Die alte Fabrik

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Die alte Fabrik
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Ilka-Maria Hohe-Dorst

Die alte Fabrik

Ein Offenbach-Krimi

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Epilog

Impressum neobooks

Prolog

Ingo hatte ein Gespür für die Sprache des Windes, seit ihm vor einem Jahr fast der linke Fuß erfroren wäre. Die eisigen Böen, die ihm von Osten entgegenwehten, verhießen für die Nacht nichts Gutes, deshalb erhob er sich von seiner Parkbank, stopfte seine Habe in zwei Plastiktüten und machte sich auf den Weg zur Gerberstraße, um die Nacht in der Notunterkunft der Diakonie zu verbringen.

Er hatte diese Einrichtung gemieden, seit ihm bei seinem ersten Besuch, als er tief schlief, das zusammengebettelte Geld gestohlen worden war. Aber heute hatte er keine Wahl, die Temperatur war bereits weit unter dem Gefrierpunkt und fiel spürbar weiter. Er fluchte, weil er sich nicht schon früher auf den Weg gemacht hatte, denn vom Leonhard-Eißnert-Park bis in die Offenbacher Innenstadt hatte er eine gute halbe Stunde zu gehen.

Oft hielt er sich für verrückt, immer wieder den weiten Weg die Bieberer Straße hinauf und wieder hinunter zu trotten, doch die Atmosphäre des Parks und die Nähe des Fußballstadions zogen ihn magisch an, denn sie weckten Erinnerungen an die Tage seiner Kindheit und Jugend. Wenn er seinen Rundgang durch die Grünflächen machte und an dem Wassersprühfeld vorbeikam, sah er sich wieder als kleinen Jungen im Sommer unter den kühlenden Fontänen herumtollen, die aus den sandsteinfarbenen Betonskulpturen in die Höhe schossen. Sie standen auf einer großen Lichtung, während sich das Fußballstadion im Südteil des Parks erhob und sein Anblick in Ingo Bilder von jenen glücklichen Tagen aufsteigen ließ, als er und sein Vater viele Jahre lang kein einziges Heimspiel der Offenbacher Kickers verpassten.

Für gewöhnlich ruhte sich Ingo nach seinem Spaziergang auf einer Bank aus und nahm sein karges Abendbrot ein. Hier hatte er Ruhe vor den anderen Obdachlosen, die entweder vor den Supermärkten saßen und bettelten oder sich in Grüppchen auf einer Bank in der Innenstadt niederließen, um sich zu betrinken. Er genoss es, allein zu sein.

Ingo hatte den Ausgang des Parks fast erreicht, als ihn der Klang schwerer Schritte und das Knacken von Zweigen aus seinen Gedanken riss.

„He, Alter, wohin so eilig?“

Ingo hielt den Kopf gesenkt und ging in unverändertem Tempo weiter. Anpöbeleien war er gewohnt.

„Hast wohl deinen stolzen Tag heute, du Penner.“

Drei junge Männer waren von einem Nebenweg auf den Hauptweg getreten und versperrten ihm den Weg. Ingo blieb stehen und blickte auf, bemüht, eine gelassene Haltung zu bewahren. Er hielt es für klug, höflich zu antworten, um eine Provokation zu vermeiden.

„Ich bin der Ingo. Muss wohin, wo’s warm ist.“

Einer der Männer trat dicht an ihn heran. Er wirkte jünger als die anderen beiden, schien aber genügend Autorität zu genießen, um sich in der Rolle des Anführers zu sehen.

„Oho, mächtig interessant, aber nach deinem Namen hat dich keiner gefragt.“ Er schlug einen ironischen Ton an: „In-goo. Klingt das nicht ein bisschen zu hübsch für ein faules Schwein, das sich mit steuerfreiem Geld durchs Leben mogelt?“

Bei den letzten Worten faustete er Ingo mehrmals hart gegen die Brust, so dass dieser ins Taumeln geriet. Doch es gelang ihm, auf den Beinen zu bleiben. Weil er nicht einschätzen konnte, ob die Männer ihn nur einschüchtern wollten oder ob es sich um das Vorspiel zu einer Gewalttätigkeit handeln sollte, ließ er seine Plastiktüten fallen und rannte los.

