Unsichtbare Architektur

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Die Kapelle der Neulandschule, 1190 Wien

Der früheste Wiener Sakralraum, der den Forderungen nach liturgischer Erneuerung entsprach, war die Kapelle des Schulbaus für die Neulandschule in Grinzing, den Clemens Holzmeister 1930 entwarf. Anregungen für die Gestaltung könnten sich einem Schulbau verdanken, der 1928 für die Benediktinerabteil Maria Laach geplant worden war. Holzmeister errichtete beziehungsweise erweiterte in den 1920er Jahren mehrere Kirchen in Westösterreich.306 Dort versuchte er, die volkstümliche Gotik der Region in eine persönliche Sprache zu übersetzen, die die Vorbilder durch Stilisierung und Proportionsveränderungen moderner erscheinen lassen sollte (Abbildung 55).


Abbildung 54: Clemens Holzmeister, Neulandschule, Grinzing, Modell zum ersten Entwurf (Archiv der Schule, Wien)

Abbildung 55: Clemens Holzmeister, Pfarrkirche St. Anton am Arlberg (Moderne Welt, 12. September 1933, 16)

„Indem er unmittelbar an die bodenständigen Bautypen anknüpft, versteht er ohne kleinliche Nachahmung der Form den Baugedanken neu herzustellen“.307 Einiges davon, wie eine Vorliebe für klar begrenzte Kuben, Giebel und gedrungene Spitzbögen, die klare Trennung einzelner Volumina und die Bevorzugung großer ungegliederter Flächen, floss auch in Holzmeisters Entwurf für das 1922 eröffnete Wiener Krematorium ein. Der Bau, ein Auftrag der sozialdemokratischen Gemeinde Wien, hatte einiges Aufsehen erregt.308 1926 gewann Holzmeister einen Wettbewerb für St. Martin in Nürnberg und wurde so auch in Deutschland bekannt. Seit 1924 war Holzmeister Professor für Architektur an der Wiener Akademie, der er ab 1931 auch als Rektor vorstand; 1928–1933 übernahm er parallel dazu eine Professur an der Düsseldorfer Akademie. Er errichtete eine Reihe von Kirchen in Deutschland und knüpfte Kontakte zur deutschen liturgischen Erneuerungsbewegung; der Text van Ackens war ihm nachweislich bekannt.309 Holzmeister war mit August Hoff bekannt, dem Direktor der Kölner Werkschulen, an denen der Reformkirchenbauer Dominikus Böhm lehrte, dessen Assistent damals der bei Peter Behrens ausgebildete Wiener Robert Kramreiter war.310 Kramreiter sollte wenig später neben Holzmeister zu einem der wichtigsten kirchlichen Architekten des Ständestaats aufsteigen. Holzmeisters grundlegende Vorstellungen vom Kirchenbau datierten also bereits aus der Zeit vor seinem politischen Engagement und vor seinem Aufstieg in der austrofaschistischen Hierarchie.

Abbildung 56: Albin Stranig, Christus, der Kinderfreund (Neulandschule Wien)

Dominikus Böhm (1880–1955), der unter anderem bei Theodor Fischer in Stuttgart ausgebildet worden war, praktizierte in seinen Kirchenbauten ein ähnliches Rezeptionsverfahren wie Holzmeister: Neue Lösungen wurden durch radikale Vereinfachung und Variation von Traditionellem und Regionalem gefunden. Diese traditionelle Komponente, die Gewohntes wiedererkennbar beließ, kam der Bauaufgabe Kirche, deren Funktion sich über Jahrhunderte nicht wesentlich geändert hatte, funktional, aber auch ideologisch sehr entgegen. Die erste Auflage von Johannes van Ackens Buch von 1922 enthielt Illustrationen von Böhm. Dominikus Böhm wiederum hatte 1925–1927 eine Arbeitsgemeinschaft mit Rudolf Schwarz unterhalten, der seinerseits in der katholischen Jugendbewegung „Quickborn“ engagiert war und der mit seiner 1930 geweihten Aachener Fronleichnamskirche, einem radikalen Einheitsraum, großen Einfluss ausüben sollte.311 Holzmeister, der auch die Texte und Arbeiten von Schwarz kannte,312 konnte in den späten 1920er Jahren im rheinischen Kernland der deutschen katholischen Erneuerungsbewegung vielfältige Anregungen aufnehmen, die er später in mehreren Wiener Kirchenbauten umsetzte. In Zusammenarbeit mit dem Franziskanerpater Gregor Hexges, der ebenfalls in der Liturgiereformbewegung engagiert war und später auch in Österreich publizierte,313 baute Holzmeister das Kloster in Hermeskeil am Hunsrück. 1929 hatte Holzmeister mit „Pflege des Kirchengrundrisses“ einen ersten programmatischen Text zum Kirchenbau vorgelegt, dessen Forderungen sich im Wesentlichen mit denen van Ackens decken.314 Den Bauauftrag für die Neulandschule verdankte Holzmeister vermutlich dem Priester und Neulandleiter Karl Rudolf, möglicherweise über die gemeinsame CV-Mitgliedschaft.315

