Buch lesen: «Hamanyalas – Weisheiten des leichten Lebens»
DEINE MUTMACHERIN
ILONA FRIEDERICI
HAMANYALAS –
WEISHEITEN DES
LEICHTEN LEBENS
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Copyright der ersten Auflage © 2018 Pro BUSINESS GmbH, erschienen unter dem Titel »Samira, die alte Frau mit dem roten Rucksack« mit der ISBN 978-3-96409-009-6
»Hamanyalas« ist als Wortmarke beim DPMA im Markenregister eingetragen.
Copyright © 2020 Verlag »Die Silberschnur« GmbH
ISBN: 978-3-89845-664-7
eISBN: 978-3-89845-686-9
1. Auflage 2020
Lektorat: Birgit Rentz
Gestaltung & Satz: XPresentation, Güllesheim
Umschlaggestaltung: XPresentation, Güllesheim; unter Verwendung eines Motivs von © Velychko Viktoriia; www.shutterstock.com
Verlag »Die Silberschnur« GmbH · Steinstr. 1 · 56593 Güllesheim www.silberschnur.de · E-Mail: info@silberschnur.de
INHALT
Prolog
Nichts ist mehr, wie es einmal war
Auf dem Hügel
Träume, Sehnsüchte und Leidenschaften
Sei du selbst
Wiedersehen im Biergarten
Du bist ein Original
Freundinnen
Sprachen der Liebe
Durch die Augen des anderen
Im Eiscafé
Wiedersehen am Bachlauf
Ein Blick über den Rand der Komfortzone
Du bist genau richtig, wie du bist
Der Unfall
Als wäre es der letzte Tag
Ein Abend ohne die Kinder
Weniger ist manchmal mehr
Epilog
Hamanyalas
Danksagung
Die Autorin
PROLOG
Es gibt Momente, die verändern dein Leben. Manche weniger, manche mehr. Was mein Leben außergewöhnlich verändert hat, ist die Begegnung mit Samira. Eine alte Frau, von der ich nicht viel mehr weiß, als dass sie Samira heißt. Zumindest hat sie sich mir so vorgestellt. Das erste Mal begegnete ich ihr vor mehr als dreiundzwanzig Jahren.
Ich saß auf einem großen Felsbrocken an einem breiteren Bachlauf. Es führte kein direkter Weg dorthin, ich war einfach über eine Wiese gelaufen und hatte mich dann durch ein paar Büsche hindurchgeschlichen. Ich suchte einen Ort der Stille, wollte niemanden sehen oder hören, einfach nur allein sein. Völlig am Boden zerstört saß ich da und weinte. Ich hatte wohl schon mindestens das zehnte Taschentuch vollgeschnauft und fühlte mich einfach elend, einsam und verlassen. Meine Welt war zerrüttet, ich sah keine Zukunft mehr. Vor einem halben Jahr hatte ich mit gerade mal sechzehn Jahren meine Mutter verloren, und vor drei Wochen war mein Vater schwer erkrankt. Er sei nun ein Pflegefall, hatte man mir an diesem Tag gesagt, und werde sich nie wieder allein versorgen können.
Die Verzweiflung machte sich in mir breit, und ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Was wird nun, wo kann ich bleiben? Ich wollte einfach nur weg, es hatte alles keinen Sinn mehr. Das ganze Leben schien mir ohne Sinn und Zweck. Ich fühlte mich so allein und einsam. Überlegte, ob ich von der Brücke springen sollte. An der Talbrücke hatte sich schon einmal jemand umgebracht, das hatte mir mein Freund Toni erzählt. Das wäre doch ganz einfach und ich würde niemandem, besonders nicht meinem Vater, zur Last fallen. Wer würde mich schon noch wollen?
Plötzlich hörte ich eine Stimme hinter mir: »Darf ich mich zu dir setzen, junge Frau?«
Erschrocken drehte ich mich um. Total überrascht, denn ich hatte niemanden kommen hören. Hinter mir stand eine alte, grauhaarige Frau. Sie hatte etwas dunklere Haut, was mir sofort auffiel. Ich konnte nicht erkennen, ob sie Ausländerin war oder einfach nur viel Zeit in der Sonne verbracht hatte. »Oh«, entfuhr es mir, »ich habe Sie nicht kommen hören. Ich dachte, ich wäre hier allein.«
Jetzt überkam mich aber doch kurz die Panik, ich war schließlich ganz ohne Begleitung. Wenn die Frau mir etwas tun wollte, dann hörte mich nicht mal jemand, falls ich schrie. Aber dann lächelte sie mich an, und ohne ein weiteres Wort zu sagen, setzte sie sich neben mich auf den Felsbrocken.
