. Der Abend war unglaublich lau, ihm schien das Glück vollkommen. Um einundzwanzig Uhr siebenunddreißig fuhr der Zug ein. An den innigen Abschied knüpften sie die Gewissheit eines baldigen Wiedersehens. Gegen ein Uhr nachts erreichte Helmut das Elternhaus am Eichwald.

Auch am Dienstag herrschte Hundstagshitze. Er verschlief fast den ganzen Tag. Kurz vor Mitternacht raffte er sich auf und schrieb noch an Edith. Von Clairchen hatte er zuhause vier Briefe vorgefunden. Aber öffnen konnte er sie jetzt nicht. Die Gedanken waren nicht frei dafür.

Mittwoch war es immer noch unerträglich heiß. Man konnte eigentlich nicht arbeiten. Nicht einmal in der Kühle des Hauses oder im schattigen Garten fand er in seinen sonst so geliebten Juristereien Ablenkung und döste nur und las planlos herum.

Der Vater war wieder im Schlachthof tätig. Dort hatte er spontan einen jungen Hund gekauft. Helmut holte den Welpen zu Fuß ab. Ein allerliebstes Kerlchen, hellbraun mit weißen Pfötchen.

Über dieser Idylle ließ sich der dräuende Krieg nicht wegwischen. Da nun nach Meinung aller Bekannten die akute und unmittelbare Gefahr im Osten gebannt schien, brannte es ganz offenbar im Westen. Wo sind unsere Stoßarmeen? Oder stimmt das Geraune, dass wir wohl Menschen, aber keine schweren Waffen hätten? Diesen Mangel kannte Helmut noch von der Front, wie alle deutschen Soldaten inzwischen, zur Genüge.

Und wenn wir Paris den Alliierten überlassen müssen? Soll der Westwall doch noch seine Kraftprobe haben! Alles bange Fragen. Und über Oberschlesien wütete nun auch der Bombenterror der Amerikaner. Jeder Alarm ließ ihn für sein Mädel in Cosel bangen. Doch was hätte es ihr genützt, nachhause zu ihrer Mutter ins Hannoversche zu fahren? Dort rollten die Angriffe in noch dichterer Folge als hier.

Helmut fragte sich, ob man denn nun schon in der früheren Lage wie damals der Ort Bunzelwitz sei. Vergleiche mit der friderizianischen Zeit waren unter den Kameraden gerade beliebt. August bis September 1761, im Siebenjährigen Krieg, hatte Friedrichs des Großen Armee im befestigten Lager beim schlesischen Bunzelwitz, in der Nähe von Schweidnitz, gelegen. Sein Heer von dreiundfünfzigtausend Mann war umgeben gewesen von feindlichen österreichischen und russischen Kräften in der Stärke von hundertdreißigtausend Soldaten und Kombattanten. Aber die Feinde hatten gezögert. Die Österreicher planten einen detaillierten Angriff, doch die Russen lehnten ab. Sie zogen sich über die Oder zurück, es gebe Versorgungsschwierigkeiten, hatte es geheißen.

Helmut fürchtete, dass noch dieses Jahr der Wall an Weichsel und Karpaten, Westwall und Alpen zeigen müssten, ob sie halten. Dann Verrat in Rumänien. Das Öl vom Balkan schien verloren. Noch lebte der Führer und das Volk glaubte größtenteils an ihn und an einen Sieg, schon aus purer Verzweiflung.

Am Freitag gab es wieder einmal Alarm. Doch der blieb hier wie bisher ohne ernstliche Folgen. Edith hatte den Vater im Schlachthof angerufen. Sie würde, wie er dem Sohn dann ausrichtete, mit großer Wahrscheinlichkeit bald zu ihm nachhause in Ziegenhals kommen. Er solle Sonntag um acht Uhr am Breslauer Hauptbahnhof sein. Welch unverhoffte Freude! War sein Lazaretturlaub hier erst zu Ende und musste er darauf wieder in Kattern antreten, konnte es sehr lange dauern, bis sie sich wiedersähen: Urlaubssperre, Bahnsperre und so weiter.

