Humanbiologie

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Aus der Reihe: utb basics
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4 Kultur

4.1 Kulturelle Evolution

Unter dem Begriff „Kultur“ kann man sich Verschiedenes vorstellen und nur einige Definitionen haben einen Bezug zur Biologie und Evolution. Die Definitionen, die die Kultur als ein rein menschliches Phänomen auffassen, sind für Evolutionsbiologen uninteressant. Ein analoges Phänomen wäre die einzigartige unsterbliche Seele: Der Mensch hat sie, Tiere haben sie nicht, also hätte sie nicht graduell entstehen können, sondern von oben auf den Menschen in einem bestimmten Augenblick herabsinken müssen; oder sie ist zumindest zu schnell entstanden und hat keine „Übergangsglieder“ hinterlassen.

Wenn wir die Kultur als einen Komplex von Eigenschaften, Handlungen, Verhaltensmustern, Sozialstrukturen etc. definieren, die im Laufe der Generationen angesammelt werden und die jeweiligen Gesellschaften charakterisieren, wobei die einzelnen Komponenten erlernt und durch Tradition erworben und weitergeben werden, stellen wir fest, dass es sich um ein Phänomen handelt, dem wir auch im Tierreich oft begegnen. Bei manchen reden Zoologen routinemäßig über die Tradition, womit wir die Weitergabe von Memen (Informationen, Kenntnissen, Handlungen, Gebräuchen etc.) durch Nachahmung verstehen (Box 4.1).

Box 4.1

Meme

Eigenschaften und Verhaltensmuster, die durch die biologische Evolution entstanden sind, sind als Gene (oder Gengruppen) niedergeschrieben und werden so weitergegeben. Analog dazu prägte Richard Dawkins (1976) für die Information, die ein Merkmal bedingt, das auf kulturellem Weg weitergegeben wird, die Bezeichnung „Mem“. Ein Mem kann z.B. die Kenntnis darüber sein, wie man Termiten angelt, ein Dialekt (sei es ein Sprachdialekt beim Menschen oder ein Gesangsdialekt mancher Singvögel), der Aufruf „Make love, not war!“ oder die Formel E = mc2. Träger der Gene ist die Nukleinsäure, Träger der Meme sind die Gedächtnisspuren im Gehirn. Gene und Meme haben einige Gemeinsamkeiten: Es gibt sie in verschiedenen Varianten (Mutationen; einige Meme können sehr schnell mutieren – man denke z.B. an so manches Gerücht), sie konkurrieren um den begrenzten Platz im Träger und sie unterliegen der Selektion. Meme können sich in einer Population viel schneller verbreiten als Gene. Wir kennen erfolgreiche, also weit verbreitete und seit Langem bestehende Meme (z.B. Gott) und Meme, die kurzlebig sind (z.B. Witze, die wir bald wieder vergessen). Gene werden von Generation zu Generation kopiert – es sind Replikatoren. Nach der Information, die sie tragen, werden die Interaktoren (Vehikel, Körper der Organismen) gebildet. Eine Änderung des Replikators kann den Interaktor ändern; nicht jedoch umgekehrt. Bei Memen sind Replikator und Interaktor oft identisch – die Individuen kopieren direkt ein Verhalten und nicht irgendein Gen für das Verhalten. Bei Memen können also, anders als bei Genen, erworbene Eigenschaften auch vererbt werden. Meme können zufällig, aber auch gezielt entstehen. Die kulturelle Evolution kann somit darwinistisch wie auch lamarckistisch verlaufen. Einige Meme können sich auch durch die biologische Evolution verbreiten. Klassisches Beispiel hierfür ist das biblische Mem „Seid fruchtbar und mehret Euch“. Auch Meme, die ihren Trägern schaden (auch indirekt, indem sie deren Fitness herabsetzen), können sich verbreiten: Beispiele sind die Nachahmung von altruistischem Verhalten, Drogenkonsum oder Selbstmord.

So singen beispielsweise manche Vögel mit einem Lokaldialekt, den sie von ihrer Umgebung lernen und der ihnen somit nicht angeboren ist. Diverse Griffe, um Nüsse zu öffnen oder Süßkartoffeln zu waschen, verbreiten sich seit ihrer Erfindung innerhalb einer Gruppe, nicht nur bei uns Menschen, sondern auch bei Affen. Ein Buckelwal in Maine entwickelte um 1981 eine spezielle Fangmethode, um effektiv kleine Fische zu jagen. Dies wurde seitdem fast von der ganzen lokalen Population gelernt und übernommen. Wir können daher den Begriff der „Kultur“ nicht nur den Gesellschaftswissenschaften überlassen, die sich nur mit dem Menschen befassen, weil wir zwischen den beschriebenen „kulturellen Errungenschaften“, ob bei Menschen oder Tieren, keinen qualitativen Unterschied sehen.