»Wer sind Sie?«, fragte ich. »Was machen Sie hier?«
Daraufhin musste die Grauhaarige lachen. »Das sollte ich lieber dich fragen, Ilona.«
Ich stutzte. »Woher kennen Sie meinen Namen? Kennen wir uns?« Ich konnte mich nicht erinnern, die Frau jemals gesehen zu haben.
»Ich kenne deinen Namen. Ich bin übrigens Samira«, erwiderte sie und reichte mir ihre rechte Hand.
Ich zögerte. Irgendwie war das gerade alles sehr merkwürdig. Samira wirkte unauffällig, trug Jeans, eine Bluse und schlichte Lederschuhe. Diese Schuhe, die Indianer oft trugen, Mokassins. Ihr roter Rucksack wirkte etwas fehl am Platz, er passte meiner Meinung nach so gar nicht zu ihr, zu einer so alten Frau. Aber dann reichte ich ihr doch meine Hand und traute mich, noch einmal zu fragen: »Was machen Sie hier?«
Mir tief in die Augen schauend meinte sie: »Ich bin deinetwegen hier.«
Wieder stutzte ich. »Meinetwegen?«
»Ich bin hier, weil ich Dinge gut sehen kann. Andere Menschen können gut singen oder zeichnen. Und ich kann gut sehen. Sehe mehr aus unterschiedlichen Perspektiven«, erklärte sie.
»Ich versteh nur Bahnhof«, schoss es aus mir heraus. Ich merkte, dass ich unhöflich wurde und mein Ton unangebracht war, aber irgendwie kam mir die Situation ein wenig lächerlich vor. Etwas Misstrauen kam auch noch dazu. Was soll das hier werden?, fragte ich mich.
»Ich werde versuchen, es dir zu erklären, aber vorher lade ich dich zu einem Festessen ein«, sagte Samira, während sie anfing, in ihrem knallroten Rucksack herumzukramen. Zum Vorschein kamen zwei Weizenbrötchen, ein Apfel, der in zwei Hälften geschnitten war, und eine Flasche Wasser.
Hm, dachte ich, unter einem Festessen hätte ich mir aber etwas anderes vorgestellt. Dennoch nahm ich das angebotene Brötchen und den Apfel an. Auf einmal registrierte ich, dass ich sehr hungrig war, zumal ich heute auch noch nichts gegessen hatte. Das war mir vorher noch gar nicht so aufgefallen.
So saßen wir eine ganze Weile nebeneinander und aßen. Eigenartigerweise stellte ich fest, dass ich neben der fremden Frau immer ruhiger wurde. Auch wenn ich mich weiterhin fragte, was das hier eigentlich sollte, entspannte ich mich allmählich.
Nach einiger Zeit des Schweigens fragte Samira mit einem schelmischen Blick in meine Richtung: »Na, wie war das Festessen, junge Frau?«
»Also, ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber unter einem Festessen stelle ich mir etwas anderes vor. Trotzdem vielen Dank.«
»Ja, vielleicht haben wir nicht das Gleiche gegessen. Was hast du denn gegessen?«
Was sollte die Frage? Verwundert antwortete ich: »Wir haben doch beide das Gleiche gegessen.«
»Das finden wir nur heraus, wenn du mir sagst, was du gegessen hast.«
Jetzt war ich verwirrt. »Ich weiß nicht, wie Sie das meinen! Wir haben doch beide ein trockenes Brötchen und jeweils einen halben Apfel gegessen.«
Samira fing an zu lachen. Ich war mir nicht sicher, ob ich jetzt wütend war oder einfach nur genervt. Langsam ging mir das Ganze hier auf den Geist. Ich wollte doch nur meine Ruhe haben. Deshalb hatte ich mich ja durch die Sträucher gequält.
