Humanbiologie

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Aus der Reihe: utb basics
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3.8 Besiedlung Europas

Die Besiedlung des eurasiatischen Inlands hat sich in der Geschichte der menschlichen Population auffällig spät ereignet. Die Menschen haben Australien früher als Europa oder Zentralasien besiedelt. Die Tür ins Innere des Kontinents haben erst klimatische Veränderungen ca. 50 tya geöffnet. Der Weg nach Europa führte über den Nahen Osten, den zukünftigen fruchtbaren Halbmond, Anatolien und Transkaukasien (Abb. 3.9 und 3.10). Im Verlauf des letzten Glazialmaximums (27–16 tya) hat sich die europäische Population wieder in einige wenige Südrefugien (balkanische, italienische, ukrainische, franko-kantabrische) zurückgezogen, sodass die heutige Besiedlung Europas die Folge der postglazialen Re-Expansion (15–10 tya) ist (Abb. 3.11). Etwas später (10–8 tya) begann sich die Landwirtschaft aus dem fruchtbaren Halbmond nach Europa auszubreiten (Abb. 5.2). Ca. 7 tya begann schließlich die Migration der Bronze- und Eisentechnologie, welche vermutlich auch für die Verbreitung der indoeuropäischen Sprachen verantwortlich ist (Kapitel 4.7.2).


Abb. 3.11: Besiedlung Europas aus dem Gebiet des Nahen Ostens (zukünftiger fruchtbarer Halbmond, grün) und Re-Expansion aus den Südrefugien (rot, von West nach Ost: franko-kantabrische, italienische, balkanische, ukrainische).

Die Populationsgeschichte Europas ist außerordentlich interessant, da es eine große Unsicherheit, insbesondere über die Ausbreitung von technologischen und ökonomischen Neuheiten auf diesem Kontinent gibt. Das gegenwärtige Europa ist ein universales Agrargebiet, aber gleichzeitig weiß man, dass die Landwirtschaft vom Südosten, aus der Region des fruchtbaren Halbmondes, hierhergekommen ist, während hingegen die Besiedlung Europas viel älter ist. Auf welche Art und Weise sich das paläolithische Europa der Jäger und Sammler (z.B. Aurignacien-Kultur der „Cromagnon-Menschen“ und die jüngere Gravettien-Kultur der „Mammut-Jäger“ in Mähren) (Abb. 3.12, Tab. 2.2) in das neolithische, also landwirtschaftliche Europa verändert hat, ist bis heute unklar.


Abb. 3.12: Lokalitäten von Höhlen mit prähistorischen Gemälden der „Cromagnon-Menschen“.

Im Prinzip kann man sich drei Möglichkeiten vorstellen:

 organisierte Migrationen (Einwanderung) fremder Völker,

 demische Diffusion (die neue Technologie verbreitet sich zusammen mit neuen Genen, aber es handelt sich um eine allmähliche, unauffällige Diffusion einzelner Familien oder kleiner Gruppen),

 kulturelle Diffusion (neue Technologie verbreitet sich allein durch Nachahmung von Nachbarn, ohne dass ein bedeutender Genfluss stattfinden würde).

Untersuchungen der mtDNA heutiger Populationen führten zum Schluss, dass die gesamte europäische Population alt und vorlandwirtschaftlich ist und dass nur einer der sieben Haupt-Haplotypen (T oder „Tara“), der ca. 20% der europäischen Population repräsentiert, aus dem Nahen Osten stammt und mit der Landwirtschaft gekommen ist (Box 3.5). Diese Schlussfolgerung war nicht ganz im Einklang mit den Untersuchungen des Y-Chromosoms, die auf die Existenz von drei Haplotypen hinweisen: nahöstlicher, zentralasiatischer und osteuropäischer Herkunft. Auch die kraniometrischen Daten zeigten, dass die Landwirte sich merklich von den Jägern und Sammlern unterschieden, was die Vorstellung einer Kontinuität der Jäger/Sammler- und Bauernethnien infrage stellt. Die Archäologie belegt die schnelle Verbreitung der Landwirtschaft und die Absenz von „Übergangskulturen“ und eine langfristige Koexistenz der Paläolithiker und der Neolithiker. Man kann also zusammenfassen, dass die mtDNA die Vorstellung der Kulturdiffusion unterstützte, während andere Ansätze eher die demische Diffusion annahmen, die übrigens allgemein besser vorstellbar ist (es ist äußerst schwierig die Erfindungen und die Kultur der Nachbarn langfristig zu übernehmen und gleichzeitig sexuellen Abstand zu wahren).