Der Mensch hat sicherlich mehr Kultur als der Schimpanse hervorgebracht, aber gerade deswegen ist es für die Biologen sinnvoll, die Kultur eher bei Schimpansen als bei Menschen zu erforschen. Die Schimpansen sind unsere nächsten Verwandten. Unsere evolutionären Linien haben sich irgendwann 7 mya, also sehr früh, getrennt, ihre Kultur ist entfaltet und zweifellos zum großen Teil homolog mit der menschlichen Kultur (also vererbt von einem gemeinsamen Vorfahren). Die Schimpansenkultur kann uns also viel über die Herkunft der menschlichen Kultur sagen. Natürlich kann jeder Unterschied zwischen uns und den Schimpansen als unsere oder ihre evolutionäre Neuheit interpretiert werden (wir schreiben Romane, sie nicht; also entweder hat sie auch unser gemeinsamer Vorfahr nicht geschrieben und wir haben es gelernt; oder er hat sie geschrieben und die Schimpansen haben es verlernt). Das Verhalten der Schimpansen kann nicht so einfach als Modell des Verhaltens unserer Vorfahren übernommen werden, aber eine detaillierte phylogenetische Analyse von Verhaltenstypen bei verschiedenen Hominiden (von Orang-Utans und Gorillas über die Schimpansen bis zu den Menschen) kann uns so einen evolutionären Vergleich ermöglichen.

Die Schimpansenkultur schließt den Gebrauch und die Herstellung von Werkzeugen (Zerschlagen der Nüsse, Fang der Termiten und Ameisen, Öffnen der Bienenstöcke, Jagd mit Speeren), ihr Sozialverhalten (Begrüßung, „Regentänze“, gegenseitige Aufforderungen zur Fellpflege), persönliche Hygiene (zur Körperreinigung gebrauchte Zweige und Blätter) sowie eine Art Medizin (Heilkräuter gegen Parasiten und Infektionen, und dies einschließlich Mark diverser Stängel und Stämme – also schwer erreichbare Heilmittel) ein. Schimpansen nutzen oft die gleiche Medizin wie die sympatrisch lebenden Populationen von Menschen. Wir kennen insgesamt ca. 20 Typen von Schimpansenwerkzeugen einschließlich der Werkzeuge, die aus mehreren Elementen zusammengestellt werden (Hammer und Amboss für die Nüsse; „Blattschwämme“ auf einer Stange, um Wasser aus den Baumhöhlen zu gewinnen), was im Umfang in etwa dem Inhalt der Tasche eines Installateurs entspricht. Zum Vergleich: Tasmanier nutzten nur 24 Typen von Werkzeugen (Holzlanzen, Keule, Meißelstöcke, Holzspachtel, Graskörbe, Ledersäcke, Wassergefäße aus dem Tang, Schürhaken, Mäntel aus Känguruleder, Muschelhalsbänder, Kanu und Flöße, Hütten, selten auch Steinwerkzeuge). Wir möchten aber betonen, dass Tasmanier nicht eine primitive, sondern nur eine sekundär vereinfachte Kultur des modernen Menschen repräsentierten (australische einheimische Kultur, verarmt durch ca. 10000 Jahre andauernde Isolation auf einer nicht zu großen, wenig besiedelten und unwirtlichen Insel). Nichtsdestoweniger sagt dies jedoch etwas darüber aus, wie technologisch einfach auch die moderne menschliche Kultur sein kann.

4.2 Genokulturelle Koevolution

Aus der Tatsache, dass wir von unseren Eltern einen wesentlichen Teil unserer Eigenschaften vererben, folgt noch nicht der genetische Determinismus, denn die Genetik stellt nur eine von vielen Möglichkeiten dar, wie man die Eigenschaften von Vorfahren erwerben kann. In den Familien, wo die Eltern Zähne putzen, putzen mit großer Wahrscheinlichkeit auch die Kinder ihre Zähne, obwohl es, kein „Gen für das Zähneputzen“ gibt. Die Erblichkeit der Hochschulausbildung ist sehr hoch, reiche Eltern haben auch reiche Kinder, Adlige gebären adlige Nachkommen, und einer schwäbischen Familie wird nur selten ein preußisches Kind geboren. In der Praxis ist es allerdings sehr schwierig die genetische und kulturelle Erblichkeit voneinander zu unterscheiden, falls wir von dem untersuchten Phänomen nicht viel wissen.

