Saskia

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

2. Kapitel

Der Wecker klingelt. Uli schreckt hoch. Nein, du hast nicht verschlafen, beruhigt ihn Merle, es ist erst 5.00 Uhr. Ich geh Kaffee kochen. Sie erhebt sich aus dem Bett. Kein Auge hat sie zugemacht, die Nacht war schrecklich.

Uli schlürft seinen Kaffee. Normalerweise ärgert sich Merle über ihren Morgenmuffel. Heute ist sie froh, dass er nichts sagt. Er scheint von dem Anruf nichts mitbekommen zu haben. Sie schmiert seine Frühstücksbrote und brüht den Tee auf. Die Thermoskanne gleitet ihr aus der Hand. Sie schlittert über den Fußboden und landet vor Ulis Füßen.

Was ist denn los mit dir? Er hebt die Kanne auf. Glück gehabt, nichts kaputt.

Merle versucht, seinem Blick auszuweichen.

Ist nicht meine Zeit. Es ist Samstagmorgen. Ich werde mich gleich wieder ins Bett legen.

Sie holt für Uli warme Arbeitssachen aus dem Schrank, so kann sie ihm aus dem Weg gehen. Er scheint ihre Unruhe nicht zu bemerken. Nur jetzt keine Diskussionen, denkt Merle. Uli verabschiedet sich.

Keine Bundesliga heute, das ärgert mich am meisten. Du wirst es überstehen, es gibt Schlimmeres.

Er drückt ihr einen Kuss auf die Wange, bis heute Abend.

Zurück ins Bett kann Merle nicht. Sie sitzt am Küchentisch und überlegt. Was soll ich Oma sagen? Oma wird mich suchen, wenn ich nicht zu Hause bin.

Guten Morgen Oma, musste dringend eine Besorgung machen. Bin nach dem Mittag wieder zurück, schreibt Merle auf einen Zettel. Sie sieht auf die Uhr. Eine halbe Stunde braucht sie mit dem Auto bis in die Stadt. Es ist noch zu früh, um ins Krankenhaus zu fahren. Auf dem Weg ins Bad stolpert sie im Flur über Tobis Fußballsachen. Der Schulrucksack liegt achtlos daneben. Das Durcheinander ihres Sohnes ist ihr gestern gar nicht aufgefallen. Ordnung ist das halbe Leben, würde Oma jetzt sagen. Merle sammelt die Sachen zusammen und bringt sie in Tobis Zimmer. Die Dielen der alten Holztreppe knarren. Das hat Matti immer verraten, wenn er spät in der Nacht nach Hause kam. Nachdem Matti eingezogen war, haben sie den Dachboden ausgebaut. Jetzt hat Tobi sich hier einquartiert. Ich geh in mein Himmelreich, scherzt er mit der Mutter, wenn sie ihm mit Arbeit droht. Sein Zimmer ist aufgeräumt, wenigstens das hat er gemacht. Merle verwöhnt ihre Männer, trägt ihnen alles hinterher. Ein Fehler, das weiß sie, aber sie macht es gern. Matti hat sie auch verwöhnt. Der Junge hatte es schwer. Merle sitzt auf Tobis Bett. Vom Poster an der Wand sehen sie Fratzen an. Was der Junge nur an dieser Musik findet, Ärzte nennen sie sich. Zum Geburtstag wünschte er sich von Oma Geld, wollte sich davon ein Buch über die Ärzte kaufen. Oma freute sich, sie glaubte, der Junge will Medizin studieren. Die Familie lachte, eine Band, davon hat sie noch nie gehört. Einem Herzanfall ist sie nahe, wenn die dumpfen Bässe aus Tobis Musikanlage bis in ihre Wohnung herunterdringen. Rap, Techno und Hip-Hop. Der Fußboden bebt noch schlimmer, wenn Matti da ist. Omas Schwerhörigkeit ist auf der Stelle vergessen. Ruhe, schreit sie nach oben.