Tab. 3.1: Übersicht über die europäischen Haplogruppen mtDNA.


Haplogruppe mtDNA (Urmutter)UrsprungsregionAlter (tya)Häufigkeit in Europa
T (Tara)fruchtbarer Halbmond1000020%
V (Velda)iberische Halbinsel1500010%
K (Katrine)Norditalien120006%
H (Helena)Südwestasien, Kaukasus2700039%
X (Xenia)Asien300002%
J (Jasmine)Westasien, Kaukasus4500012%
U (Ursula)Westasien5500011%

Box 3.5

Sieben Töchter Evas

Sieben Töchter Evas (2001) ist ein populärwissenschaftliches Bestseller-Buch des renommierten englischen Humangenetikers Bryan Sykes (Oxford University). In diesem Buch beschreibt Sykes diverse Aspekte und Forschungsergebnisse der mitochondrialen Genetik. Der Titel des Buches ist abgeleitet von den Ergebnissen der Analysen der mtDNA gegenwärtiger Europäer. Nach diesen Ergebnissen lassen sich die Europäer in sieben Gruppen, sogenannte mitochondriale Haplogruppen, einteilen. Jede Haplogruppe wird durch einen Satz von Mutationen mitochondrialer DNA definiert und lässt sich in der mütterlichen Linie verfolgen bis zu einer urgeschichtlichen Frau, die Sykes als „Urmutter“ bezeichnet. Da die Mutationsrate mitochondrialer DNA relativ gering ist (einmal alle 20000 Jahre), lässt sich dadurch das Alter der jeweiligen „Urmutter“, bzw. das der Haplogruppen, bestimmen.

Die „Urmütter“ erhielten die Namen Helena, Jasmine, Katrine, Tara, Ursula, Velda und Xenia nach den anfänglichen Kode-Buchstaben der jeweiligen Haplogruppen (Tab. 3.1). Bis auf T(ara) sind alle Haplogruppen alt (55000–12000 Jahre) (siehe unten) und stammen somit von Jägern und Sammlern ab. Nur die Haplogruppe T(ara) ist jünger als 10000 Jahre und stammt von der Bauern-Population aus dem fruchtbaren Halbmond ab. Zu dieser Gruppe gehören 20% der heutigen Europäer (darunter auch Bryan Sykes selbst). Die „Urmütter“ lebten also in unterschiedlichen Regionen und nicht gleichzeitig. Alle diese Frauen teilten sich aber einen gleichen Vorfahren, die „Eva der Mitochondrien“ (Box 3.2).

Die Annahme von nur sieben mitochondrialen Linien moderner Europäer ist wahrscheinlich unterschätzt (andere Autoren schätzen diese Zahl auf elf oder zwölf). Die Anzahl der mitochondrialen Haplotypen für die gesamte Weltbevölkerung ist wesentlich größer.