Kämpfe um Paris! Würde man die Seine-Linie halten können? Warum hörte man nicht Näheres über Rumänien?

Infolge neuer Maßnahmen und Befehle konnten ihm die restlichen Bücher aus dem Lazarett nicht nachgeschickt werden. Er ging mit dem Vater auf die Wiese ins Heu. Sie blendeten die politische Lage aus, gaben sich den naheliegenden Bedürfnissen hin und machten Futter für die Ziegen.

Der Sonntag begann mit einem herrlichen Morgen. Die Sonne strahlte. Um acht traf der Zug mit Edith im Hauptbahnhof ein. Helmuts Herz jubelte. Gegen Mittag gab es wieder Fliegeralarm. Welle um Welle ging über die Siedlung hinweg, Gott sei Dank. Die eine Hand als Sonnenschutz an der Stirn, Edith mit dem freien Arm umschlungen, stand er unter grünem Laub und verfolgte die feindlichen Geschwader.

Am Nachmittag hatte sich alles wieder beruhigt. Die zwei wanderten nach Schönewalde. Im Märchenwald wurde es ihm eigenartig romantisch zumute und er dachte an das Marschlied So viel Laub wie auf den Bäumen, so viel hab‘ ich mein Lieb‘ geküsst. Er tat es.

Als der Mond aufstieg, waren sie wieder zurück und saßen auf einer Bank im elterlichen Garten. Wenn sie nun Helmut besuchte, schlief Edith in seinem Zimmer und er oben im Dachstübchen, das früher der Raum seiner Schwester war.

Edith konnte auch Montag noch bleiben. Sie nahmen sich deshalb den Aufstieg zur Bischofskoppe vor. Die Sonne brannte heiß vom klaren Himmel herunter. Auf dem Gipfel des alten, markanten Grenzberges stand der steinerner Aussichtsturm aus dem Jahre achtzehnhundertachtundneunzig. Er war der älteste im Altvatergebirge mit einem wunderschönen Rundblick. Eine herrliche Fernsicht belohnte ihre Mühen. Begeistert stand Edith, die norddeutschen Tiefebene gewohnt, vor der Pracht dieser Berge und Wälder. Das Glück der beiden, ihre Eintracht schien in diesem Augenblick vollkommen und wurde durch nichts gestört. Auf dem Rückweg musste Edith barfuß gehen, denn sie hatte sich eine große Wasserblase gelaufen, nahm es aber mit kindlicher Ausgelassenheit hin.

 

Helmut fragte sich, ob er hier, jetzt schon sein Lebensglück im Arm halte. Oder wäre das nur ein Rausch, verstärkt durch die heranrückenden Gefahren? Er war sich sicher, dass sie ihn liebte. Aber sie kannten sich erst wenige Monate. Ihr Zusammensein war bisher immer nur in Stunden zu zählen gewesen. Auch er liebte sie aus vollem Herzen, gewiss. Aber wenn er tief in sich hineinhörte, war er nicht ohne Zweifel an der Reife seiner Liebe. Es gab keinen Vergleich. Die Zukunft würde alles entscheiden müssen.

Um einundzwanzig Uhr einundzwanzig ging Ediths Zug zurück nach Cosel. Es blieb ihnen nur die Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen.

Zwei Tage lang hatte er in Seligkeit gelebt. Allmählich kehrte der Alltag wieder zurück und damit ins Bewusstsein die bedrohliche militärische Lage. Zuhause ernteten sie auf der Wiese Grummet. Schwester Liesel war krank, der Arzt musste kommen. Hoffentlich würde es sich nicht als Wochenbettfieber herausstellen, das fehlte noch.

Am Donnerstag kam ein Brief von Edith. Sie war gut, wenn auch mit wunder Ferse, auf dem Dominium Kobelwitz angekommen. Am Dienstag hatte es noch Großangriffe auf Fabriken in der Umgebung gegeben, trotz des sehr wechselhaften Wetters. Hoffnung und Glaube wurden zu ständigen Begleitern.