Abbildung 57: Clemens Holzmeister, Kapelle der Neulandschule, 1930 (PRERADOVIC, Jugendreich, Abb. 4) und heute

Im Kaasgraben am Stadtrand Wiens hatte eine Gruppe junger, ambitionierter Volksschullehrerinnen unter der Leitung von Anna Ehm eine katholische „Schulsiedlung“ eingerichtet. Prälat Rudolf sorgte mit einem Hilfsverein und mit Unterstützung von Kardinal Piffl sowie dem Sozial- und Unterrichtsministerium 1926 für den Ankauf einer Militärbaracke für die Schule. Die in der Jugendbewegung „Neuland“ erlebte Zeit inspirierte die Lehrerinnen, die in Art eines Laienordens zusammenlebten, zu einer Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit den Kindern nach dem Vorbild deutscher Reformschulen. In Grinzing wurde – ähnlich wie in den sozialdemokratischen Schulen und Kindergärten der Gemeinde Wien – auch nach dem fortschrittlichen System Montessori unterrichtet.316 Ein Bild des Neuländers Albin Stranig im Besitz der Neulandschule (Abbildung 56) zeigt die Pionierinnen in ihrer einfachen Kleidung, wie sie einem bartlosen Christus, in blauer Neulandtracht in Art des Blauzeugs der Arbeiter, die bedürftigen Kinder zuführen. Nach dem Umzug ins neue, von Holzmeister geplante Haus bedauerten die Lehrerinnen zunächst den Verlust ihrer „primitiv geradlinige[n] Lebensform […]. Es hat uns viel Demut gekostet, ehe wir ein positives Verhältnis zur neuen Situation gewannen.“317

Die Hauskapelle (Abbildung 57), im obersten Geschoß eines viergeschoßigen, ursprünglich aus drei Flügeln bestehenden Gebäudes mit offenem Hof gelegen, wird in Lage und sakraler Widmung am mittleren Bauteil deutlich angezeigt: Ein mittig angeordneter Flacherker mit hochrechteckigem Kreuzrelief wird von zwei Fenstern flankiert, die aus Bogengittern, einem Lieblingsmotiv Holzmeisters, aber auch Dominikus Böhms, bestehen. Die Fassade der Neulandschule ist leicht gekrümmt, mit einer bündigen Traufe abgeschlossen und trotz ihrer Nüchternheit sehr dekorativ: Holzmeister gliederte die neun Achsen der Fläche im Erdgeschoß durch Fenster in zwei unterschiedlichen Formaten, beschränkte sich in den Obergeschoßen auf die kleinere Fenster, so dass der springende Rhythmus des Erdgeschoßes in einen regelmäßigen übergeführt wurde. Dieser erhält einen Mittelakzent durch den kopflastig sitzenden Kapellenerker. So entsteht eine Fassade aus modernen Elementen – insbesondere die Rahmen der großen Fenster verdanken sich zeitgenössischen italienischen Vorbildern –, die in ihrer dekorativen Regelmäßigkeit aber einen essentiellen Schluss der Moderne, nämlich den auf einen Zusammenhang von Innen und Außen, nicht zulässt. Die sakrale Konnotation bleibt auf das Kreuz an der Fassade beschränkt.