»Also, ich habe heute ein Brot de Grande und ein Obstdessert bei herrlichem Sonnenschein an einem schönen kleinen Bachlauf gespeist.« Samira hielt kurz inne. »Du siehst, es liegt manchmal daran, aus welcher Perspektive man eine Sache betrachtet. Oft hilft es, eine Situation von einer anderen oder höheren Perspektive aus zu betrachten. Manchmal tut es auch gut, ein Ereignis aus der Perspektive eines anderen Menschen zu betrachten.«
Irgendwie konnte oder wollte ich das an diesem Tag nicht verstehen. Zögerlich schüttelte ich den Kopf. »Ich weiß nicht so wirklich, was Sie von mir wollen. Das ist mir gerade alles ein bisschen zu viel.«
Samira schenkte mir einen mitfühlenden Blick. »Nenn mich einfach Samira. Du kannst mich also gerne duzen. Ich verstehe dich, liebe Ilona.« Sie kramte erneut in ihrem Rucksack. »Aber ich habe dir auch noch etwas mitgebracht«, deutete sie an, während sie drei Bücher hervorzog. »Liest du, meine Kleine? Ich meine nicht, ob du lesen kannst, sondern ob du es tun wirst. Dann hätte ich diese Bücher für dich. Sie werden dir einen Einblick in eine andere Perspektive verschaffen.« Wie ich erkennen konnte, waren es Bücher von Abraham Lincoln, Nick Vujicic und Anne Frank.
Obwohl es eine so außergewöhnliche Situation war, fühlte es sich für mich in diesem Moment sehr vertraut an. Auf einmal waren all meine Sorgen, Ängste und Trauer vergessen. Irgendwas in mir sagte: Vertraue dieser Frau!
»Eigentlich lese ich keine Geschichtsbücher«, erklärte ich, »aber ja, ich lese.« Etwas zögerlich nahm ich die Bücher entgegen.
»Lies sie in Ruhe«, sagte Samira. »Wir sehen uns in ein paar Tagen, und dann schaue ich, wie es dir mit den Büchern ergangen ist. Nun muss ich mich auf den Weg machen, eine alte Frau braucht ihre Erholung.« Noch während sie das sagte, ging sie in Richtung der Sträucher.
»Wie und wo sehen wir uns?«, rief ich ihr hinterher, aber sie war schon verschwunden.
Was für eine seltsame Begegnung …
Ich blieb noch eine Zeit lang am Wasser sitzen, schlug das Buch von Abraham Lincoln auf und fing an zu lesen. Und dann las ich und las und las – bis ich plötzlich feststellte, dass es dunkel wurde.
In den nächsten Tagen las ich ein Buch nach dem anderen und war so was von berührt und bewegt von den Geschichten. Alle drei Hauptfiguren hatten schwere Schicksalsschläge und Niederlagen hinnehmen müssen. Und alle waren wieder aufgestanden und hatten mit Erfolg ihr Schicksal in die Hand genommen.
Zwar lenkte mich das Lesen ab, jedoch ging es mir zwischendurch ziemlich schlecht. Ständig musste ich weinen, meine Mutter fehlte mir so sehr. Jetzt noch mehr als vor der Mitteilung, dass mein Vater so krank sei. Ich konnte nun nicht mal mehr mit meinem Vater reden. Die Ärzte hatten gesagt, er brauche Ruhe.
Nachmittags kam meine Tante Sabine vorbei, um mir etwas zu essen zu kochen. Als ich sie wie so oft fragte, wann mein Vater endlich gesund werden würde, nahm sie mich in den Arm, begann zu weinen und meinte nur: »Nie mehr, kleine Ilona. Nie mehr.«
Ich fing an zu schreien, tobte und weinte vor Verzweiflung. Wo sollte ich nur hin? Ich war doch ganz allein! Wieder bewegten mich diese Gedanken. Niemand mehr da, der mich wollte. Abermals kam mir die Talbrücke in den Sinn. Ich sollte springen, dann wäre alles vorbei.
Wie aus dem Nichts fiel mir irgendwann diese sonderbare Samira wieder ein. Tagelang lief ich durch den Wald, über die Wiesen, vorbei an dem Bachlauf, um sie zu suchen. Ich hatte ja noch ihre Bücher und gleichzeitig so viele Fragen. Fragen, die ich ihr stellen wollte. Ich hatte keine Ahnung, warum gerade sie diejenige war, von der ich mir Antworten erhoffte, aber ich suchte sie überall. Fragte meine Tante, ob sie die alte Frau kenne. Doch leider konnte sie mit meiner Beschreibung nichts anfangen und kannte niemanden mit dem Namen Samira.