Seit drei Monaten hat Matti nun seine eigene Wohnung. Es schmerzte, den Jungen ziehen zu lassen, aber er muss selbständig werden, ist alt genug. Merle erinnert sich. Tobi hatte ihn damals mitgebracht. Vor seiner Schule hatte ihm Matti aufgelauert und um Hilfe gebeten. Tobi verlangte die doppelte Menge an Schulbroten und sein Taschengeld war ständig alle.

Lass ihn, sagte Uli, der Junge wächst. In seinem Alter hätte ich ein halbes Schwein verdrücken können. Merle kam es trotzdem spanisch vor. T-Shirts und Pullover waren plötzlich verschwunden. In der Wäsche waren sie nicht, das wusste sie. In Tobis Schrank fand sie die Sachen auch nicht, sogar die neue Jeans fehlte. Merle stellte ihren Sohn zur Rede.

Ich habe es Matti gegeben, Tante Saskia hat ihn rausgeschmissen. Er lebt auf der Straße.

Merle war entsetzt. Warum erzählte Tobi ihr erst jetzt davon. Musste es so weit kommen? Gegenseitiges Vertrauen, über Probleme offen und ehrlich reden, das hatten sie ihm von kleinauf eingetrichtert. Mit Uli war es mitunter schwierig. Mit größeren Problemen kam Tobi meistens zu ihr. War ihr Verhältnis etwa gestört? Würde es ihr wie Saskia mit Matti gehen? Tobi und Matti, Kinder sind unschuldig. Erwachsene leben vor, Kinder reflektieren. Unsere Probleme in der Familie, über die keiner spricht, dachte Merle. Omas Missachten, Ulis Ablehnen und Merles Stillhalten gegenüber Saskia.

Am nächsten Tag sagte sie zu Tobi, bring Matti mit, ich regele das mit Vati und Oma.

Zitternd stand Matti vor ihrer Tür. Seine Sachen waren zerschlissen und viel zu dünn für die Jahreszeit. Merle steckte ihn in die Badewanne. Acht Buletten schob Matti zum Abendbrot in sich hinein. Keiner stellte ihm an diesem Abend Fragen. Merle spürte, wie froh er darüber war.

Am nächsten Tag erzählte Matti von allein. Er verschönte nichts, er gab zu, dass er Mist gebaut hatte. Eingebrochen in einem Kiosk im Schwimmbad. Betrunken mit dem Auto seiner Mutter durch die Stadt gefahren und mit dem Brotmesser auf ihren Lebensgefährten Jan losgegangen.

Mutter hält alle Zimmer verschlossen. Ja, ich habe geklaut, das gebe ich zu. Ich dachte, wenn ich von Mutter nichts bekomme, nehme ich mir einfach, was mir zusteht. Taschengeld bekam ich nur, wenn ich nach Mutters Meinung in der Spur lief. In den Ferien arbeitete ich, das verdiente Geld musste ich abliefern. Mutters Auto zu nehmen, war blöd, das mit Jan bereue ich nicht. Ich wollte mir in der Küche etwas zu essen machen. Er hatte gekocht und mir gedroht, wehe du vergreifst dich daran. Den Hund behandeln sie besser als mich. Der darf sogar im Wohnzimmer auf die Couch. Ich hasse diesen Köter. Jan stieß mich aus der Küche. Ich hielt das Brotmesser in der Hand, und er dachte, ich will ihn abstechen. Ich hätte nie zugestochen. Sie hätten mich nicht rauszuschmeißen brauchen, ich wäre sowieso abgehauen. Und den Kiosk habe ich geknackt, weil ich ein Dach überm Kopf suchte.

Du bleibst erst mal bei uns, ich rede mit deiner Mutter.

Dann haue ich wieder ab.

Merle spürte seine Abwehr, sie dachte, so schlimm kann es nicht sein.

Merle kam an Saskia nicht heran, sie blockte ab.