Der ursprünglich größere, querformatige, in seiner Einrichtung heute veränderte Kapellenraum (Abbildung 57) folgte den Vorschlägen der Liturgiereform: Der Altartisch – vermutlich der erste freistehende Altar in einem Wiener Sakralbau –, ist so aufgestellt, dass der Priester der Gemeinde zugewandt zelebriert – ein absolutes Novum, denn bis dahin geschah das mit dem Rücken zur Gemeinde.318 Der Altar ist hinterlegt von einer Wandnische in der Stirnwand, die neben dem schlichten Tabernakel ein Wandbild des Neulandmitglieds Rudolf Szyszkowitz zeigte: Der hl. Christophorus war genrehaft als dynamischer junger Mann in der blauen Tracht der Neuländer dargestellt.319 Die zentrale Nische wird von zwei Fenstern flankiert und zusammen mit dem Altarraum durch ein Baldachinmotiv betont. Der Raum enthielt keinerlei Möbel, die Messe wurde stehend im Sinn der Circumstantes gefeiert. Die Kommunionbank als Abschrankung entsprach den Vorschlägen van Ackens. Eine derart freie, den Reformabsichten ideal entsprechende Altaraufstellung wurde in keinem anderen Wiener Kirchenbau der Zeit realisiert.

Ein Text des Brixener Domherren Adrian Egger, der auch Kunsthistoriker und Denkmalpfleger war, definierte 1933 anlässlich des Katholikentags wichtige Parameter für den modernen Sakralbau. Die Kirche solle durch ihre Lage den Ort dominieren und, durch Grün und Luftraum vom Alltag abgerückt, als „vornehmstes und monumentalstes Haus“ der Ortschaft gestaltet werden. Das Innere sei in Absprache mit dem Seelsorger in Verbesserung traditioneller Formen zu gestalten. Der Hochaltar solle, nun aus dem barocken Wandverbund gelöst und freigestellt, von überall gut sichtbar sein. Sichtbar sei ebenso die Kanzel, die nun in Rückkehr zu historischen Vorbildern neben dem Altar aufzustellen wäre, um den Blick auf Mimik und Gestik des Predigers freizugeben. Das Schiff müsse gerade noch ausreichend Tageslicht zum Lesen der Gebete und Lieder bieten, hingegen wäre der Altarraum nicht über die Stirnwand, sondern von den Seiten oder von oben zu belichten. Die Westwand jedoch könne sich in ein großes Fenster öffnen. Von hoher Bedeutung war die Raumakustik, war doch der liturgische Gesang ein wichtiger Bestandteil der Andacht.320

 

„Ausdruck des neuen künstlerischen Wollens“: Die Krimkirche

Für die Pfarrkirche im pastoral unterversorgten, damals proletarischen Stadtteil In der Krim konzipierte Holzmeister im Auftrag des lokalen Kirchenbauvereins 1924 einen ersten, recht traditionellen Entwurf mit einem monumentalen Westwerk.321 Der ausgeführte, im Juni 1933 geweihte Bau wurde nach einem 1931 datierten, sachlichen Entwurf errichtet (Abbildung 58).322

Abbildung 58: Clemens Holzmeister, Pfarrkirche hl. Judas Thaddäus in der Krim, Wien 19 (Holzmeister 1937, 69)