Nach über einer Woche hörte ich plötzlich im Stadtpark eine Stimme hinter mir. »Na, du Leseratte!«
Ich wusste sofort, dass Samira zu mir gekommen war, und ein Lächeln huschte über mein Gesicht, als ich mich zu ihr umdrehte.
»Was macht die Perspektive, Ilona?«, erkundigte sie sich augenzwinkernd.
Statt zu antworten, schoss es aus mir heraus: »Ich habe Sie überall gesucht!«
»Junge Frau, sind wir nicht Freunde? Ich bin Samira, das sagte ich dir doch bereits, und Freunde darf man schließlich duzen, oder? Schon vergessen?«
Ich fand es ungewöhnlich, mit »junge Frau« angesprochen zu werden. Und eine so alte, fremde Frau zu duzen, kam mir sonderbar vor. Aber irgendwie gefiel es mir auch. Genauso wie mir diese fremde Frau gefiel, sie hatte etwas Nettes, Sympathisches und gleichzeitig Magisches an sich, das ich mir nicht erklären konnte.
»Die Perspektive?«, fragte ich nur und sah sie mit großen Augen an.
»Hast du die Bücher, die ich dir gegeben habe, schon gelesen? Ich habe dir nämlich weiteren Lesestoff mit gebracht.« Samira hielt mir, ohne auf meine Antwort zu warten, drei neue Bücher hin.
Ich nickte und dankte ihr. Wieder musste ich über den außergewöhnlichen und knallig roten Rucksack schmunzeln, aus dem sie die Bücher hervorgekramt hatte.
»Hast du beim Lesen eine neue Perspektive gewonnen und etwas aus den Büchern gelernt?«, wollte sie wissen.
»Ja«, ich nickte, »die Geschichten waren beeindruckend. Obwohl die jeweiligen Hauptfiguren von sehr schweren Schicksalsschlägen getroffen waren, schienen sie alle ihr Leben zu lieben.«
»Dann lies diese drei, und du erhältst noch mehr Perspektive. Man muss das Leben manchmal aus einer anderen Perspektive sehen, junge Frau.«
Wieder dieses »junge Frau«. Eine Anrede, die ich später noch öfter zu hören bekommen sollte, aber das ahnte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht.
Samira reichte mir die Bücher. »Ich habe sie in der Bücherei ausgeliehen. Du kannst sie nach dem Lesen zusammen mit den anderen dort wieder abgeben. Ich muss nun weiter, liebe Ilona, ich werde von einer Freundin erwartet. Viel Spaß beim Lesen!« Mit diesen Worten ging sie in Richtung Parkausgang.
Zunächst etwas sprachlos, schaute ich ihr hinterher, aber dann klemmte ich mir die Bücher unter den Arm, setzte mich unter einen großen Baum und fing an zu lesen.
Das erste Buch erzählte die Geschichte von einem armen kleinen Jungen in Afrika, der schon früh auf dem Feld arbeiten musste und deshalb sehr oft nicht zur Schule gehen konnte. Das zweite Buch war von Mark Twain und das dritte von Christoph Kolumbus.
Ich verschlang die Bücher regelrecht, konnte nicht aufhören zu lesen. Sie faszinierten mich und ich gewann mit meinen nicht mal siebzehn Jahren einen anderen Blick auf das Leben und auf mein eigenes Schicksal. Der Gedanke an die Talbrücke kam mir nur noch ein paarmal und war schließlich gänzlich verschwunden. Diese Menschen, von denen ich in den Büchern las, hatten ebenfalls schwere Schicksalsschläge hinnehmen müssen und hatten damit so bewundernswert gelebt oder leben zum Teil noch immer und wurden auf ihre Weise zu großen Vorbildern für mich.
Nach ein paar Wochen zog ich zu meiner Tante, die sich wirklich liebevoll um mich und auch um meine Trauer kümmerte. Das veränderte mein Leben sehr, aber ich spürte die Liebe, die sie mir entgegenbrachte.
Immer wieder hielt ich in den Wochen, Monaten und Jahren Ausschau nach dieser besonderen Frau. Der Frau, die mir gezeigt hatte, dass kein Schicksal so groß ist, dass es sich lohnt, von der Brücke zu springen. So oft dachte ich in den folgenden Jahren an Samira, sah sie aber nicht wieder.