Er erreichte den Ausgang und raste die Bieberer Straße hinunter, auf der wie immer ein reger Autoverkehr herrschte. Doch darauf mochte sich Ingo nicht verlassen, denn hinter dem Saum der geparkten Autos war von der Fahrbahn aus schlecht zu sehen, was sich auf dem Gehweg abspielte. Hinter sich hörte er eilige Schritte. An der Ecke des Bierbrauerwegs wagte er stehenzubleiben und zurückzuschauen, wer im gefolgt war. Er sah einen Jugendlichen, der die Straße entlangrannte, wobei er sich immer wieder nach dem Bus umsah, dessen Lichter Ingo unterhalb des Fußballstadions erkennen konnte. Wahrscheinlich wollte der Junge die nächste Haltestelle erreichen, bevor der Bus dort ankam.

Weiter oben sah er die drei Männer, die ihn angepöbelt hatten, den Bieberer Berg herunterschlendern. Sie winkten Ingo zu und grölten etwas, das er nicht verstand. „Sie wollen mir nur Angst machen,“ versuchte er sich zu beruhigen, doch unvermittelt setzten die Männer zum schnelleren Lauf an. Ingo rannte wieder los, den Bierbrauerweg entlang, vorbei am großen Parkplatz, der den Fußballfans bei den Spielen der Kickers zum Abstellen ihrer Autos diente, und bog auf der linken Seite in den schmalen, kurzen Seitenweg der Daimlerstraße ein, der in eine breitere, zweispurige Fahrbahn mündete. Mit diesem Kurs hoffte er, die jugendlichen Rüpel abgehängt zu haben, obwohl er mit seinen zweiundvierzig Jahren kein schneller Läufer mehr war. Ausgepumpt blieb er neben einem Baustellenzaun stehen und vergewisserte sich mit einem Blick zurück, dass ihm die Männer nicht gefolgt waren. Auch sonst war weit und breit niemand zu sehen.

Er lehnte sich mit der Schulter gegen das Zaungitter, bis er wieder ruhig atmen konnte. Aber frei von Sorge war er nicht. Die Lümmel konnten es sich anders überlegt haben und jederzeit aus der Dämmerung auftauchen, um ihn zu demütigen, zu beleidigen, zu schlagen und zu treten. Es wäre nicht das erste Mal. Er musste ein sicheres Versteck zum Schlafen finden, denn er fühlte sich zu abgekämpft und energielos, seinen Weg bis in die Innenstadt fortzusetzen.

Die Zaungitter umschlossen das Gelände eines kleinen, verlassenen Fabrikgebäudes. Ingo hob eines der Gitter hoch, dessen Rahmenfuß in einem Betonklotz steckte, hakte es von der Seitenhalterung los und drückte es weit genug nach innen, dass er durch die Öffnung schlüpfen konnte. Dann hakte er das Gitter wieder ein.

Die Eingangshalle des alten Gemäuers verriet Ingo nichts mehr von dem, was sich einst an geschäftigem Leben hier abgespielt haben mochte. Da sie nicht großflächig und völlig ausgeräumt war, bot sie ihm kein geeignetes Versteck. Ohne lange zu überlegen, suchte er in den Nebengängen die Treppe zum Keller und stieg hinab. Er inspizierte die Räume, so gut es in der Dunkelheit ging. Zufrieden stellte er fest, dass sie trocken waren und weder nach Moder noch nach Schimmel rochen. In einem Raum standen ein Heizkessel und eine Reihe leerer Kanister, in einem anderen waren Kisten gestapelt, die sich beim Dranklopfen hohl anhörten, in einem weiteren Raum befanden sich alte, eingestaubte Maschinen, deren Zweck Ingo nicht klar war. Als er einen Hinterausgang fand, von dem eine Treppe auf das Hofgelände führte, konnte er sein Glück kaum fassen: Er hatte für alle Fälle einen Fluchtweg gefunden.