Am 3. Juli 1932 fand die Konsekration statt, am 1. Jänner 1935 folgte die Pfarrerhebung.323 Die Kirche sollte in zwei Bauabschnitten errichtet werden. Ausgeführt wurde zunächst nur der erste Abschnitt, eine Saalkirche für 450 Personen, die in den späteren Anbau integriert werden sollte. Der hinter der Fassade gelegene Raumabschnitt mit der tiefen rechteckigen Altarnische im Norden war der Kernbau, der erst 1957 von Anton Steflicek, einem Schüler Holzmeisters, um das quer angebaute Kirchenschiff erweitert wurde.324 Die Fassade wurde nach Holzmeisters Entwurf ausgeführt. Sie musste sowohl für den ersten Bauabschnitt mit dem Kirchenraum in Nord-Süd-Richtung als auch für den zweiten, um 90 Grad gedrehten Saal dahinter mit der Apsis im Westen als straßenseitiger Abschluss fungieren. Holzmeister entwarf eine streng symmetrische, traufständige, zweigeschoßige Fassade mit zwei hohen und tiefen seitlichen Rechtecknischen in wuchtigen Profilen. Die großformigen, weit vortretenden und schlicht profilierten Rahmungen, die die Fassaden von Krimkriche und Neulandschule gemeinsam haben, lassen Details aus dem italienischen Novecento assoziieren, dessen frühe Arbeiten Holzmeister vermutlich aus der Zeit seines Bozener Ateliers kannte.325 Der Zugang erfolgt nicht, wie sonst üblich, durch ein Mittelportal; die Mittelachse ist durch ein Fenster blockiert. Die quergelagerte, dreigeschoßige Fassade hat eine durchlaufende Trauflinie, über der mittig ein transparenter Turmaufsatz sitzt. Er gibt die Symmetrieachse der Fassade vor, deren Mitte verbaut ist; seitlich befinden sich zwei breite, gerahmte Rechtecknischen. Es ist die rechte Nische, die über eine Treppe Zugang zum höher gelegenen Kirchenschiff gewährt. Die Fenster sind hochrechteckige Eisensprossenfenster wie an einem Industriebau. Nur das Kreuz im Fenster des mittig gesetzten, schlanken und relativ hohen Fassadenturms verweist auf die sakrale Funktion des Gebäudes, alles andere suggeriert einen Profanbau, vielleicht sogar einen Industriebau; Kritiker empfanden den Bau als „schlachthausartig“.326 Inneres und Äußeres divergieren an diesem Bau zweifach, symbolisch und räumlich: Die Fassade verzichtet auf die traditionellen Attribute sakralen Bauens. Ihre Symmetrie auf die vollendete Kirche ausgerichtet, nicht auf den fassadenparallelen Saal der ersten Bauphase. Dennoch irritiert die symmetrische Gestaltung wegen der Blockierung der Mittelachse, die keinen axialen Zugang zum Schiff erlaubt; hier wurde bereits jener Richtungswechsel in der Wegführung durchgeführt, den Holzmeister auch an der Fünfhauser Kirche anwenden sollte. Im Prinzip folgt der Aufstieg zum Kirchenraum durch das Treppenhaus einer Idee, die Holzmeister als „Weg zum Licht“, als Treppenanlage mit vierzehn Stationen, für die Künstlerhaus-Ausstellung 1926 gestaltet hatte.327

Abbildung 59: Clemens Holzmeister, Pfarrkirche hl. Judas Thaddäus, erster Bauabschnitt, Blick zum Altar (Kirchenkunst 1935, 38)

Richtungsänderungen in der Erschließung oder Wegführung als Gestaltungsprinzip waren bereits zuvor im Wohnbau von Adolf Loos und Josef Frank verwendet worden; Frank publizierte 1931 seinen Aufsatz „Das Haus als Weg und Platz“. – Im Inneren der Krimkirche wurde der Chor durch versteckte Scheinwerfer hervorgehoben, um den reformerischen Beleuchtungsvorschriften zu entsprechen (Abbildung 59).328 Zwar entspricht der Verzicht auf Höherstellung der Kanzel den Reformforderungen, der Altar wurde aber als traditioneller Wandaltar gestaltet. „Ein Meisterwerk moderner Kirchenbaukunst“, schrieb die „Reichspost“ zur Kirchenweihe. Holzmeister erläuterte, dass die „scheinbare Nüchternheit […] Sinnbild vertiefter Konzentration und frommer Betrachtung“ sei; sie reagierte wohl auch auf den Standort, den damaligen Industrievorort.329 Die Nüchternheit war aber unter anderem auch durch eine mehrfache Revision der Entwürfe aus finanziellen Gründen entstanden. Die Kirche wurde von den Anrainern dennoch nicht akzeptiert, denn an einem Bretterzaun in der Nähe tauchte die Aufschrift „Sie bauen Kirchen und wir hungern“ auf.330

Die „Gottesburgen“: Kirchenbau im Austrofaschismus

Der Politische Katholizismus des austrofaschistischen Regimes manifestierte sich ab 1934 zunächst in der Errichtung einer Reihe von „Notkirchen“ und „Gottessiedlungen.“331 Vor allem in den proletarisch dominierten großen Gemeindebauten, wie in Sandleiten, im Fuchsenfeldhof und im Karl-Marx-Hof, wurden eilig Kirchenräume eingerichtet, um die Rekatholisierung der Bevölkerung zu fördern.332 Das erste große Kirchenprojekt reicht jedoch, wie viele andere Projekte des Austrofaschismus, in die Zeit davor zurück.