Dann hatten sie den Termin auf dem Jugendamt. Saskia versuchte, den Eindruck einer guten Mutter zu vermitteln, sie hat doch alles für ihren Sohn getan.

Ein neu eingerichtetes Zimmer mit eigenem Fernseher und Computer. Urlaub in Mexiko. Mein Lebensgefährte kümmert sich um Matti, wenn ich beruflich unterwegs bin, sagte Saskia. Als Matti erzählen sollte, unterbrach sie ihn, drehte seine Worte geschickt herum, gab ihm die Schuld. Matti hatte gegen seine Mutter keine Chance. Merle sah, wie er sich verkrampfte, wie er innerlich rebellierte. Sie hätte dem Jungen schon viel eher helfen müssen, doch sie wollte Saskia nicht hineinreden. Saskia stritt in letzter Zeit sowieso nur noch mit ihr. Das Jugendamt bot als Überbrückung einen Heimplatz an, besser wäre es allerdings, der Junge könnte in der Familie bleiben. Nicht bei der Mutter, in der Familie. Merle spürte, dass sie gemeint war. Saskias Show war aufgeflogen, ihr Auftreten durchschaut. Merkte Saskia nicht, wie sie sich um Kopf und Kragen redete und mit ihrem gekränkten Stolz und Starrsinn den letzten Faden zeriss, der sich noch zwischen Mutter und Sohn spannte und auf Hoffnung wartete. Die Vorstellungen von einer gemeinsamen Lösung waren geplatzt. Saskia wich aus, ließ nicht mit sich reden. Es tat Merle weh, sie spürte, dass sich Saskia auch immer mehr von ihr entfernte. Der Faden, der sie verband, wurde dünner. Ein dünner Faden kann auch stark sein. Spinnen nutzen dieses Prinzip für ihre Netze. Und Oma nutzte es für ihren gleichmäßig dünnen Faden, den sie spann. Als Kind sah Merle ihr oft zu. In der linken Hand hielt Oma den Wollebausch, mit den Fingern der rechten Hand zupfte sie daran. Durch das Drehen der Spindel entstand der Faden. Er wurde länger und länger und drohte zu zerreißen. Doch Oma führte ihn geschickt. Sie verstand ihr Handwerk. Durch das Treten des Pedals regelte sie die Geschwindigkeit. Sie bestimmte, wann der Faden riss.

Das Leben ist kein Spinnrad. Merle konnte nichts regeln. Das Leben nahm seinen Lauf. Der Faden wird reißen, es geht jetzt nicht um Saskia.

Matti kann bei uns wohnen, sagte Merle entschlossen.

Saskias Augen funkelten sie wütend an. Ohne sich zu verabschieden, verließ Saskia das Jugendamt. Am Nachmittag brachte sie Mattis Sachen. Schroffe Bemerkungen lud sie ab. Seitdem hatte Merle die Schwester nicht mehr gesehen.

Die Ärzte starren unverändert grässlich vom Poster an der Wand herab, von Merles Sorgen und Ängsten unberührt. Merle streicht Tobis Bettdecke glatt und verlässt sein Zimmer. Warum hatte Saskia ihnen keine Chance gegeben? Fehler zugeben, das konnte sie noch nie. Wenn sie es mit Matti nicht schaffte, dürfen es andere dann auch nicht? Hatte sie wirklich so gedacht?

Saskia ist längst kein Mädchen mehr

Merle sitzt im Bus und sieht aus dem Fenster. Mit jedem Dorf, das hinter ihr liegt, werden die Bilder vertrauter. Als Kind zählte sie Mutter die Namen der Dörfer mit den dazugehörigen Haltestellen auf. Unser Dorf ist das schönste, endete sie jedes Mal. Mutter lachte. Merle ist auf der Heimfahrt, sie studiert und kommt nur an den Wochenenden nach Hause. Zwei Stunden Zugfahrt und dann noch die Fahrt mit dem Bus, jede Woche hin und zurück. Zugverspätungen wie heute, nur weil ein paar Schneeflocken fallen, machen Merle rasend. Zeit, die ihr genommen wird. Zeit mit der Familie und mit Uli natürlich. Seit einem Jahr sind sie verlobt.