Einen wichtigen Fortschritt brachte das Entschlüsseln des Genoms des Hirten Ötzi, dessen ca. 5300 Jahre alte mumifizierte Leiche im Jahre 1991 in den Alpen an der österreichisch-italienischen Grenze gefunden wurde. Zusammen mit weiteren alten paläo- und neolithischen Genomen zeigt sie ein neues Bild der europäischen Prähistorie: die europäische Population stammt von drei Quellen – (west)europäischen Jägern und Sammlern, sibirischen „Nordasiaten“ (zu denen auch die paläolithische Mal‘ta-Population von der Balkai-Region gehörte und die den Vorfahren ursprünglicher Amerikaner nahe steht) und den europäischen Landwirten nahöstlicher Herkunft. Das, was an den neuen Entdeckungen wahrscheinlich am bedeutendsten ist, ist ein deutlicher Anteil der Gene rätselhafter „basaler Eurasiaten“ im Genom europäischer Landwirte. Es handelt sich wahrscheinlich um die Spuren einer Population, die älter als die Trennung der europäischen und ostasiatischen Populationen war (erinnern wir uns an die alten Bewohner von Levante oder auf die Werkzeuge afrikanischer Herkunft auf der Arabischen Halbinsel). Die heutigen Nordeuropäer ähneln eher den alten europäischen Jägern und Sammlern, während die heutigen Südeuropäer den alten Agrarpopulationen nahe stehen, insbesondere den Bewohnern der Tyrrhenischen Region (Ötzi insbesondere mit den Sardiniern) (Abb. 3.13). Der mitochondriale Haplotyp U („Ulrike“, heute deutlich in Nordeuropa, hauptsächlich bei den Samen vertreten) kam fast ausschließlich bei frühen Jägern und Sammlern vor, dafür nur ausnahmsweise bei frühen Bauern.


Abb. 3.13: Modell der Geschichte der westeuropäischen Population. Rezente Populationen sind dargestellt in lila, archaische Populationen in rosa und rekonstruierte anzestrale Populationen grün. Durchgezogene Linien stellen Herkunft ohne Vermischung dar, gestrichelte Linien Beimischungsereignisse (nach Lazaridis et al. 2013).

Man kann also zusammenfassen, dass die heutigen Europäer nicht die umgeschulten Paläolithiker sind (wie die Untersuchungen der mtDNA zeigten), sondern Nachkommen von Menschen mehrerer Besiedlungswellen, die 40000 Jahre getrennt voneinander stattfanden (Box 3.6).

Box 3.6

Alte DNA und Phylogeografie

Aus den Ergebnissen der Erforschung alter DNA folgt ein schwerwiegendes, obwohl theoretisch vorhersehbares Ergebnis: Die auf der DNA heutiger Populationen basierende Molekularphylogeografie gibt ein falsches Bild der Geschichte, denn die heutigen Populationen sind nicht die Nachkommen von Populationen, die am gleichen Ort vor Tausenden Jahren lebten. Schon von dem Wenigen, was wir heute wissen, können wir zusammenfassen (ein bisschen vereinfacht und effektiv gesagt), dass wir die Menschen, die am besten das genetische Erbe der zentraleuropäischen neolithischen Landwirte bewahren, in Sardinien finden. Die nächsten Nachkommen westeuropäischer Jäger und Sammler leben an der Ostsee, die nächsten Verwandten der Altsteinzeit-Sibirier vom Baikalsee finden wir in Amerika, die genetischen Spuren der noch älteren Sibirier von Altai finden wir in Australien und auf Neu-Guinea und die Spuren der ganz ältesten außerafrikanischen Menschen sind im Genom heutiger Europäer vertreten. Man kann annehmen, dass die Entschlüsselung noch zu findender alter DNA unsere Ansichten über die Geschichte der Menschheit auch in anderen Gebieten ändern wird – falls sie jemals gefunden wird.

 

3.9 Ostasien und Besiedlung von Ozeanien und Madagaskar

Ostasien ist eine entscheidende Region für die weitere Entwicklung der Menschheit – es ist das Gebiet der althergebrachten Entstehung der Landwirtschaft, Metallurgie und des Staates. Aus dem Gesichtspunkt der phylogeografischen Geschichte der Menschheit sind die langfristigen Konfliktbeziehungen zwischen China und Zentralasien (Mongolen, Mandschuren) von Bedeutung, die tief in die historische Zeit (berühmte Dynastie Quing 1644–1911 war vom Ursprung her mandschurisch, nicht chinesisch) überdauerten. Zentralasiatische Wüsten wirken wie eine Pumpe, die nomadenhafte Hirtenethnien, abhängig von den klimatischen Oszillationen, „einsaugt“ oder „ausbläst“ (und dies nicht nur nach China, sondern auch westwärts nach Europa). Auf der anderen Seite schreitet das allmähliche Verdrängen der austrischen Ethnien weiter südwärts nach Südostasien und in die indonesisch-philippinische Inselregion vor.