Pfarrkirche Christkönig, Neufünfhaus: Die „Seipel-Dollfuß-Kirche“ als „Staatsmonument von kurzer Dauer“333

Das Projekt für die Kirche mit Seelsorgezentrum in Neufünfhaus im 15. Bezirk ging auf eine bereits vor 1933/1934 begonnene Privatinitiative zurück. Seit 1932 lancierte die christlichsoziale Politikerin Hildegard Burjan die Idee einer Pfarr- und Grabeskirche für den am 2. August 1932 verstorbenen christlichsozialen Bundeskanzler Seipel, mit dem sie eng befreundet gewesen war.334 Die von Burjan 1918 gegründete karitative Vereinigung „Caritas socialis“, der Seipel als geistiger Leiter vorgestanden war – Pius Parsch hatte dieses Amt abgelehnt –,335 rief bereits am 14. August 1932 zum Bau einer Christkönigskirche in Erinnerung an Seipel auf: „In einem der notvollsten Bezirke wird die CS eine ‚Christ-Königs-Kirche‘ errichten, die mit einem umfassenden Volksfürsorgehaus verbunden ist.“ Den Ehrenvorsitz des Baukomitees bildeten Bundespräsident Miklas, die Bischöfe und Landeshauptleute sowie Kanzler Dollfuß. Die Finanzierung sollte aus Spenden, Haussammlungen und Lotterien erfolgen. Von der Einrichtung einer Gruft für Seipel in der Kirche war in diesem Aufruf nicht die Rede;336 Seipel war am Zentralfriedhof in einem Ehrengrab bestattet worden.337 Nach Diskussionen um einen anderen Standort wurde im Jänner 1933 jener Schritt vollzogen, der die Privatinitiative des Kirchenbaus zur Staatsangelegenheit machte: Das Bundeskanzleramt (Abt. Inneres) in seiner Funktion als Fondsaufsichtsbehörde veranlasste den Wiener Stadterweiterungsfonds zur Überlassung des Grundstücks auf der Schmelz an die Caritas socialis.338 Ebenfalls Ende Jänner 1933 fand eine Sitzung des Baukomitees statt, bei der Holzmeister ein Bauprogramm mit Dr.-Seipel-Gedenkturm, Kirche, Fürsorgehaus und Gruft vorsah. Der Baubeginn wurde für das Frühjahr 1933 anvisiert. Hildegard Burjan hatte eine bereits existierende Planung dem Papst vorgelegt.339 Es ist nicht klar, ob dieses Projekt von Clemens Holzmeister stammte. Holzmeisters erster, 1933 datierter Entwurf zeigt eine sehr monumentale Denkmalkirche mit dominantem Turm (Abbildung 60).

Abbildung 60: Clemens Holzmeister, erster Entwurf für die Christkönigskirche (HOLZMEISTER, Bauten, 123)

Der Turm, ein schlanker, hoher Block ohne Helm, erinnert an einen Entwurf von Dominikus Böhm für St. Joseph in Offenbach aus 1925, die zweiachsige Mitte der Fassade an Holzmeisters eigenen Entwurf für St. Martin in Nürnberg (1926). Der Entwurf soll laut Holzmeister selbst für einen anderen Bauplatz gezeichnet worden sein.340 Im Frühjahr 1933 wurde ein Wettbewerb für die Kirche ausgelobt, zu dem neben Holzmeister die Architekten Robert Kramreiter, Karl Holey, Alexander Popp, Ludwig Tremmel, Schmid/Aichinger und Stiegholzer/Kastinger Beiträge lieferten. Für diesen Wettbewerb zeichnete Holzmeister einen zweiten, ganz anderen Entwurf, dessen Ausführung ihm dann auch umgehend übertragen wurde (Abbildung 61).341

Der Bauplatz lag am Rand des Schmelzer Friedhofs unweit von Seipels Geburtshaus im proletarisch-kleinbürgerlichen Rudolfsheim-Fünfhaus342 – eine Situation, die gut zu Burjans sozialem Engagement und der vorgesehenen Einrichtung eines Fürsorgehauses bei der Kirche passte. Allerdings war die unmittelbare Umgebung, das ab 1900 planmäßig angelegte Nibelungenviertel, nicht unbedingt eine „Stätte des Elends“;343 seine secessionistischen Miethäuser waren auf eine vorstädtisch-bürgerliche Klientel zugeschnitten.