Liesel ging es bald darauf wieder ganz gut, es war nur eine harmlose Grippe gewesen. Helmut büffelte etwas Familienrecht, obwohl er nicht damit rechnen konnte, dass in absehbarer Zeit wieder ein ordentlicher Studienbetrieb aufgenommen würde. Er hatte die Nachricht bekommen, dass am Sonnabend sein Lazarett- und Stubenkamerad Heinz Wilde heiraten wolle. Er wünschte ihm in Gedanken und trotz oder wegen seiner Jugend alles Gute. Möge er mit seiner Hedwig glücklich werden.

Am Sonntag war es regnerisch, die Hundstage schienen endgültig vorüber zu sein. Diesmal ein Sonntag ohne Edith. Doch er hoffte auf das nächste Wochenende und war unendlich froh, dass sie so viel freie Zeit zur Verfügung hatte. Hoffentlich lässt sich der Gutsherr erweichen und bewilligt ihr acht Tage Urlaub, die sie dann hier bei mir verbringen kann, wünschte er sich. Und hoffentlich macht uns dann die Bahn keinen Strich durch die Rechnung.

Montag ging Helmut mit seiner Schwester in Ziegenhals ins Kino: Liebespremiere. Anschließend besuchten sie das befreundete junge Ehepaar Roter, das sich ein behagliches Nestchen gebaut hatte.

Was würde ihm bevorstehen, was durfte er erhoffen? Oder anders: Würde er je das erreichen, was diesen beiden, auch dank der Wohlhabenheit ihrer Eltern, wie eine reife Frucht in die Hände gefallen war? Und wann wäre das vielleicht der Fall? Oder aber der Ausgang des Krieges würde sie frei machen von allen diesen Sorgen, weil Tote keine Bedürfnisse mehr haben. Denn fast schien es jetzt so, als ob die erdrückende Anzahl von feindlichen Flugzeugen und Panzern allem ein Ende bereiten könnte. Der Führer und viele in der Bevölkerung glaubten noch panisch an den Sieg.

Der nächste Tag begann mit strahlend blauem Himmel. Man entdeckte hier und da schon herbstliches Laub. Helmut nutzte den Tag und wanderte los, ins Weite. Bald konnte er die Glatzer Berge am Horizont erkennen. Links, fast zum Greifen nah, die Berge des Altvatergebirges. Welch herrliches Panorama. Er versuchte, die Alltagsgerüchte zu vergessen und gab sich dem Augenblick hin. Neben ihnen hingen die prachtvollen reifen Fruchtdolden einer Eberesche. Ihr Rot stand im Kontrast zum tiefblauen Himmel. Am Berghang zogen zwei Ochsen mühsam einen Pflug durch die Erde. Das Leben der hiesigen Bauern war karg wie der Boden, den sie beackerten. Der Wind wehte lau. Schwalben sammelten sich auf Telefonleitungen und Giebelsimsen. Die kleinen Gärten waren voll reifer Früchte. Das Jahr stand an der Wende.

Wieder zuhause, wechselte er ständig zwischen der Ernte im Obstgarten und der Lektüre eines Romans. Dann las er endlich Clairchens Briefe. Sie waren voller Hoffnung und Sehnsucht nach einem Wiedersehen. Er konnte daran jetzt nicht denken.

Indessen bereitete der Vater die Fortsetzung einer langen Familientradition vor: Er würde wieder Obstwein herstellen. Johannisbeeren mussten gepflückt, gewaschen und ausgepresst werden. Der gezuckerte Saft wurde mit Zuchthefe in einem großen Glasballon zum Gären angesetzt. In einigen Tagen sollte es darin stürmisch zu glucksen und zu brodeln anfangen. Dann würde sich alles allmählich beruhigen, die Hefereste sich absetzen und der junge Wein würde allmählich rubinrot und ganz klar werden. Helmut freute sich auf die erste Probe. Und auf ein paar gute Flaschen zum Vorrat.