Kulturphänomene werden entweder vertikal (ausschließlich von Eltern auf die Kinder) oder horizontal (das, was die Kinder z.B. von Lehrern oder während der Pause auf der Schultoilette von ihren Mitschülern oder zu Hause aus dem Fernsehen erfahren) vererbt. Manche „Persönlichkeitszüge“ werden vertikal übertragen, die meisten „Meinungen“ erwerben wir horizontal. Aber auch manche „biologische“ Eigenschaften entstehen erst während der individuellen Entwicklung (einige Aspekte des Immunsystems oder Papillarlinien auf den Fingern), sodass wir sie eigentlich nicht vererben. Und Stücke fremder DNA, die in unsere Genome durch Viren eingeschleppt werden, unterscheiden sich, aus dem Gesichtspunkt der Informationsübertragung, nicht von verschiedenen Ideen und politischen Meinungen. Als in der US-amerikanischen Population die Korrelation zwischen verschiedenen Eigenschaften von Eltern und Kindern untersucht wurde, wurden folgende Werte festgestellt (100% bedeutet volle Kongruenz): 71% für die Religion, 61% für politische Meinungen, 51% für die Körperhöhe, 49% für IQ, 42% für die Unterarmlänge … kurz und gut, erkennen, was Genetik und was Kultur (Erziehung) ist, kann man anhand der Erblichkeit nicht.

Was sich aber wesentlich unterscheidet, sind unsere Erwartungen a priori: Wir glauben automatisch, dass unser Verhalten kulturell vererbt wird, und verlangen für diese Behauptung keine Beweise. Diejenigen, die jedoch behaupten, dass menschliches Verhalten genetisch vererbt ist, müssen komplizierte Analysen vorlegen (vergleiche Box 4.2).

Box 4.2

Gene oder Erziehung?

Nehmen wir an, dass die Kinder aus geschiedenen Ehen später als Erwachsene mit höherer Wahrscheinlichkeit sich selbst scheiden lassen als Kinder aus intakten, harmonischen Familien. Wir würden dazu neigen, dieses Phänomen durch die kulturelle Erblichkeit zu erklären (schlechte Erziehung, Mangel an positiven Vorbildern). Der Haken liegt darin, dass ein „Gen für kurzfristige Familienbeziehungen“, wenn es eines gäbe, dasselbe verursachen würde (die Kinder würden es von ihren Eltern natürlich vererben) und darüber hinaus würde es sich wahrscheinlich erfolgreich verbreiten. (Wer treu ist, würde die Ehe z.B. im Alter von 25 schließen, würde drei Kinder zeugen und im Alter von 35 auf weitere Fortpflanzung verzichten. Wer eher untreu ist, wird im Alter von 35 Jahren sich scheiden, eine neue Ehe schließen und weitere zwei Kinder haben: das „Gen für Treue“ hat in der neuen Generation drei Träger, das „Gen für Untreue“ hat 5 Träger – ist also erfolgreicher.) Wir behaupten nicht, dass die Scheidungsfreudigkeit genetisch vererbt ist – nur machen wir darauf aufmerksam, dass die Beweisbürde der Genetik und der Kultur sehr asymmetrisch wahrgenommen wird. Um aber bei diesem Beispiel zu bleiben – auch falls das Mem für Scheidung sich durch die Nachahmung des Verhaltens der Eltern verbreitet, kann seine Verbreitung auch dadurch verstärkt werden, dass mehrfach geschiedene Eltern üblicherweise mehr Kinder haben (und damit mehr Kinder ein „schlechtes“ Vorbild haben). Also Kultur und Biologie beeinflussen sich auf jeden Fall.

 

Kultur und Genetik sind historische Phänomene, sie unterliegen einer eigenen Evolution und man kann sich mehrere mögliche Kombinationen dieser Phänomene vorstellen. Erstens können genetische und kulturelle Evolution voneinander unabhängig sein, was bestimmt am häufigsten der Fall ist.