Abbildung 61: Clemens Holzmeister, Christkönigskirche, Skizze zum Ausführungsentwurf, 1933 (Albertina Wien, CLHA 13/22/1)

Die Entscheidung für Holzmeisters zweiten, ausgeführten Entwurf, der ein wesentlich größeres Fürsorgehaus vorsah, erfolgte über die Empfehlung von Egon Ewald Seefehlner, einem Mitglied des Baukomitees; alle anwesenden Mitglieder stimmten auf dem kurzen Wege zu.344 Der Entwurf sah einen Bau von „franziskanischer Einfachheit“ vor, mit einem Denkmalplatz für Veranstaltungen vor der Krypta und mit einer Kirche von „heiterer Frömmigkeit, wie sie für Wiener Kirchen charakteristisch ist“.345 Hildegard Burjan hatte die finanziellen Grundlagen für den Kirchenbau gesichert,346 verstarb aber im Juni 1933. Ihre Stelle als Leiterin des Baukomitees nahm auf Burjans Wunsch Alwine Dollfuß zusammen mit dem Bundeskanzler ein – eine weitere Junktimierung des ursprünglich privaten Projekts mit der Staatsmacht, ohne dass dieser Kosten entstanden.347 Der Grundstein wurde Ende Juli 1933 durch Dollfuß gelegt, der Schlussstein im September 1934,348 1935 folgte die Pfarrgründung.349 Nach der Ermordung Dollfuß’ im Juli 1934 wurde der Kanzler zunächst – bis zur Fertigstellung der Gruft in Fünfhaus – auf dem Hietzinger Friedhof begraben.350 Die Bestattung in der Kirche soll auf einen schon damals geäußerten persönlichen Wunsch von Alwine Dollfuß zurückgegangen sein.351

Holzmeister hatte mit dem Projekt die gegensätzlichen Typologien einer Denkmalkirche und eines vorstädtischen Seelsorgezentrums zu bewältigen. Für die Kirche, die dem Christkönig, der sakralen Leitfigur des Ständestaats, aber auch der katholischen Reformbewegung, geweiht werden sollte, entwarf „eine Gottessiedlung, in sich gekehrt, durch einen Grüngürtel von den unschönen Häuserfronten getrennt“352 – ihre spätere Funktion als Grablege nicht nur für Seipel, sondern auch für den im Sommer 1934 ermordeten Kanzler Dollfuß war zum Planungszeitpunkt noch nicht absehbar gewesen. Holzmeister positionierte seine kompakte, rechteckige Anlage (Abbildung 62) freistehend in eine Grünanlage im Zentrum eines kurz nach 1900 verbauten Rasterviertels, dessen Mittelachse der lang gestreckte Kriemhildplatz bildet. In dessen Verlängerung liegt der Kirchenvorplatz mit einem zentralen Brunnen. Hier öffnet sich die Anlage über eine dreiachsige, flach gedeckte Loggia mit rahmenartig profilierten Ständern und Gesimsen. Diese werden von den zweigeschoßigen Fronten von Fürsorgehaus und Kirche flankiert. Alle Fassaden haben einfach eingeschnittene Fenster und nur minimal vorstehende Traufen. Die Kirche ist durch sparsame, stark stilisierte sakrale Versatzstücke, wie versprosste Buntglasfenster und Giebelrosetten, als Sakralbau ausgewiesen. Die weiteren Trakte, als deutlich umrissene, klare Baukuben ausgebildet, werden nur durch den Rhythmus der Wand und Monumentalisierung durch die Freistellung des Gebäudekomplexes, der von einem Grüngürtel umgeben wird. Dort hatte Holzmeister, um die Sakralität der Anlage zu unterstreichen, einige Grabsteine vom Schmelzer Friedhof aufgestellt.

 

Abbildung 62: Clemens Holzmeister, Christkönigskirche, ausgeführtes Projekt und Grundriss (HOLZMEISTER, 1937, 85)