Für sein Nachtdomizil wählte Ingo eine Kammer direkt beim Hinterausgang, in der sich nichts weiter als Planen befanden, die an der hinteren Wand wie achtlos hingeworfen übereinanderlagen. Da seine Plastiktüten mit den wenigen Schätzen, die er besessen hatte, verloren waren, kamen ihm die Planen recht. Er nahm sich eine und faltete sie zu einem Kissen zusammen, auf das er seinen Kopf betten konnte. Eine weitere Plane diente ihm als Unterlage, eine dritte zog er über seinen Mantel, um sich gegen die Kälte zu schützen. Da er in der Dunkelheit nichts anderes mehr tun konnte, schloss er die Augen und schlief ein.

Der Mond war noch in der Phase des Verblassens, als Ingo vom Knurren seines Magens erwachte. Er schätzte die Zeit auf halbsieben, maximal sieben Uhr, bis zum Aufgang der Februar-Sonne dauerte es also noch eine knappe Stunde. Nachdem er sich daran erinnert hatte, wie er in diesen Kellerraum gekommen war, schlug er die Plane zurück, mit der er sich zugedeckt hatte, und stand auf. Aus seiner Manteltasche klaubte er das Kleingeld, das er am Tag zuvor erbettelt hatte, trat unter das Kellerfenster und zählte im schwachen Lichtschein, der von den Straßenlampen zu ihm drang, seine Münzen. Viel war nicht zusammengekommen, aber für ein zünftiges Frühstück und einen Becher Kaffee würde es reichen.

 

Während er die Münzen nach ihrem Wert auf der Hand sortierte, stieß er versehentlich zwei davon über den Rand, so dass sie zu Boden fielen. Er hörte ihr Klacken, bückte sich und tastete danach, bekam sie aber nicht zu fühlen.

„Verdammt!“

Warum mussten es ausgerechnet die Zwei-Euro-Münzen sein, von denen er nicht allzu häufig welche bekam? Er ärgerte sich über seine Ungeschicklichkeit, konnte aber nichts tun, als abzuwarten, bis es heller wurde und er den Boden deutlicher sehen würde.

Um die Zeit bis zur Dämmerung totzuschlagen, begann er, seine Planen aufzunehmen, zusammenzulegen und sie in einer Ecke des Raums aufzuschichten. Er machte sich keine Gedanken darüber, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Mensch jemals wieder Gebrauch von ihnen machen würde. Aber Ordnung lag ihm nun einmal im Blut. Und Sauberkeit. Er hatte nie verstanden, dass viele der Obdachlosen, deren Bekanntschaft er umständehalber machen musste, sich in Dreck und Speck verkommen ließen.

Als er mit seinen Planen fertig war, nahm er sich den Stapel an der Wand vor und faltete Stück für Stück zu ordentlichen, mehrlagigen Vierecken, die er weiter aufschichtete. Draußen war der Tag angebrochen, und im Keller wurde es immer heller, so dass Ingo endlich eine seiner beiden Zwei-Euro-Münzen sehen konnte. Der Rand der untersten Plane musste sie vor dem Wegrollen bewahrt haben. Freudig griff er nach dem Geldstück, steckte es in die Manteltasche und tastete mit der Hand an der Stelle, wo der Rand der Plane eine Welle gebildet hatte, nach dem zweiten Geldstück, das vom Fundort des ersten nicht weit weg sein konnte.

Aber statt unter dem Rand der Plane die glatte, runde Münze zu finden, fühlte er etwas Seltsames und Kühles, so dass er instinktiv die Hand zurückzog. Einen Moment lang überlegte er, ob es nicht besser sei, die Suche aufzugeben und alles, was in dem Keller war, zu vergessen. Doch die Neugier ließ ihn nicht los, also schlug er die oberen beiden Planen zurück und lupfte die unterste ein Stück, um sehen zu können, was sich darunter befand. Er erschrak, als eine Reihe schmaler Knochen sichtbar wurde. Sie kamen ihm vor wie von einer menschlichen Hand oder einem Fuß, und am liebsten hätte er sie einfach zugedeckt und ignoriert. Doch der Drang nach Gewissheit war stärker, und wie unter Zwang hob er die Plane hoch, soweit es nötig war, um sehen zu können, ob noch mehr darunter verborgen lag. Im nächsten Moment ließ er sie entsetzt fallen und verwünschte seine Neugier. Dies alles ging ihn nichts an. Zeit, zu verschwinden!