Wir kennen jedoch auch eine Reihe von Fällen einer engen und schwierig sezierbaren genokulturellen Koevolution. So finden wir beispielsweise im westafrikanischen Sierra Leone eine nachweisbare Korrelation zwischen der Gewohnheit Yams anzubauen und dem Vorkommen der Sichelzellanämie, einer besonderen Form der Hämoglobinstörung, berühmt dadurch, dass sie in der menschlichen Population durch die Malaria erhalten wird. Der Mechanismus dieser Krankheit ist seit langem bekannt – dem Menschen mit dem mangelhaften Hämoglobin geht es nicht bestens, aber in seinen sichelartigen Erythrozyten können sich die Plasmodien, die Verursacher der Malaria, nicht vermehren. Wo es viele Plasmodien und viele Mücken gibt, sterben viele Menschen mit gesundem Hämoglobin infolge der Malaria, während die Menschen mit der Sichelzellanämie überleben. Bis hier reine Biologie, keine Kultur, aber nichtsdestoweniger ist das Kultivieren von Yams eine offensichtlich kulturelle, darüber hinaus nicht besonders alte Angelegenheit. Die Verknüpfung von Kultur und Genetik ist hier einfach entlang der folgenden Strecke gelaufen: Waldrodung und Anbau von Yams → Kumulation von Regenwasser → viele Mücken und Malaria → Verbreitung des Sichelzellallels (siehe auch Abb. 4.1).


Abb.4.1: Häufigkeit des Vorkommens der Sichelzellanämie-Erkrankung in unterschiedlichen Ländern. Angegeben ist die Zahl der Neugeborenen mit dieser Erkrankung pro 1000 lebende Geburten (nach WHO-Bericht 1996).

Die Verknüpfung von Kultur und Genetik kann auch adaptiv sein. Hierzu zählen einige Nahrungstabus (Box 4.3), Inzesttabu, hygienische Rituale usw. Die ersten Versuche, eine genetische Anpassung an eine spezialisierte Ernährung zu identifizieren, haben sich auf Enzyme konzentriert, die eine gut charakterisierte und hochspezifische funktionelle Rolle im Nährstoff-Stoffwechsel haben. Bisher stellen die Muster an genetischer Variation in den Genen, die für die Enzyme Laktase (LCT) und Amylase (AMY1) kodieren, die am besten interpretierbaren Beispiele für genetische Anpassungen an Nahrungsspezialisierungen im menschlichen Metabolismus dar. Ein Beispiel solcher biologischen Anpassung, die durch kulturelle Änderung hervorgebracht wurde, ist die Fähigkeit einiger menschlicher Populationen Laktose auch im erwachsenen Alter zu verdauen (und somit Milch zu trinken). Diese korreliert mit der Domestikation der Huftiere und der Geschichte der Weidewirtschaft. In einem Versuch, die Geschichte des Selektionsdrucks auf den Laktasepersistenz- (LP-) Phänotyp aufzuklären, haben mehrere Autoren das Alter der jüngsten gemeinsamen Vorfahren jeder einzelnen LP-Mutation geschätzt. Alle Schätzungen weisen auf relativ junge Daten hin: 8000–9000 Jahre für die europäische Mutation, 2700–6000 Jahre für die afrikanischen Mutationen, und 4000 Jahre für die zentralasiatischen Mutationen. (Box 4.4, Abb. 4.2, Tab. 4.1).


Abb. 4.2: Häufigkeit der Menschen in der autochthonen Population, die als Erwachsene Milch trinken können, d.h. Laktase produzieren (nach Curry 2013).

Box 4.3

Nahrungstabus

Nahrungstabus sind Gewohnheiten, Regeln oder Gesetze, die festlegen, dass bestimmte Organismen (Pilze, Pflanzen, Tiere) oder ihre Teile und Produkte von einer bestimmten sozialen Gruppe, in einem bestimmten Kulturraum bzw. nur in bestimmten Lebensphasen nicht verzehrt werden (dürfen), obwohl sie prinzipiell essbar sind und von anderen Gruppen, in anderen Kulturen, zu anderen Zeiten auch gegessen werden. Solche Tabus sind ein interessantes Phänomen, an dem sich die Interaktionen zwischen Biologie und Kultur gut illustrieren lassen. Diese Verbote können eine rationale, adaptive Ursache haben, oft aber handelt es sich um kulturell bedingte symbolische Entscheidungen, die nicht adaptiv, manchmal sogar maladaptiv sind.

Nahrungsverbote und -meidungen sind soziokulturell erworben und unterscheiden sich in verschiedenen Kulturen, Nationen oder Gruppen. Die Nahrungsauswahl bei Menschen wird nicht instinktiv, sondern durch Lernen (Prägung und Tradition) gesteuert. Kleinkinder sind sehr explorativ und versuchen, alles in den Mund zu stecken und durch Schmecken und Riechen zu untersuchen. Ekelgefühle werden erworben – entweder aufgrund der eigenen negativen Erfahrung (klassische Konditionierung) oder aufgrund des operanten Lernens.