NICHTS IST MEHR, WIE ES EINMAL WAR
Noch im Halbschlaf hörte Leni den Radiowecker angehen. Sie spielten »Keine Zeit« von Tim Bendzko. Ja, ich würde jetzt auch am liebsten im Bett liegen bleiben, wie der Tim es singt, dachte sie kurz, wusste aber sofort, dass das nicht möglich war. Ihr Blick ging nach links, zur anderen Betthälfte. Sie war leer. Sofort kamen die Erinnerungen an den vergangenen Abend. Ihr Mann war sehr spät nach Hause gekommen und sie hatte sofort gespürt, dass etwas nicht stimmte. Und so war es auch gewesen. Sie hatte noch sehr lange wach gelegen, vielleicht gerade mal zwei Stunden geschlafen.
Mit hämmerndem Kopf lag sie nun im Bett und der letzte Abend lief wie ein Film noch einmal vor ihrem geistigen Auge ab. In ihrem Inneren klangen die Worte ihres Mannes nach: Er habe sich in eine andere Frau verliebt und wolle demnächst ausziehen. Wie betäubt und geschockt hatte sie vor ihm gesessen, zunächst unfähig, irgendetwas zu sagen.
Jetzt schaute sie noch einmal auf die andere Bettseite und ihr war klar, es war kein Traum. Es war wirklich passiert.
Wie in Trance stand sie nun langsam auf. Die Kinder mussten ja geweckt und das Frühstück vorbereitet werden. Als sie am Wohnzimmer vorbeikam, sah sie, dass ihr Mann, der die Nacht auf dem Sofa verbracht hatte, schon aufgestanden war. Wie benebelt schlich sie in Richtung Küche. Seine Schuhe standen nicht mehr, wie um diese Tageszeit üblich, im Flur vor der Eingangstür. Er war also schon los zur Arbeit. Sie fühlte sich gerädert, schlapp und irgendwie ausgelaugt, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Doch Leni musste sich um die Kinder kümmern. Wie automatisiert ging sie zunächst ins Bad, um sich, so gut es ging, die verheulten Augen zu überschminken, bevor sie zu den Kindern hochging und sie liebevoll weckte, wie sie es jeden Morgen tat. Sie gab sich alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen und so zu tun, als wäre es ein ganz gewöhnlicher Dienstagmorgen. Aber das war es nicht. Tief in ihrem Inneren wusste sie genau, dass ab heute nichts mehr sein würde, wie es einmal gewesen war.
Nachdem sie mit den Kindern gefrühstückt hatte – oder besser gesagt mangels Appetit nur den Kindern das Frühstück zubereitet hatte und sie nun auf dem Weg zur Schule waren –, sackte Leni auf dem Küchenstuhl zusammen. Die Tränen rannen ihr nur so übers Gesicht. Verzweiflung und Ratlosigkeit machten sich in ihr breit. Was habe ich falsch gemacht?, hämmerte es immer wieder durch ihren Kopf. Ein Gedanke nach dem anderen beschäftigte sie. Was ist passiert? Wie konnte das geschehen? Fragen über Fragen, auf die sie keine Antwort wusste.
Nach einer ganzen Weile wurde ihr klar, dass sie hier nicht sitzen bleiben konnte. Sie konnte nicht, wie Tim Bendzko es gesungen hatte, »einfach frei machen«. Sie hatte eine Arbeit und es warteten Verpflichtungen auf sie, die sie einhalten musste.
Kurz überlegte sie, ob sie ihren Mann anrufen sollte, stieg dann aber doch die Holztreppe hinauf, um zu duschen. Eine gefühlte Ewigkeit ließ sie das heiße Wasser auf ihren Körper prasseln. Versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Aber das Bauchkneifen ging genauso wenig weg wie die vielen quälenden Fragen. Besonders die Frage danach, was sie getan, ja was sie falsch gemacht hatte. Am vorherigen Abend hatte sie ihrem Mann diese Fragen bestimmt acht Mal gestellt, aber er hatte immer wieder beteuert: »Nichts, du hast nichts falsch gemacht. Es ist einfach passiert.«
Einfach passiert, dachte sie. »So was passiert doch nicht einfach!«, sprach sie ihren Gedanken nun laut aus.