Mal sehen, was am Wochenende los ist. Vielleicht fahren wir ins Nachbardorf, dort ist Disko im Kulturhaus. Wir könnten Sassi mitnehmen, überlegt Merle, das wünscht sich die kleine Schwester schon lange. Uli hat den Trabi, sie sind nicht auf den Bus angewiesen, der um zehn seine letzte Runde dreht. Saskia ist im ersten Lehrjahr. Sie möchte Verkäuferin werden.

 

Den kleinen Kaufmannsladen, mit dem Mutter schon spielte, liebte Saskia über alles. Stundenlang beschäftigte sie sich mit dem Laden. Alle mussten bei ihr einkaufen. Mutter bekam die besten Sachen, Geld verlangte Saskia von ihr nicht. Habe ich heute nicht, bekam Oma zur Antwort, wenn sie nach Waren fragte. Oma sagte beleidigt, dann gehe ich woanders einkaufen, dorthin, wo es nette Verkäuferinnen gibt. Mutter gab Oma von ihren reichlichen Waren ab, damit der Haussegen wieder hergestellt war. Das gefiel Saskia nicht, sie schloss den Laden.

Nun wird die kleine Schwester langsam erwachsen, versteht Dinge, über die man früher nicht mit ihr reden konnte.

Merle steigt aus dem Bus. Endlich angekommen. Sie läuft am Bach entlang. Auf der Brücke spielen Kinder. Sie kratzen den spärlich gefallenen Schnee zusammen, formen daraus Kugeln und lassen diese in den Bach plumpsen. Wie oft hat Merle dort mit Saskia gespielt. Merle war die Entenmutter und Saskia ihr kleines Entenkind. Sie watschelten den Abhang hinunter. Merle passte nicht auf und Saskia fiel in den Bach. Sie wollte die kleine Schwester aus dem Wasser ziehen und fiel selbst hinein. Pitschenass klebten die Sachen an ihren Körpern und der Schlamm quoll aus den Schuhen, sie fanden das toll. Zum Glück war es nicht so kalt wie heute. Merle sieht Mutter vor sich, als wäre es erst gestern passiert. Ihr war das Lachen vergangen, wie sollte sie die Schuhe bis zum nächsten Tag trocken bekommen. Wechselschuhe besaßen sie nicht.

Mit ernster Mine verkündete Mutter, Strafe muss sein, ihr geht heute barfuss ins Bett.

Saskia sah Mutter ängstlich an.

Wir gehen doch immer barfuss ins Bett, stupste Merle die Schwester an.

Mutter hat nie geschimpft. Mit Oma war es da anders. Merle erinnert sich. Saskia sollte Kartoffeln schälen. Das war neu für sie. Als jüngste Frau im Haushalt, blieb für sie wenig zu tun. Sie quälte sich mit den Kartoffeln.

Da kann man ja gleich das Beil zum Schälen nehmen, schimpfte Oma, als sie dazukam. Die Kleinen wollen auch in den Topf, wie kann man nur so ungeschickt sein.

Saskia weinte. Oma hatte gerade die Küche verlassen und die Tür hinter sich geschlossen, da warf Saskia ihr eine Kartoffel nach.

Beruhige dich, Sassi, Oma meint das nicht so. Du musst es lernen, tröstete Merle die Schwester.

Merle biegt in die Mühlgasse ein. Sie sieht Oma im Vorgarten hantieren. Seit ein paar Jahren ist Oma Rentnerin, das schmeckt ihr gar nicht. Mit grimmig aufgesetzter Miene erklärt sie: Ich gehöre nicht zum alten Eisen. Ich bin fit. Das, was die heute zu zweit in der Poststelle schaffen, könnte ich immer noch allein. Doppelter Einsatz bei der Haus- und Gartenarbeit, Oma muss beweisen, was sie noch kann.