In der Stadt traf er den Freund Rolf Stange. Er hatte sechs Wochen Urlaub bekommen. Der Grund dafür war weniger erfreulich. Das chemische Werk in Blechhammer, wo er praktische Arbeit abzuleisten hatte, war von amerikanischen Bombern zerschlagen worden. Dann traf er noch, ganz unverhofft, seinen Schulfreund Erich Langer, er hat Urlaub aus Norwegen. Sie gingen zusammen ins Kino: Das große Abenteuer.

Rechtzeitig zum Wochenende kam am Freitag die erwünschte Nachricht von Edith. Sie werde am Sonntag kommen und bis Freitag bleiben können. Helmut konnte seine Freude kaum bezähmen und träumte von glücklichen Tagen. Die Eltern machten möglich, was ging, und das war in der augenblicklichen Lage nicht einfach. Dem kam entgegen, dass sie zuhause jetzt etwas mehr Platz hatten, denn Liesel war nach dem Wochenbett mit dem Baby in die eigene Wohnung in Langenbrück zurückgegangen. In den fünf Wochen war Helmut der Kleine sehr ans Herz gewachsen.

Er holte Edith wieder vom Bahnhof ab. Das Wetter passte zu seiner Stimmung. Fünf Tage wollten sie nur für sich selbst leben.

Der Montag begann trübe, aber nur, was die Witterung anbetraf. Sie wanderten durch die Wälder nach dem kleinen Bergdorf Reihwiesen, etwa achthundert Meter hoch, östlich von Freiwaldau. Als sie unterwegs am geheimnisvollen Großen Sühnteich standen, brach endlich die Sonne durch und schien bis zum Abend. Sie verbrachten den ganzen Tag einsam und glücklich miteinander. Erst gegen Anbruch der Nacht waren sie wieder zurück.

Am nächsten Tag besuchten sie Liesel und den kleinen Neffen in Langenbrück. Dann wollten sie ins Strandbad von Wildgrund. Wegen des unfreundlichen Wetters war es fast menschenleer. Auf dem Wege zur Ruine Edelstein kam Helmut die Melodie in den Sinn: Gewandert bin ich durch die Wälder, und Berge waren stets mein Ziel… - das „Edelstein-Lied“. Da gab es plötzlich Fliegeralarm. Ein gewaltiges Brummen hinter den Bergen kündigte die Bomber an. Mehrere Verbände flogen hoch droben. Im Schatten eines Ahorns hielten sich die beiden still fest. Nach einer halben Stunde jagten die Flugzeuge in umgekehrter Richtung wieder zurück. Es gab Entwarnung.

Nach einem kleinen Fußmarsch erreichten sie dann Zuckmantel, wo sie zu einem unverhofft guten Mittagessen kamen. Helmut musste unwillkürlich an Franz Kafka denken, der hier als junger Student zweimal Erholung gesucht hatte. An einen Freund hatte er in dieser Zeit geschrieben, er sei schon die vierte Woche in einem schlesischen Sanatorium, sehr viel unter Menschen und Frauenzimmern und dadurch ziemlich lebendig geworden.

Der Mittagsschlaf an einer sonnigen Stelle auf der Wiese am Schlossberg raubte den beiden dann so viel Zeit, dass sie sich schleunigst auf den Rückweg machen mussten. Das Wandern bereitete ihnen große Freude, aber es war ja nur Mittel für das glückliche Zusammensein.

Am vierzehnten September, Donnerstag, war der letzte gemeinsame Tag. Sie besuchten Vater auf dem Schlachthof, trafen Rolf Stange und gingen anschließend miteinander ins Kino: Das lustige Kleeblatt von Erich Engels.

Sie wollten es nicht fassen, dass die schöne Zeit schon wieder vorbei war. Die ganze Nacht wachten sie durch, nur um keine Stunde zu verlieren. Und am Morgen konnten sie sich in die Augen schauen und hatten sich nichts vorzuwerfen. Ein Fehler?