Er nahm den Hinterausgang und ging vorsichtig die Treppe hinauf. Als er sicher sein konnte, immer noch allein auf dem Gelände zu sein, gönnte er seiner Lunge einen extra tiefen Zug der frischen Morgenluft. Vor ihm lag ein neuer Tag.

Kapitel I

Theos Adresse auf dem Umschlag war auf ein Klebeetikett gedruckt, aber an der Briefmarke erkannte er, dass der Brief aus Frankreich war, und da wusste er sofort, von wem er kam. Er schloss den Briefkasten, riss den Umschlag auf und entfaltete den Papierbogen. Bevor er zu lesen beginnen konnte, stach ihm Frau Westphals spitze Stimme in die Ohren: „Wenn sie Ihrer Tochter zurückschreiben, Herr Neumann, dann richten sie ihr Grüße von mir aus. Und dass sie bloß nicht daran denkt, wieder heimzukommen!“

Mit Handtasche und Einkaufbeutel bewaffnet humpelte die Alte an Theo vorbei. „Der Brief ist doch von ihr, oder? Melly war das süßeste Geschöpf, das es in diesem Haus je gegeben hat. Ihre Mutter war dieses Mädel nicht wert! Gott habe die Hexe trotzdem selig. Toten soll man ja nichts Schlechtes nachsagen. Schönen Tag noch.“

Theo sah der Westphal nach, bis sie auf die Straße getrottet war. Er kannte sie und ihre Meinung zu lange, um auf ihre Ausfälle noch zu reagieren. Was wusste sie schon von seinen Sorgen? Als er Schritte im Treppenhaus und das Schließen einer Tür hörte, nahm er eilig jede zweite Stufe zu seiner Wohnung im ersten Stock, um weitere Begegnungen zu vermeiden und den Brief ungestört lesen zu können.

„Papa, es geht mir gut. Ich habe Arbeit, von der ich leben kann, und genügend Zeit für mein Studium. Mit meinen Fortschritten bin ich zufrieden. Ich hoffe, dir und Mama geht es auch gut. Deine Melly.“

Lakonisch wie immer. Theos Augen wurden nass. Melanie wusste nicht, dass ihre Mutter vor zwei Monaten gestorben war. Er hatte keine Chance gehabt, seine Tochter zu benachrichtigen, weil er ihre Adresse nicht kannte. Er besaß nichts als die Briefe, die sie ihm regelmäßig, doch ohne Absender schrieb und die er in einem Schuhkarton aufbewahrte.

Er faltete den neuen Brief zusammen, legte ihn zu den anderen und wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes die Tränen aus dem Gesicht. Nie hatte er sich einsamer gefühlt als jetzt. Oft wünschte er sich die Zeit zurück, in der seine Ehe mit Sylvia noch glücklich und das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter harmonisch war. Die Idylle ging verloren, als Melanie sich nach dem Abitur dafür entschieden hatte, eine Ausbildung in Malerei und Fotografie an der Offenbacher Hochschule für Kunst und Gestaltung zu machen und dort einen jungen Türken namens Timur kennenlernte, in den sie sich verliebte. Sylvias Reaktion auf diese Verbindung überraschte Theo, denn bis dahin hatte er seine Frau für einen weltoffenen und vorurteilsfreien Menschen gehalten. Doch je mehr sie über Timur und dessen Familie erfuhr, umso energischer drängte sie Melanie dazu, die Verbindung zu Timur aufzulösen, worüber sich die beiden Frauen so heftig zerstritten, dass Melanie zu den Vorwürfen ihrer Mutter schwieg, ihr nach Möglichkeit aus dem Weg ging und bei einer Freundin übernachtete, wann immer sich die Gelegenheit bot.

Theo gelang es nicht, zwischen den beiden Frauen zu vermitteln. Sylvia war zu sehr von der Angst getrieben, Melanie könne sich in eine fremde Kultur verstricken, aus der es kein Entrinnen mehr gäbe, denn Timur und seine Eltern waren bekennende Moslems. Wenn es um das Wohl ihrer Tochter ging, stieß Sylvias Toleranz, die sie ansonsten wie eine Monstranz vor sich hertrug, schnell an ihre Grenzen.