Du bist fit wie mein Turnschuh, scherzt Merle oft mit ihr.

Im Vorgarten befreit Oma den neuen Plattenweg vom Schnee. Der Besen pendelt wie ein Uhrwerk gleichmäßig hin und her. Die Platten hatte Uli besorgt und auch verlegt, im Spätherbst, bevor der erste Frost kam. Merle war erst kurze Zeit mit ihm zusammen. Er war anders als die Jungen, mit denen sie vorher zusammen war. Groß, breite Schultern, kräftige Arme, treue blaue Augen, das imponierte Merle. Zielstrebig und verlässlich, das imponierte Oma. Sie sah es nie gern, wenn Merle Schulfreunde mit auf ihr Zimmer nahm. Und übernachten, das kam gleich gar nicht infrage. Ein Wachhund war harmlos gegen sie. Uli hatte Oma verzaubert. Er war der Erste, den sie ins Haus ließ, sogar, wenn Merle nicht da war.

Hör auf mich, mein Kind, halt dir den Jungen warm. So einen findest du so schnell nicht wieder.

Ich lass mich nicht verkuppeln, antwortete Merle damals ablehnend. Dabei wünschte sie sich nichts sehnlicher.

Oma fegt und fegt. Ihr Blick ist nach unten gerichtet. Merle steht am Gartenzaun und sieht zu. Erst jetzt erkennt Oma ihre Enkelin.

Du kommst aber spät!

Hallo Oma, mal wieder Zugverspätung.

Ich habe dir deinen Lieblingskuchen gebacken, Pflaumenkuchen aus Hefeteig. Karla und Saskia sind beim Arzt, sie müssen auch gleich kommen.

Ist jemand krank?

Heute früh waren sie noch mopsfidel.

Merle geht mit Oma ins Haus. Sie erzählt vom Studium. Oma ist stolz. Soweit hat es keiner aus der Familie gebracht.

Merle sitzt wartend am Küchentisch. Oma holt aus der Speisekammer das Blech mit dem Pflaumenkuchen. Sie schneidet den Kuchen auf und verteilt die Stücke auf einem Teller. Merle kann nicht länger warten und greift zu.

Lecker Oma, Merle wischt sich den Saft vom Kinn und verlangt ein zweites Stück. Nur du kannst ihn so backen. Du bist der beste Pflaumenkuchenbäcker auf der Welt.

Verrat das keinem, sonst stehen demnächst fremde Leute in Schlangen vor unserem Haus. Ich backe nur für die Familie. Oma und Merle lachen.

Mutter steht in der Küche. Ihr Gesichtsausdruck ist versteinert. Kein Willkommensgruß für Merle. Saskia hat sich gleich in ihr Zimmer verzogen. Mutter lässt sich kraftlos auf einen Küchenstuhl fallen.

Was ist los? fragt Oma.

Unsere Sassi ist schwanger, antwortet Mutter abwesend. Schweigen.

Das darf doch nicht wahr sein, Oma schüttelt ungläubig den Kopf. Mutter weint.

Ich habe mit dem Frauenarzt gesprochen, für einen Schwangerschaftsabbruch ist es zu spät.

Ich habe schon immer gesagt, das Mädchen kommt nach diesem Arno.

Oma, überleg dir, was du sagst!

Merle ist über sich selbst erschrocken, so ist sie Oma noch nie über den Mund gefahren.

Komm Mutter, wir gehen nach oben, sie nimmt die Mutter in den Arm und führt sie aus Omas Küche heraus.

Was habe ich nur falsch gemacht? Unaufhörlich stellt sich Mutter diese Frage.

Nichts, versucht Merle sie zu beruhigen. Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen, du hast alles für uns getan.