In Gedanken versunken begann sie sich abzutrocknen und das rot geschwollene Gesicht und die Augen ein weiteres Mal, so gut es ging, zu schminken. Ja, sie konnte ein wenig von ihrer Traurigkeit kaschieren, aber wer genau hinsah, erkannte die dicken Augenringe. Doch es nützte nichts, sie musste sich langsam fertig machen. Im Büro erwartete man sie, und sie wusste, dass dort viel zu tun war.
AUF DEM HÜGEL
Behutsam lenkte Leni ihren Kleinwagen aus der Garage und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Bloß kein Aufsehen erregen, nicht dass noch jemand sie fragte, wie es ihr gehe. Das wäre jetzt die Hölle für sie.
Während sie die Auffahrt hinunterrollte, kamen die Erinnerungen hoch. An die Zeit, als sie zusammen mit ihrem Mann das Haus geplant und gebaut hatte. An den Tag, an dem sie gemeinsam den Vorgarten gestaltet hatten. Wieder kamen ihr die Tränen. Leni stoppte kurz, wischte sie ab und fuhr dann gleich wieder los.
Wie automatisiert bog sie links auf die Straße ab und nahm den gewohnten Weg zur Arbeit – zunächst durch die Stadt und dann über eine Landstraße, die in den benachbarten Ort führte.
Ein paar Kilometer hinter der Ortsausfahrt registrierte sie plötzlich eine Weggabelung. Irritiert überlegte sie: Den Weg kenne ich ja noch gar nicht. Warum ist er mir bisher nie aufgefallen? Sie sah sich um, schaute in alle Richtungen, um sich zu vergewissern, dass sie sich auf der richtigen Straße befand. Ja, sie war auf der Straße, die sie seit mehr als sechs Jahren jeden Morgen und jeden Mittag auf dem Weg zur Arbeit und zurück befuhr. Sie wohnte schon so lange in dieser Gegend, aber diese Abzweigung war ihr noch nie aufgefallen. Verwirrt bremste sie vor der Gabelung leicht ab. Dann glitt ihr Blick zur Uhr.
Sie hatte, wie jeden Morgen, mehr als genug Zeit. Leni war immer gern rechtzeitig an ihrem Arbeitsplatz. Niemand sollte ihr je nachsagen können, dass sie auch nur ein einziges Mal zu spät gekommen sei. Es könnte ja unterwegs auch mal etwas passieren, was sie aufhalten würde.
Ohne groß über ihre Entscheidung nachzudenken, lenkte sie ihren Wagen an der Gabelung nach links, um herauszufinden, wohin der Weg führte. Kopfschüttelnd, weil sie sich absolut nicht an diesen Weg erinnerte, fuhr sie weiter. Die Straße wurde nach kurzer Zeit etwas schmaler und führte leicht bergauf an einem großen Rapsfeld und einer mit verschiedenen Blumen übersäten Wiese vorbei.
Schon nach kurzer Zeit bog der Weg noch einmal links ab und schlängelte sich den Hügel hinauf. Oben angekommen, befand sich auf der rechten Seite eine kleine Parkbucht. Leni entdeckte eine Holzbank sowie einen kleinen Grillplatz. Kurz entschlossen hielt sie den Wagen an, stieg aus und war verblüfft, was für einen schönen Ausblick man von hier über das Tal hatte. Warum hatte sie das nicht gewusst? Warum war sie bisher noch nie hier gewesen?
Der leichte Wind, die Sonne am strahlend blauen Himmel und das leise Rascheln der Blätter einer großen Kastanie am Ende der Parkbucht taten ihr gut. Sie atmete zwei Mal ganz tief durch.
Plötzlich sagte eine Stimme hinter ihr: »Guten Morgen, genießt du auch eine kleine Auszeit?«
Als Leni sich umdrehte, sah sie auf der Holzbank eine alte Frau sitzen. Wo kommt die denn auf einmal her?, fragte sie sich. Eben war die Bank doch noch leer gewesen, als Leni ihr Auto angehalten hatte. Aber das Lächeln der Frau war so freundlich und einladend, dass sie nicht unhöflich sein wollte. »Guten Morgen«, erwiderte sie. »Nein, ich weiß auch nicht, eigentlich bin ich auf dem Weg zur Arbeit und war gerade über mich selbst erstaunt, dass ich diesen schönen Platz gar nicht kenne. Und das, obwohl ich schon so lange in dieser Gegend lebe.« Sie sog noch einmal die frische Luft in sich ein. »Sie sind nicht von hier, oder?«, platzte es plötzlich aus ihr heraus, denn sie kannte die Frau nicht. Und sie kannte sonst fast jeden hier in der Umgebung, zumindest vom Sehen. Sie lebten ja schließlich auf dem Land. Dann registrierte sie neben der Frau einen auffälligen roten Rucksack, der irgendwie so gar nicht zu ihr passte, weil sie eher unauffällig gekleidet war. Leni ertappte sich dabei, für einen kleinen Moment in sich hineinzuschmunzeln.