Der Verzehr von Hundefleisch (neulich auch Pferdefleisch) gilt in westlichen Industrieländern als Tabu, obwohl für unsere Vorfahren und in manchen Kulturkreisen auch Hund und Pferd wichtige Fleischlieferanten waren bzw. heute noch sind. Ähnliches gilt auch für Nagetiere (nicht jedoch für Hasenverwandte), für Insekten (nicht jedoch für Krebstiere) usw. Auch den Ursprung des Verbots, Schweinefleisch in jüdischen und muslimischen Kulturkreisen zu essen, kann man nicht rational durch gesundheitlich-prophylaktische Maßnahmen erklären, trotz solchen, häufig tradierten, Erklärungsversuchen. Archäologische Funde zeigen, dass im Nahen Osten und auch in Ägypten Schweine domestiziert wurden und lange auch gehalten wurden. Erst später, im Kontext der Entwaldung der Region, wurden Schweine mehr und mehr zu Nahrungskonkurrenten und auch zum Symbol der Sesshaftigkeit der Menschen und damit zum Symbol der mit den nomadenhaften Hirten konkurrierenden sesshaften Ethnien. Auch das bekannte hinduistische Tabu, Rindfleisch zu essen, ist religiös begründet und dient der Stärkung der eigenen Identität der Hindus und der Abgrenzung von anderen Religionsgruppen.

Kannibalismus (also Verzehr von Artgenossen) wurde und wird in den meisten (doch nicht in allen) Kulturen abgelehnt. Im Allgemeinen ist Kannibalismus im Tierreich selten – es handelt sich in diesem Fall offensichtlich um eine evolutionär begründete stabile Strategie; würden sich alle Artgenossen gegenseitig als Nahrungsquelle töten, wäre sich keiner von ihnen seines Lebens sicher. Der sich in einigen Kulturen etablierte Kannibalismus beim Menschen hat(te) in den meisten Fällen eher eine rituelle Funktion als eine Nahrungsfunktion.

Box 4.4

Milchverdauung und Alkoholverträglichkeit

Milch, eine besondere Nahrungsquelle junger Säugetiere, bedarf auch besonderer Verdauungsenzyme. Das Laktose (Milchzucker) spaltende Enzym Laktase ist ein sehr empfindliches Enzym, weshalb nach Darminfektionen ein Laktasemangel entstehen kann. Während Säuglinge Laktase in ausreichender Menge produzieren, wird nach der Entwöhnung eines Säugetiers die Laktaseproduktion eingestellt. Durch die Mutation eines Kontrollgens können viele Menschen lebenslang Laktase produzieren. Unter diesem Blickwinkel ist also der Laktasemangel bei vielen erwachsenen Menschen nicht als genetischer Defekt, sondern als normaler Zustand zu werten. Es gibt auf der Welt mehr Menschen mit Milchzuckerintoleranz als Menschen, die unproblematisch Milchzucker vertragen. Die entsprechende Mutation hat sich als Anpassung an die bequeme Nahrungsquelle erst bei Hirten in prähistorischen und historischen Zeiten ausgebreitet. Während unter Europäern ca. 30% der Menschen den genetisch bedingten Laktasemangel aufweisen, sind es in Afrika, Ost- und Südostasien, Australien und Ozeanien 70%. Bei der Käseherstellung wird Laktose von Bakterien vergoren, weshalb auch Menschen mit Laktasemangel Käse verdauen können (sofern der Fermentationsprozess ausreichend lange geführt wurde).

Ganz ähnlich beruht die Fähigkeit, Alkohol abzubauen, auf der Überproduktion des Enzyms Alkoholdehydrogenase mithilfe einer Gengruppe auf dem 4. Chromosom. Die meisten Menschen sind in der Lage, die Produktion dieses Enzyms zu steigern. Dies war bei den sesshaften Bauern eine nützliche Eigenschaft. Fermentierte Flüssigkeiten sind meist frei von Parasiten und bedrohlichen krankheitserregenden Mikroorganismen, die in den Wasserquellen der menschlichen Siedlungen leben. Würde heute irgendwo die hygienische und sichere Trinkwasseraufbereitung und -versorgung versagen, wären Seuchen unvermeidbar. Touristische Führer raten uns beim Besuch von Entwicklungsländern, kein (unbehandeltes) Wasser zu trinken. Ohne chemische Wasseraufbereitung ist gekochtes oder durch Fermentation behandeltes Wasser die einzige sichere Wasserquelle. Die Nomaden (Jäger und Sammler) hatten keine landwirtschaftlichen Produkte, die man fermentieren könnte. Allerdings brauchten sie das fermentierte Wasser nicht – die Populationsdichte war gering und die natürlichen Gewässer sicher. Es sollte uns nicht überraschen, dass das „Feuerwasser“ (also scharfes, im Hals „brennendes“ Wasser) besonders den „Naturvölkern“, wie den Indianern Nordamerikas, den Inuit oder den australischen Aborigines, bedrohlich erscheint.