Die gesamte Anlage ist eine Variante eines Franziskanerklosters, das Holzmeister 1930/1931 für Hermeskeil am Hunsrück entworfen hatte (Abbildung 63). Dessen Bauherr war der Franziskaner P. Gregor Hexges, der 1934 einen Text zur modernen Kirchenausstattung veröffentlichte.353 Die Ansprüche der aus Hildegard Burjans Initiative hervorgegangenen Vorstadtkirche für die „brave Wiener Arbeiterbevölkerung“354 korrelierten wohl mit dem in Hermeskeil verwirklichten franziskanischen Bescheidenheitsideal. Die Unterschiede sind gering: Der Grundriss von Hermeskeil, für eine quadratische Fläche von 30 mal 30 Metern entworfen, wurde für Wien gespiegelt und auf ein gedrungenes Rechteck übertragen. Die geschlossene Stirnwand der Klosteranlage, die den Hof abschließt, wurde in Wien durch die Loggia geöffnet. Die fensterlose Giebelwand der Klosterkirche wird in der Choransicht der Wiener Kirche mit einem traufständigen, sehr flachen Satteldach variiert, und auch der Giebelreiter war bereits vorgebildet. Die klar konturierten Baukörper mit einfach eingeschnittenen Fenstern haben beide Anlagen gemeinsam. Unterschiedlich sind die Chorgestaltungen der Kirchen: Statt dem eingezogenen Chor der Klosterkirche, der in Firstrichtung des Schiffs eingedeckt ist, hat die Wiener Kirche wegen der Krypta eine höher gelegene und stärker betonte Chorpartie, die außen als hoher Zwerchbau mit fast völlig geschlossener Fassade in Erscheinung tritt (Abbildung 64). Das Innere der Kirche in Hermeskeil, ein Saal mit offenem Dachstuhl, inspirierte sich laut Holzmeister an den franziskanischen Saalkirchen des 13. und 14. Jahrhunderts. Das Motiv des offenen Dachstuhls hatte Dominikus Böhm bereits seit den frühen 1920er Jahren verwendet, zum Beispiel 1922 in Dettingen.

Abbildung 63: Clemens Holzmeister, Franziskanerkloster Hermeskeil (HOLZMEISTER, Bauten, 63)

Abbildung 64: Clemens Holzmeister, Christkönigskirche, Seiten- und Choransicht

Der Zugang zur Wiener Kirche erfolgt über die Loggia, von deren rechtem Ende man eine Vorhalle betritt, die nach einer Wende um 90 Grad das Schiff erreicht. Diese Wegführung ist Teil einer Lenkung des Besuchers, die im betonten Altarbereich ihr Ziel erreichen sollte.355 Das Innere präsentiert sich als klar überschaubarer Saal mit gleich breitem Chor und mit einem hofseitigen eingeschoßigen Seitenschiff, das nur durch einen einzigen Pfeiler vom Hauptraum getrennt wird und daher mit diesem ein räumliches Kontinuum bildet. Der Chorraum wurde wegen der Krypta gegenüber dem Schiff um einige Stufen erhöht und als querschiffartiger Baukörper höher dimensioniert (Abbildung 64). Die Betonung des Altarraums durch Raumhöhe und Lichtführung entsprechen den Forderungen des christozentrischen Kirchenbaus: Johannes van Acken hatte die bauliche Betonung des Altarraums innen und außen gefordert.356 Nicht reformgemäß gestaltet wurde der Altarraum, denn die Mensa wurde zwar frei, aber wegen der Krypta stark erhöht und sehr knapp vor der Chorwand aufgestellt. Diese wird von Karl Sterrers großflächigem Christkönigsmosaik eingenommen, das mit seiner hieratischen, byzantinisch-neoromanischen Gestaltung, mit seinem Format und auch mit seiner Buntheit einen exzentrischen Kontrast zur Ruhe der Wandflächen schafft. Einrichtung und Ausstattung des Kirchenraums gehen vorwiegend auf Holzmeisters Entwürfe zurück. Der Stuckdekor der Decke stammt von Gudrun Baudisch, die mehrfach mit Holzmeister zusammenarbeitete.

Die Krypta (Abbildung 65) hat auch direkte Zugänge von außen an der Chorseite der Kirche. Die dortige Fassade, eine „fensterlose, ernste Rückwand“(Holzmeister),357 erzielt durch ihre Geschlossenheit monumentale Wirkung und eine denkmalhafte Konnotation, die als Hintergrund für einen Festplatz dienen sollte (das geplante große Dollfußforum wurde nicht ausgeführt, siehe Seite 70).358 Die Krypta, ein unter dem Chor gelegener, querrechteckiger Raum, ist relativ klein und einfach gehalten. Die immer wieder gestellte Frage, warum angeblich bereits von Anfang an zwei Grabnischen vorgesehen gewesen wären, was rückblickend als böses Omen gedeutet wurde, lässt sich einfach klären: Ursprünglich befand sich Seipels Grabnische im Zentrum der Westwand und war von zwei Altarnischen flankiert. Nach der Ermordung des Kanzlers war es ein Leichtes, die Grabnischen beidseitig eines zentralen Altars anzuordnen.359 An den Seitenwänden wurden großformatige Reliefs (Trauernde) von Hans Andre angebracht. Eine gewisse Monumentalisierung erfährt der Raum durch sein düsteres Pathos, das durch die rauen Oberflächen, das gedrungene Tonnengewölbe und den spärlichen Lichteinfall erzielt wird. Heute ist der Raum nicht mehr als Gruftraum kenntlich, die Grabnischen sind verschlossen.