Damals, als dein Vater verunglückte, beginnt Mutter zu erzählen, ich glaubte, nie wieder lieben zu können. Oma dachte, ich bin wie sie. Enthaltsam bis zum Lebensende. Du hast das Kind, was brauchst du mehr, redete sie auf mich ein. Ich war noch so jung. Ich wollte allem entfliehen. Als ich Arno kennenlernte, schöpfte ich wieder Hoffnung. Ich wollte mit ihm ein neues Leben beginnen. Dass er verheiratet war und seine Frau auch ein Kind erwartete, erfuhr ich erst, als ich mit Sassi schwanger war.

Bis in die Nacht hinein reden Mutter und Tochter. Die anstrengende Woche mit den Klausuren hat Merle vergessen. Sie weiß, wie wichtig das Gespräch für die Mutter ist. Ihre Große, ihre Vertraute, das war sie immer. Mit ihr beredete Mutter all das, was sie mit Oma nicht konnte.

Merle macht der Mutter Mut.

Wir werden es schaffen, es gibt immer einen Ausweg. Wir haben schon so viel geschafft.

Merle gähnt, sie ist todmüde.

Mutter, wir müssen schlafen. Wir brauchen morgen einen klaren Kopf.

Trotz ihrer Müdigkeit kann Merle nicht einschlafen. Ein entspannendes Wochenende wollte sie zu Hause verbringen. Und nun das! Was mag Mutter durch den Kopf gehen? Sie wird auch nicht schlafen können. Das grelle Licht des Vollmondes scheint in Merles Zimmer. Gebrochen durch die Äste der Kastanie wirft es Schatten an die Wand. Der Wind spielt mit den Ästen und verändert dadurch unentwegt das Muster. Wie gefesselt starrt Merle auf die Wand. Als Kind fürchtete sie sich, wenn die Umrisse Gestalt annahmen. Sie verwandelten sich in gruslige Ungeheuer. Vor dem Holländer-Michel aus dem Schwarzwald, der den Menschen kalte Herzen einpflanzte, fürchtete sie sich am meisten. Merle kommt nicht zur Ruhe. Der Traum fällt ihr ein. Vater sitzt auf einem Ast in der Kastanie. Kindliche Vorstellungen. Wie sollte er sie beschützen, wenn er im Himmel ist?

Merle erinnert sich. Vier Jahre war ich alt. Es klingelte. Vor der Haustür standen ein Polizist und Vaters Chef vom Baubetrieb. Oma begleitete die Männer in ihre Wohnstube und rief nach Mutter. Ein Polizist in ihrem Haus, Merle fand es aufregend. Bei Oma und Mutter schien die Anwesenheit der Männer das Gegenteil zu bewirken, blass waren ihre Gesichter. Dies bedeutete nichts Gutes, soviel verstand Merle schon. Oma schickte sie aus dem Zimmer, sie sollte Spielen gehen. Merle war beleidigt und stand bockig vor der geschlossenen Tür. Sie konnte hören, was die Männer sagten.

Es tut uns leid, Ihnen diese schlimme Nachricht überbringen zu müssen. Ihr Mann hatte heute einen Arbeitsunfall. Beim Ausschachten ist er auf eine Starkstromleitung gestoßen. Sie war in unseren Bauplänen nicht eingezeichnet. Jede Hilfe kam zu spät, er war sofort tot. Wir werden Sie in allem unterstützen.

Mutter schrie, das ist nicht wahr, nicht mein Mann. Dann weinte sie nur noch.

Ein paar Tage später nahm Mutter Merle in den Arm und sagte, du hast auf der Erde keinen Vati mehr. Ab jetzt werde ich dein Beschützer sein. Vati wacht im Himmel über uns.

Mutter war stark. Sie war es auch bei Arno. Saskias Schwangerschaft wird sie verkraften, da ist sich Merle sicher. Die Familie wird wachsen. Drei Frauen im Haus, Oma, Mutter, Saskia, wäre ja gelacht, wenn sie das Kind nicht groß bekämen. Und ich bin auch noch da, denkt Merle, zumindest an den Wochenenden bis ich mein Studium abgeschlossen habe.