Tab. 4.1: Gene, die einer rezenten Selektion ausgesetzt wurden (nach Laland et al. 2010).


GenPhänotypangenommener kultureller Selektionsdruck
LCT, MAN2A1, SI, SLC27A4, PPARD, SLC25A20, NCOA1, LEPR, LEPR, ADAMTS19, ADAMTS20, APEH, PLAU, HDAC8, UBR1, USP26, SCP2, NKX2-2, AMY1, ADH, NPY1R, NPY5RVerdauung von Milch und Milchprodukten, Metabolismus von Kohlenhydraten, Stärke, Proteinen, Lipiden und Phosphaten, AlkoholmetabolismusMilchviehzucht, Milchnutzung, Nahrungspräferenzen, Alkoholkonsum
Cytochrome P450 Gene (CYP3A5, CYP2E1, CYP1A2 und CYP2D6)Detoxifikation von sekundären pflanzlichen VerbindungenDomestikation von Pflanzen
CD58, APOBEC3F, CD72, FCRL2, TSLP, RAG1, RAG2, CD226, IGJ, TJP1, VPS37C, CSF2, CCNT2, DEFB118, STAB1, SP1, ZAP70, BIRC6, CUGBP1, DLG3, HMGCR, STS, XRN2, ATRN, G6PD, TNFSF5, HbC, HbE, HbS, Duffy, α-globinImmunität, Reaktion auf Pathogene; Resistenz für Malaria und andere ansteckende KrankheitenVerbreitung, Völkerwanderung, Landwirtschaft, Aggregation und folgende Exposition gegenüber neuen Pathogenen, Viehhaltung
LEPR, PON1, RAPTOR, MAPK14, CD36, DSCR1, FABP2, SOD1, CETP, EGFR, NPPA, EPHX2, MAPK1, UCP3, LPA, MMRN1Energiemetabolismus, Wärme- oder Kältetoleranz; Hitzeschock-GeneVerbreitung und folgende Exposition in neuen Klimazonen
SLC24A5, SLC25A2, EDAR, EDA2R, SLC24A4, KITLG, TYR, 6p25.3, OCA2, MC1R, MYO5A, DTNBP1, TYRP1, RAB27A, MATP, MC2R, ATRN, TRPM1, SILV, KRTAPs, DCTsichtbarer morphologischer Phänotyp (Hautpigmentierung, Haarbeschaffenheit, Augen- und Haarfarbe, Sommersprossen)Verbreitung und lokale Anpassung und/oder sexuelle Selektion
CDK5RAP2, CENPJ, GABRA4, PSEN1, SYT1, SLC6A4, SNTG1, GRM3, GRM1, GLRA2, OR4C13, OR2B6, RAPSN, ASPM, RNT1, SV2B, SKP1A, DAB1, APPBP2, APBA2, PCDH15, PHACTR1, ALG10, PREP, GPM6A, DGKI, ASPM, MCPH1, FOXP2Nervensystem, Hirnfunktion und -entwicklung; Sprachfähigkeiten und Vokalisationkomplexe kognitive Fähigkeiten; Kultur, Sozialintelligenz, Sprache und Sprechen
BMP3, BMPR2, BMP5, GDF5SkelettentwicklungVerbreitung und sexuelle Selektion
MYH16, ENAMKiefermuskelfasern, ZahnschmelzdickeErfinden von Kochen, Ernährung
Volle Namen der oben angegebenen Gene. Da englische Namen üblicher sind bzw. die Abkürzungen von ihnen abgeleitet sind, werden hier englische Namen genannt.ADAMTS, ADAM metalloproteinase with thrombospondin motif; ADH, alcohol dehydrogenase; ALG10, asparagine-linked glycosylation 10; AMY1, salivary amylase 1; APEH, N-acylaminoacyl-peptide hydrolase; APOBEC3F, apolipoprotein B mRNA-editing enzyme, catalytic polypeptide-like 3F; APBA2, amyloid β precursor protein-binding, family A, member 2; APPBP2, amyloid β precursor protein-binding protein 2; ASPM, abnormal spindle, microcephaly associated; ATRN, attractin; BMP, bone morphogenetic protein; CCNT2, cyclin T2; CDK5RAP2, cyclin dependent kinase 5 regulatory subunit-associated protein 2; CENPJ, centromere protein J; CETP, cholesteryl ester transfer protein; CSF2, colony stimulating factor 2; CUGBP1, CUG triplet repeat, RNA-binding protein 1; CYP, cytochrome P450; DAB1, disabled homologue 1; DCT, dopachrome tautomerase; DEFB118, defensin β118; DGKI, diacylglycerol kinase ι; DLG3, discs, large homologue 3; DSCR1, Down syndrome critical region 1; DTNBP1, dystrobrevin-binding protein 1; EDAR, ectodysplasin A receptor; EGFR, epidermal growth factor receptor; ENAM, enamelin; EPHX2, epoxide hydrolase 2; FABP1, fatty acid-binding protein 1; FCRL2, Fc receptor-like 2; FOXP2, forkhead box P2; G6PD, glucose-6-phosphate dehydrogenase; GABRA4, γ-aminobutyric acid A receptor, subunit α4; GDF5, growth differentiation factor 5; GLRA2, glycine receptor α2; GRM, glutamate receptor, metabotropic; Hb, haemoglobin; HDAC8, histone deacetylase 8; HMGCR, HMG coenzyme A reductase; IGJ, immunoglobulin joining chain; KRTAP, keratin-associated protein; LCT, lactose; LEPR, leptin receptor; LPA, lipoprotein A; MAN2A1, mannosidase, alpha, class 2A, member 1; MAPK, mitogen-activated protein kinase; MATP, membrane-associated transporter protein; MC, melanocortin; MCPH1, microcephalin 1; MMRN1, multimerin 1; MYH16, myosin, heavy chain 16; MYO5A, myosin VA; NCOA1, nuclear receptor coactivator 1; NPPA, natriuretic peptide precursor A; NPY, neuropeptide Y; OCA2, oculocutaneous albinism II; OR, olfactory receptor; PCDH15, protocadherin 15; PHACTR1, phosphatase and actin regulator 1; PLAU, plasminogen activator, urokinase; PON1, paraoxonase 1; PPARD, peroxisome proliferator-activated receptor δ; PREP, prolyl endopeptidase; PSEN1, presenilin 1; RAG, recombination activating gene; RAPSN, receptor-associated protein of the synapse; RAPTOR, regulatory-associated protein of mTOR; SCP2, sterol carrier protein 2; SI, sucrase-isomaltase; SILV, silver homologue; SKP1A, S-phase kinase-associated protein 1; SLC, solute carrier; SNTG1, syntrophin β1; SOD1, superoxide dismutase 1; STAB1, stabilin 1; STS, steroid sulfatase; SV2B, synaptic vesicle glycoprotein 2B; SYT1, synaptotagmin 1; TJP1, tight junction protein 1; TNFSF5, tumour necrosis factor superfamily, member 5; TRPM1, transient receptor potential cation channel, subfamily M, member 1; TSLP, thymic stromal lymphopoietin; TYR, tyrosinase; TYRP1, tyrosinase-related protein 1; UBR1, ubiquitin protein ligase E3 component n-recognin 1; UCP3, uncoupling protein 3; USP26, ubiquitin-specific peptidase 26; VPS37C, vacuolar protein sorting 37 homologue C; XRN2, 5’–3’ exoribonuclease 2; ZAP, ζ-associated protein kinase.