Um fünf Uhr fünfundfünfzig fuhr Ediths Zug ab. Langsam rollte er in den Morgen. Helmut blieb mit trauriger Hoffnung zurück.

Der Vater hatte plötzlich hohes Fieber und Brustschmerzen bekommen. Also musste man den Arzt holen und dann später noch einmal runter in die Stadt zur Apotheke laufen. Erschöpft nach alledem verschlief Helmut den ganzen Nachmittag.

Jetzt hieß es wieder, in den Alltag zurückfinden. Aber noch hatte er Edith ganz lebhaft vor seinen Augen. Er sah sie in der bestickten Bulgarenbluse mit dem weiten Nackenausschnitt und dem bunten Rock. Wie der blonde Haarknoten darin lag! Er war stolz. Er schloss manchmal die Augen und glaubte er, ihre weichen Lippen und die Nähe ihres Körpers zu spüren. Er dankte dem Himmel für die schönen Tage.

In der folgenden Woche tröstete sich Helmut im Kino: Romantische Brautfahrt wurde gespielt. Sehr nett, aber ungeheuer gegenwartsfremd, fand er, seiner eigenen Erfahrungen eingedenk. Er traf sich mit Rolf Stange. Sie radelten nach Reihwiesen und dabei musste er ständig an Edith denken. Auf dem Rückweg, nachdem sie sich getrennt hatten, traf er zufällig eine alte Bekannte, mit der er seinerzeit so manchen Tanz gewagt hatte. Nun war sie Kreisreferentin für Sport.

Nach ein paar Tagen war Vaters Fieber ziemlich zurückgegangen. Aber er hatte in der kurzen Zeit schrecklich abgenommen, obwohl es ihnen eigentlich an nichts fehlte.

Ein Brief von Edith traf ein. Sie hatte ihrer Mutter von der neuen Verbindung geschrieben und ihm nun deren Antwortbrief beigelegt. Darin klang alles sehr positiv. Helmut empfand Respekt und Mitgefühl für diese Frau. Denn schon seit elf Wochen wartete sie angeblich auf ein Lebenszeichen von ihrem zweiten Mann. Er stand an der Ostfront.

Am Donnerstag war er wieder im Kino, diesmal in Niklasdorf: Das Schweigen im Walde. Seltsamer Zufall, die Sportreferentin vom Dienstag saß neben ihm. Nach dem Film plauderten sie noch eine ganze Zeit lang auf der Dorfstraße über vergangene Zeiten. Es schien, als hoffe sie auf ein Wiedersehen. Aber dann verabschiedete man sich doch recht unverbindlich.

Am folgenden Morgen konnte er Edith telefonisch erreichen. Sie würde am Samstag kommen! Dann suchte er Vaters Arzt auf, um ihm über seinen Zustand zu berichten. Aber der Arzt war selber krank, also nicht erreichbar.

Helmut machte sich im Obstgarten nützlich, der liebliche Herbstanfang forderte dazu regelrecht heraus. Die Früchte halfen der Familie ein bisschen, die entstandenen Ernährungslücken zu füllen. Mit den Lebensmittelkarten allein kam man nicht mehr aus.

Der Vater war inzwischen wieder aus dem Bett, aber er sah weiterhin schlecht aus. Er hatte Helmut heute siebenhundert Reichsmark gegeben. Zusammen mit seiner eigenen Rücklage von tausenddreihundert Mark konnte er jetzt von einer Absicherung seines Studiums ausgehen, da er als Kriegsversehrter ja nur für die Bücher- und Lebenskosten aufkommen musste. Das Geld trug er umgehend auf die Kasse. Bis zum Staatsexamen hätte er so pro Semester fünfhundert Reichsmark zur Verfügung.