Abbildung 65: Clemens Holzmeister, Christkönigskirche, Krypta (HOLZMEISTER, Bauten, 1937, 93))

Nach seiner Ermordung im Juli 1934 wurde der Kanzler vorläufig in der Familiengruft am Hietzinger Friedhof bestattet. Am 30. September 1934 fand ein zweites, prunkvolles Begräbnis statt, bei dem Dollfuß zusammen mit dem fast drei Jahre zuvor verstorbenen Seipel in der Krypta der Christkönigskirche bestattet wurde. Nach Aufbahrung im Stephansdom und einem langen Leichenzug durch die Stadt unter Teilnahme des offiziellen Österreich wurde das Doppelbegräbnis als abendliches Staatsspektakel inszeniert.360 Ab 1935 bestand im Volksfürsorgehaus neben der Kirche ein Gedenkraum, in dem das blutige Sofa, der Teppich und Kleidungstücke des Kanzlers als makabre Reliquien eines Märtyrerkults gezeigt wurden,361 ganz im Sinn des „Liedes der Jugend“ mit den Worten „Ihr Jungen, schließt die Reihen gut / Ein Toter führt uns an“. Die quasisakrale Musealisierung der blutbefleckten Textilien hatte eine Parallele in der kultisch verehrten „Blutfahne“ seiner nationalsozialistischen Mörder, die das Blut der getöteten Teilnehmer am gescheiterten Münchner NS-Putschversuch von 1923 aufgenommen hatte.362

Die Kirche wurde, wie von der Stifterin intendiert, bald zur Pfarrkirche erhoben.363 Obwohl die Krypta baulich zurückhaltend gestaltet war und den Bau keineswegs dominierte, war die Kirche längst als Grablege des zum Märtyrer stilisierten Kanzlers neu kodiert: Das erste „gewollte Denkmal“ des Austrofaschismus war ein Grabdenkmal. Um den Dollfußkult als Relikt des besiegten Systems zu verhindern, ließen die Nationalsozialisten die Gruft im März 1938 schließen; die Kanzler wurden heimlich in der Nacht vom 23. auf den 24. Jänner 1939 auf den Zentralfriedhof beziehungsweise Hietzinger Friedhof überführt.364

Der Kirchenbau wurde unterschiedlich rezipiert. Während die „Wiener Zeitung“ den Bau als Produkt „franziskanischer Einfachheit […] ohne jeden Luxus“ lobte und das „Wiener Journal“ die „schlichte Halle mit glatten Mauern nach außen, aber innen von anheimelndem Charakter“ beschrieb,365 gab es auch Kritiker, die sich an ein „Lagerhaus“ oder einen „Aufenthaltsraum für Kirchenbesucher“ erinnert fühlten. Scherzhaft war auch von einer „Paternoster-Garage“ die Rede;366 die Glätte der Wände und die Reduktion des Dekors galten als Kennzeichen profaner Zweckbauten. Im Jahr 1935 hat Holzmeister tatsächlich Pläne für den Umbau einer Fabrikshalle in eine Kirche gezeichnet (Erlöserkirche Am Tabor, Weihe im März 1935).367

Später wurde vor der Kirche, am Ort der heutigen Stadthalle, ein „großes Dollfuß-Monumentalgebäude“ projektiert (siehe Seite 70 ff.), das schließlich als „Dollfuß-Führerschule“ in Schönbrunn errichtet wurde. Für den Abschluss des Vogelweidplatzes wurde nun eine Sportanlage mit Bad und Eislaufplatz für die nahegelegene gewerbliche Fortbildungsschule in Aussicht genommen; der Mittelteil gegenüber der Kirche sollte „einen besonders würdigen Charakter haben“ und als Verwaltungsgebäude genutzt werden.368 Das Projekt gelangte nicht zur Ausführung.

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