Die Verknüpfung von Kultur und Genetik muss nicht ausschließlich durch eine funktionelle Verbindung zweier Phänomene verursacht werden, sondern kann auch durch eine intergenerationelle Übertragung von zwei sonst unabhängigen Einheiten entstehen. Das Chromosom Y wird ausschließlich von Vätern auf die Söhne vererbt; die Frauen haben es nicht, also von der Mutter kann man es nicht bekommen. Falls es zu keiner Mutation kommt (und das passiert üblicherweise nicht), würde jeder Mann das identische Y-Chromosom seines Vaters, Großvaters usw. tragen. Eine fast gleiche („patrilineare“) Vererbung haben in manchen Gesellschaften (z.B. bei uns) auch die Familiennamen (Abb. 3.4). Man kann also annehmen, dass Männer mit dem gleichen Familiennamen auch gleiche Y-Chromosomen tragen. Und es ist wirklich so – eine Studie in Großbritannien zeigte, dass sich 70% der Familiennamen genetisch signifikant von einer zufälligen Kontrolle unterscheiden und dass manche, insbesondere seltene Familiennamen (z.B. Attenborough) genetisch fast uniform sind. Diese Entdeckung hat natürlich eine weitgehende praktische Bedeutung, ob es sich dabei um einige seltene Erbkrankheiten handelt oder um Anwendungen für die Kriminalistik. Für uns ist nun wichtig, sich darüber klar zu werden, dass der Familienname natürlich nicht durch irgendein Gen auf dem Y-Chromosom kodiert ist. Der Familienname ist eine rein kulturelle Angelegenheit, die mit der Genetik nichts zu tun hat, außer einem identischen Vererbungsprinzip (Vater → Sohn), was vollkommen zur Entstehung einer engen genokulturellen Verbindung reicht.