»Ich komme öfter mal hierher, wenn dieser Ort mich braucht«, sagte die alte Frau. »Übrigens, ich heiße Samira.« Sie streckte Leni ihre rechte Hand entgegen und forderte sie mit einer einladenden Geste auf, sich neben sie zu setzen.
»Eh, oh, ja, ich bin Leni«, stotterte Leni und dachte: Was für ein komischer Tag heute! Sie nahm neben der Unbekannten Platz. »Ich weiß«, hörte sie diese sagen. Leni stutzte. Woher kennt sie mich?, überlegte sie. Sie war sich sicher, die alte Frau noch nie in ihrem Leben gesehen zu haben.
Dann schwiegen beide eine ganze Weile, während Leni die Augen schloss und die wärmende Sonne in ihrem Gesicht spürte. Plötzlich tauchte das Gesicht ihres Mannes vor ihrem geistigen Auge auf. Sie schluckte, und ohne das Gefühl von Traurigkeit aufhalten zu können, rannen ihr Tränen die Wange herunter. Eilig versuchte sie, sich zusammenzureißen, und wischte die Tränen mit einem Taschentuch fort.
»Das Leben ist nicht immer einfach, Leni, richtig?«
Leni horchte auf und wandte ihren Blick zu Samira. Obwohl sie diese Frau noch nie zuvor hier im Ort gesehen hatte, war sie ihr irgendwie vertraut. Sie konnte es sich nicht erklären, aber die grau–haarige Alte, deren Haut etwas dunkler war als ihre eigene, wirkte aufrichtig und vertrauenswürdig – warum auch immer. Leni nickte. »Und heute ist ein besonders schlimmer Tag«, rutschte es ihr heraus.
Samira blickte sie mitfühlend an, erwiderte aber zunächst nichts darauf. Sie lächelte ihr einfach nur zu.
Dann saßen die zwei wieder eine Weile still nebeneinander. Leni versuchte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, damit die Frau neben ihr nichts davon bemerkte. Aber es arbeitete in ihrem Kopf. Die vielen Fragen, die sie schon am vorigen Abend nicht losgelassen hatten, flogen nur so von links nach rechts und von rechts nach links: Niemandem kann ich es recht machen! Ich tue doch alles, was man von mir erwartet. Ich helfe jedem. Aber offenbar bin ich nicht gut genug. Was habe ich nur falsch gemacht? Sie konnte es noch immer nicht fassen, dass ihr Mann ihr das für sie Schlimmste – eine neue Liebe und die Trennung – offenbart hatte.
»Man kann es nicht allen Menschen recht machen!«, sagte plötzlich Samira neben ihr.
Ups, habe ich meine Gedanken gerade laut ausgesprochen?, schoss es Leni durch den Kopf. Nein, das hatte sie nicht. Aber warum hatte die alte Frau genau diese Worte gesagt? Irritiert schüttelte Leni den Kopf. Dieser Tag erschien ihr wirklich unheimlich. Sie hob ihren Blick, schaute in die mitfühlend wirkenden Augen der Grauhaarigen und wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit erwiderte sie: »Das möchte man aber doch!«
Samira lächelte erneut. »Ich würde gern einen kleinen Spaziergang über den Hügel machen. Hast du Lust, eine alte Frau wie mich zu begleiten? Ich könnte Gesellschaft gut gebrauchen.« Sie erhob sich von der Bank, setzte sich den roten Rucksack auf und deutete mit einer kurzen Bewegung an, dass sie losgehen wolle. Der Rucksack – er war tatsächlich knallrot – auf dem Rücken der Frau, das sah schon irgendwie lustig aus, dachte Leni. Als wäre sie ferngelenkt, stand sie ebenfalls auf. »Ja, gerne«, hörte sie sich sagen.