Theo fand die Einwände seiner Frau übertrieben. Er mochte Timur, verabredete sich mit dessen Eltern, um sie kennenzulernen, und verstand sich mit ihnen auf Anhieb. Sylvia hatte sich geweigert, mitzukommen. Sie war davon überzeugt, dass Melanie für Timur nur ein Abenteuer war. „Sie ist für ihn nichts als ein deutsches Flittchen fürs Vergnügen, aber nicht zum Heiraten. Für die Ehe kommt nur eine moslemische Frau in Frage, die als anständig gilt. Denk an meine Worte und bete dafür, dass Melly nicht schwanger wird. Klein-Istanbul und Westend passen nicht zusammen.“

Mit Klein-Istanbul spielte Sylvia auf die Große Marktstraße im Zentrum Offenbachs an, in der zwischen Hintergasse und Kaiserstraße viele Zuwanderer aus der Türkei und dem Mittleren Osten ihre Läden betrieben. Theo hielt diesen Vergleich für völlig überzogen.

Als Melanie dreiundzwanzig Jahre alt war, hielt sie es nicht länger mit ihrer Mutter aus und zog in eine eigene Wohnung in unmittelbarer Nähe der Kunsthochschule. Obwohl Sylvia dagegen protestierte, zahlte Theo die Miete und weiterhin die Studiengebühren. Sylvia nannte ihn naiv und warf ihm vor, Melanie sehenden Auges in ihr Unglück rennen zu lassen. Nichts konnte sie davon überzeugen, dass ein Mensch in Melanies Alter nicht mehr beliebig zu lenken war. Theo weigerte sich, die Überweisungen an Melanie einzustellen. Er wollte nichts anderes, als für seine Tochter da zu sein, egal was passierte. Gleichzeitig hatte er ein schlechtes Gewissen, weil Melanie vorzog, sich mit ihm in einem Café zu treffen, statt die Eltern zu Hause zu besuchen. Es war offensichtlich, dass sie den Vater bevorzugte und der Mutter bewusst aus dem Weg ging, und genauso offensichtlich war für Theo, dass Sylvia deswegen gekränkt war.

Die Beziehung zwischen den Eheleuten kühlte in einem Maße ab, wie es sich Theo niemals hätte vorstellen können. Täglich rechnete ihm Sylvia vor, wie hoch sein moralischer Schuldenberg gewachsen sein würde, sollte Melanie an dieser unsäglichen Liebe scheitern. „Timur wird sie sitzenlassen, selbst wenn sie schwanger werden sollte. Wenn er sie aber heiraten will, muss sie Moslemin werden. Dann verliert sie sämtliche Rechte als Frau und liefert sich mit Haut und Haar seiner Familie aus. Siehst du das denn nicht? Bist du völlig blind geworden?“

Theo war anderer Meinung. Für ihn waren Melanie und Timur zwei junge Menschen in einer modernen Welt, die sich liebten und denen er vertraute, das Beste aus ihrem Leben machen zu wollen. Doch Sylvias hartnäckig verteidigte Ansichten ermüdeten ihn, so dass er weiteren Diskussionen mit ihr auswich und sich damit abfand, im Zustand eines kalten Krieges zu leben.

Kurz vor ihrem dreißigsten Hochzeitstag reichte Sylvia die Scheidung ein. Es brach Theo das Herz. „Dinge verändern sich nun mal,“ versuchte Rick, sein bester Freund, ihn bei einem Kneipentreff zu trösten, klopfte ihm kameradschaftlich auf den Rücken und gab ihm einen traurigen Abend lang ein Bier nach dem anderen aus, während Theo in Erinnerungen an glücklichere Tage versackte. Rick ließ ihn erzählen, obwohl er über das Leben seines Freundes alles Wesentliche zu wissen glaubte.

Es begann damit, dass sich Rick und Theo während ihrer Ausbildung zum Steuerfachangestellten kennenlernten und schnell Freunde wurden. Um zur Büffelei am Schreibtisch einen körperlichen Ausgleich zu haben, meldeten sie sich gemeinsam zu einem Tennislehrgang an. Zu Beginn trainierte sie der Chef der Tennisschule selbst, aber einen Monat später stellte er ihnen wegen Arbeitsüberlastung seine neue Assistentin Sylvia Dankert als Trainerin vor.

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