 

Kultur kann für das Verbreiten von Genen auch schädlich sein – wie es im Fall selbstmörderischer Kulte oder des Zölibats offensichtlich wird. Ein „Gen für Zölibat“, wenn es existieren würde, würde sehr schnell untergehen; das Zölibat kann sich nur als ein kulturelles Phänomen verbreiten – es „infiziert“ Personen, die nicht mit dem Menschen verwandt sind, der als „Infektionsquelle“ dient. Die im Zölibat lebenden Priester sind nicht Nachkommen eines im Zölibat lebenden Vaters. Sie sind nur durch Beobachtung oder durch Interaktion mit anderen Menschen zum Schluss gekommen, dass das Zölibat eine gute Idee ist. Die Kultur treibt auch demografische Änderungen, die uns heute umgeben: Reiche ausgebildete Leute haben wenig Kinder – wahrscheinlich, weil sie viele andere, kulturell begründete und sozial verlockende Dinge haben, mit denen sie sich beschäftigen können. Wir könnten dies als eine Änderung der Fortpflanzungsstrategien verstehen: von der „r-Strategie“ (viele Kinder und daher nur eine beschränkte Fürsorge, die auf dem Glauben beruht, dass es irgendwie schon klappt) zu einer „K-Strategie“ (wenige Kinder und anspruchsvolle Fürsorge, die das Risiko minimiert, ein Kind zu verlieren). Die Beschränkung der Fortpflanzung könnte nur scheinbar sein, denn zu derselben Zahl an Nachkommen könnte man auch auf einem anderen Weg (durch erhöhte Mortalität der Kinder) gelangen. Aber so einfach ist es nicht: Menschen mit weniger Kindern haben auch weniger Enkelkinder und ihre Gene (besser gesagt Allele) verschwinden so allmählich aus der menschlichen Population. Diese „Meuterei“ der Kultur gegen die Interessen der Gene (was letztendlich zum Verschwinden der Gene und damit auch zum gerechten Untergang der jeweiligen Kultur führen wird) ist für manche Biologen überraschend, denn sie tendieren dazu zu glauben, dass die „Kultur an der Leine der Gene hängt“. Der Grund dafür liegt vor allem darin, dass die kulturelle Evolution viel schneller als die genetische verläuft: Kulturphänomene verbreiten sich horizontal, sind also nicht davon abhängig, dass sie die biologische Fitness ihres Trägers steigern, und sie verbreiten sich direkt, „lamarckistisch“, und sind daher unabhängig vom darwinschen Evolutionsmechanismus (zufällig entstandene Variabilität und folgende, nichtzufällige Selektion).

Die Kultur ist letztendlich doch ein außerordentlich interessantes biologisches Phänomen.

4.3 Entstehung der modernen menschlichen Kultur

Ein gut bekanntes und außerordentlich bedeutendes Ereignis in der Geschichte der Menschheit ist die jungpaläolitische Revolution um 50 tya (siehe auch Tab. 2.2), auch bekannt als der „große Sprung nach vorn“. In dieser Zeit erscheinen archäologisch überlieferte Hinweise für den Einsatz feiner Werkzeuge, für Fischfang, Ferntauschhandel, für die Verwendung von Farben und Schmuck, für bildende Kunst, Spiele und Musik sowie Beerdigungen.

Allgemein spiegeln diese Phänomene vermutlich die Weiterentwicklung des abstrakten Denkens, des symbolischen Verhaltens (Schmücken des Körpers, Kunstwerke, Beerdigungen) sowie ökonomische und technologische Innovationen und Verhaltensneuerungen wider. Es wurde auch spekuliert, dass diese kulturelle Revolution letztendlich ausgelöst wurde durch grundlegende Mutationen in den Genen, die das Kulturverhalten steuern. In Wirklichkeit handelte es sich jedoch wahrscheinlich um keine „Revolution“. Als „Sprung nach vorne“ sieht man sie nur aus der Perspektive der europäischen archäologischen Überlieferung. Die Ankunft der kulturell so ausgestatteten Menschen nach Europa war die Mündung einer 200000 Jahre anhaltenden mosaikartigen Kulturevolution, die sich in Afrika abspielte.

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