Einige Zeit folgten die beiden Frauen schweigend dem Pfad über den Hügel, bis sie zu einem angrenzenden kleinen Waldstück kamen. Warum kenne ich diesen Weg eigentlich nicht? Diese Frage kam Leni immer wieder in den Sinn. Genauso oft wurde die Vergangenheit gegenwärtig und sie dachte zurück an den vorangegangenen Abend und all die Jahre davor, die sie zusammen mit ihrem Mann verbracht hatte.
Aber dann traute sie sich doch auszusprechen, was ihr auf der Seele brannte: »Woher kennen Sie mich eigentlich?«
Ein Lächeln huschte über das Gesicht der alten Frau. »Ich kenne deinen Namen, ja. Doch wichtiger ist, wer du bist. Ich darf doch du sagen, oder?«
Jetzt war Leni noch mehr verwirrt. »Eh, ja, ja klar«, stotterte sie. »Das dürfen Sie, nein darfst du …« Sie zwang sich zur Ruhe. »Mir kommt das gerade alles so seltsam vor. Wer sind Sie?«
Obwohl Samira schmunzelte, fühlte Leni sich nicht ausgelacht. Im Gegenteil, sie spürte einen offenen, freundlichen Blick auf sich ruhen.
»Rede doch einfach ganz normal mit mir«, sagte Samira. »Dazu gehört auch das Du. Ich bin eine Freundin.«
»Trotzdem weiß ich nicht, wer Sie, eh, wer du bist und woher du mich kennst.«
Wieder lächelte Samira, und Leni konnte nicht anders, als zurückzulächeln.
»Ich sagte doch, ich bin Samira.«
Jetzt wurde Leni ein wenig verlegen. Was war das gerade für ein Gefühl, das sie überkam?
»Du fühlst dich unwohl?«, fragte Samira.
»Nein, nicht wirklich unwohl, eher verwirrt und seltsam. Das hier ist so ungewohnt. Irgendwas ist mit mir nicht in Ordnung. Erst das alles mit meinem Mann, und nun befinde ich mich hier mit einer fremden Frau an einem Ort, den ich noch nie zuvor gesehen habe. Und das, obwohl ich schon so viele Jahre hier lebe.«
Samira lachte herzlich.
Bisher hatte Leni angenommen, die Frau sei im Rentenalter, aber jetzt, als sie lachte, schien sie ihr so jung und frisch, fast jugendlich.
»Wer bist du, Leni?«, fragte die Grauhaarige aus dem Lachen heraus.
Obwohl Leni die Frage völlig verblüffte, klang sie nicht aufdringlich oder plump. Die Art, wie Samira ihr dabei fest in die Augen schaute, war äußerst angenehm und fühlte sich so vertraut an. Im Geiste wiederholte Leni die Frage der Unbekannten: Wer bist du, Leni?
Ja, wer war sie eigentlich? Das war eine gute Frage.
Schweigend gingen sie eine ganze Weile weiter den Weg entlang. Die Stille war nicht unangenehm, sondern wirkte entspannend auf Leni. Samira strahlte eine ungewohnte Ruhe aus, die ihr guttat. Die Sonne schien durch Bäume und Büsche und Leni sog die frische Waldluft in sich ein. Sie fühlte, dass sie innerlich immer ruhiger wurde. Was lebe ich doch in einer schönen Gegend, dachte sie, als ihre Gedanken durch die Worte von Samira unterbrochen wurden.
»Viele Menschen kennen die Vorlieben, Wünsche und Träume ihrer Familie, die der Kinder, die der Eltern, die des Partners und vielleicht auch die der Freunde. Sie wissen, was deren Leidenschaft ist, was sie mögen, was sie lieben. Aber wenn man sie fragt, wer sie selbst sind, dann kennen sie ganz oft die Antwort nicht.«
Schweigen folgte, doch nun kam Leni ins Grübeln. Ja, wer war sie eigentlich? Für ihre Kinder war sie Mutter, für ihre Eltern, die sie oft um Hilfe und Unterstützung baten, war sie die Tochter. Sie war Ehefrau und Elternvertreterin in den Klassen ihrer Kinder. Das war es, was ihr im ersten Moment einfiel.
Leise sprach Samira weiter. »Es geht nicht immer nur um die Rollen, die man im Leben einnimmt. Es geht vielmehr darum, wer man selbst ist. Du selbst. Was macht dich aus? Was packt deine Leidenschaft? Was sind deine inneren Sehnsüchte?«
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