Am Sonntag war endlich Edith wieder da. Da sich das Wetter draußen kühl und trübe zeigte, trug sie einen rotbraunen Wintermantel und einen breitkrempigen blauen Hut dazu. Das Haar war nicht mehr zum Knoten gebunden. Sie hatte sich zwei Zöpfe geflochten und sie zu einem dichten Netz aufgesteckt, das tief in den Nacken reichte. Er fand, diese Frisur mache sie jugendlicher als der strenge Knoten.

Für den Nachmittag hatte Liesel die beiden zu sich nach Langenbrück eingeladen. Sie nahmen den Bummelzug. Eine Zugstreife versetzt sie plötzlich und kurzzeitig in Angstzustände mit starkem Herzklopfen. Aber die beiden Offiziere gaben sich mit seiner Kennkarte zufrieden. Nach Urlaubspapieren fragten sie nicht. Sie wussten nicht, ob aus Anständigkeit oder aus Dummheit, aber das war egal.

Liesel und Erhard empfingen und bewirteten sie auf das Liebenswürdigste. Mehrere Flaschen Wein und etliches an Cognac mussten daran glauben. Abends gegen zehn brachen sie vergnügt zu Fuß auf, zurück nach Ziegenhals.

 

Sie wollten über Wildgrund, Arnoldsdorf und Dürrkunzendorf gehen, um der Gefahr einer erneuten Zugkontrolle aus dem Wege zu gehen. Man dürfe dem Glück nicht ins Gesicht schlagen, meinte er. Außerdem, wer ginge nicht gern mit seinem Mädel im Arm stundenlang über dunkle Landstraßen, auch wenn der Himmel in der Ferne grollte.

Um Mitternacht erreichten sie Ziegenhals, da brach das Unwetter über sie herein. Mit Mühe und nur unvollständig konnten wir sie sich mit ihren dürftigen Regenhäuten schützen. In wenigen Minuten waren sie überall durchnässt. Seine Hosenbeine glichen eher Wassersäcken als schnittigen Beinkleidern. Aber die Stimmung blieb herrlich, auch dank des genossenen Weins.

Der folgende Montag gehörte nur den beiden. Das nutzten sie weidlich aus, denn es war ungewiss, wann sie sich wiedersehen würden. In der Abenddämmerung saß sie dann an seiner Seite und sang ihm mit leiser Stimme anrührende Lieder vor. Bald erkannte er nur noch den Schimmer ihrer Augen und Zähne. Schon erfasste beide Sehnsucht und Abschiedsschmerz.

Zum wiederholten Male stand Helmut am Dienstagabend wieder am Bahnsteig und musste dem Zug nachsehen. Viel zu schnell verschluckte die Dunkelheit den letzten Wagen und das winkende Tüchlein. Fröstelnd eilte er im Mondlicht nach Hause. In einer Woche würde sein Urlaub zu Ende sein und er müsste zurück ins Lazarett des Klosters Kattern. Er grübelte, was ihn wohl erwarten würde. Das Studium in Breslau, die Entlassung zum Ersatzdienst oder weiterhin der sture Lazarettaufenthalt? Gut, dass man es nicht vorher erraten konnte.

Edith hatte ihm ein großes koloriertes Foto dagelassen. Zusammen mit dem Vater, der für vier Wochen arbeitsunfähig geschrieben worden war, richtete er den beschädigten Rahmen des Bildes etwas her und hängte es an die schmale Wand dem Bett gegenüber auf, zwischen Bücherregal und Kleiderschrank. So schaute nun Edith ständig, etwas streng und frauenhaft, auf ihn herab, sobald er die Stube betrat. Die Koloration hatte sie allerdings ein wenig entstellt. Aber er freue sich, jetzt ein so großes Bild von ihr zu besitzen.

Wegen einer Erledigung suchte Helmut am nächsten Tag auch den Schlachthof auf. Dr. Schimke, Vaters Chef, machte ihm den Ernst vom Zustand seines Vaters klar. Was er leise befürchtet hatte, bewahrheitete sich. Der Vater war offenbar schwer krank.