Am nächsten Tag sitzen sie zusammen am Mittagstisch. Oma hat Rouladen, Rotkraut und Thüringer Klöße gekocht. Gewöhnlich ein Festtagsessen der Familie. Festtagsstimmung will nicht aufkommen, nur das Nötigste wird gesprochen. Saskias Blick ist stur auf den Teller gerichtet, mit der Gabel stochert sie in der Roulade.

Uli kommt, sagt Mutter.

Sie sieht als Erste den Trabi vor dem Haus halten.

Uli, den habe ich ganz vergessen, ist mir noch nie passiert. Merle trägt ihren halb leeren Teller in die Küche. Oma beschwert sich: Keiner isst, morgen könnt ihr selber kochen.

Merle fängt Uli im Hausflur ab und führt ihn gleich in ihr Zimmer. Er ist sauer.

Ich habe dich gesucht gestern Abend. Auf mein Klingeln bei euch hat keiner gehört. Von einer Disco in die andere bin ich gefahren bei dem Sauwetter. Wir waren doch verabredet.

Beruhige dich, wir haben andere Sorgen.

Saskia ist schwanger, bringt sie nach einer Pause heraus.

Uli sieht sie ungläubig an.

So haben wir gestern auch geguckt. Ich konnte Mutter in dieser Situation nicht alleinlassen, ich habe die Nacht mit ihr verbracht.

Manuel, der Sohn vom Bürgermeister, war mit Saskia zusammen, erzählt Uli. Das war bei uns in der Freiwilligen Feuerwehr Gesprächsstoff. Vor einigen Wochen haben wir Manuel als neues Mitglied aufgenommen. Die Kameraden ziehen ihn auf, Muskeln wie Tarzan, aber hohl in der Birne, für nichts zu gebrauchen. Sein Alter regelt alles. Gestern, als ich dich suchte, sah ich ihn in der Disco. In einer dunklen Ecke knutschte er mit einem Mädchen aus dem Nachbardorf, das ist alles, was er kann. Nur gut, dass ich nichts wusste, ich hätte ihm eine in die Fresse gehauen.

Wir wissen doch gar nicht, ob Manuel der Vater ist, regt Merle sich auf. Sassi hat uns nichts erzählt. Und wenn, wird sie es nur Mutter anvertrauen. Auf deine brutale Art löst du auch keine Probleme, es ist passiert. Und außerdem geht es jetzt nicht um den Vater des Kindes, der ist egal, es geht um unsere Familie. Vielleicht wäre es besser, ich würde das Kind bekommen. Spinnst du? Mit dir kann man ja nicht vernünftig reden. Und deine Schwester hat es schon lange faustdick hinter den Ohren. Ich habe noch zu tun.

Uli knallt die Tür hinter sich zu und lässt Merle mit ihren Gedanken allein.

Nicht ich spinne, du spinnst, schreit Merle ihm nach. Am Sonntagabend steht er wieder vor ihrer Tür, als wäre nichts gewesen.

Ich fahr dich, dann musst du nicht den Bus nehmen. Ich habe das gestern nicht so gemeint. Ich war sauer, weil unser Wochenende futsch war.

Uli sucht vor dem Bahnhof einen Parkplatz, die ganze Fahrt über hat Merle kein Wort mit ihm gesprochen. Er begleitet sie in die Bahnhofshalle, trägt ihr die schwere Tasche die Treppen zum Bahnsteig hinauf. Gemeinsam warten sie auf den Zug, der sie wieder für eine Woche trennen wird. Seine kräftigen Arme umschlingen Merle. Sie spürt seine Lippen auf ihrer Wange. Abschied fällt schwer, nur heute nicht. Uli und das Studium sind weit weg. Sassi, geht es Merle durch den Kopf. Keiner hat sich um sie gekümmert. Was mag in ihr vorgehen? Warum ist sie nicht zu ihrer kleinen Schwester gegangen?

 
Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?