In Indonesien können wir mehrere Populationsschichten finden – eine alte, mit der ursprünglichen Migration der modernen Menschen aus Afrika nach Australien verbundene (30–15 tya) und letztendlich auch eine relativ junge, mit der Verbreitung der austronesischen Sprachfamilie verbundene Migration aus Südostchina. 3,3–3,5 tya haben die Austronesier von Taiwan aus sehr schnell die Philippinen, Indonesien und das „nahe Ozeanien“ (Neuguinea und Melanesien) besiedelt. Auch Madagaskar, das letzte große Stück unbewohntes Land wurde von Menschen aus Borneo in den letzten Jahrhunderten vor Christus besiedelt (die Immigration der Bantu aus Afrika folgte erst vor ca. 1000 Jahren) und kurze Zeit darauf auch das ganze „Fernozeanien“ (Mikronesien, Polynesien) (vergleiche Box 5.6). Diese weitreichende Expansion wird gut durch die Kongruenz der sprachlichen und (teilweise) auch archäologischen Daten (Lapita-Kultur) belegt. Die Hypothese des „schnellen Zuges“ („express train model“) hat jedoch keine eindeutige genetische Unterstützung. Die schnelle Verbreitung der Kultur (austronesische Sprachen, Lapita-Technologie, teilweise auch Landwirtschaft) war hier wahrscheinlich nicht mit der vergleichbar massiven und schnellen Migration der Menschen verbunden. Die Bevölkerung Ozeaniens stammt auch von viel älteren Populationen des Korridors ab, die Indochina, Indonesien und „Nahozeanien“ miteinander verbinden.

3.10 Besiedlung Amerikas

Der amerikanische Kontinent wurde als letzter besiedelt, vermutlich aus Nordostasien (Abb. 3.9); alternative Hypothesen sind zumindest unwahrscheinlich. Unlängst hat die sogenannte „Solutréen-Hypothese“ ansehnliche Popularität gewonnen. Sie nimmt an, dass die europäische, 17–21 Tausend Jahre alte Kultur die nordamerikanische Clovis-Kultur durch eine Kolonisierung über den Atlantik entlang des weit in den Süden reichenden Polargletschers während des letzten Glazials beeinflusst hat.

Diese Hypothese stützt sich außer auf das angeblich „europide“ Aussehen des sogenannten Kennewick-Menschen, (Washington, ca. 9000 Jahre alt) insbesondere auf das Vorkommen des „europäischen“ mitochondrialen Haplotyps X in Nordamerika (hauptsächlich im Nordosten). Den Haplotyp X kennen wir allerdings auch aus Sibirien und Nordafrika, dagegen ist die DNA des Kennewick-Menschen eher ostasiatisch und die europäische Solutréen-Kultur war nicht maritim. Präkolumbische Kontakte Europas und Amerikas sind unbestritten. Auch wenn eine dauerhafte Wikinger-Besiedlung von Grönland, Neufundland und Labrador (Vinland) letztendlich gescheitert ist, dauerten die Kontakte zwischen Nordeuropa und Nordamerika ca. 400 Jahre an. Bis heute werden sie durch die Existenz des amerikanischen mitochondrialen Haplotyps C1 auf Island belegt.

Das neu entschlüsselte Genom eines Jungen, der vor 24000 Jahren in der Lokalität Mal’ta am Baikalsee begraben wurde (es handelt sich um das älteste komplett gelesene Genom des modernen Menschen), verbindet die Eigenschaften der Europäer und Westasiaten mit Genomen ursprünglicher Amerikaner, also nicht mit gegenwärtigen ostasiatischen Genomen – dies würde an die gemischte Herkunft heutiger Amerikaner deuten: Genetische (im Mal’ta Genom erhaltene) westeurasiatische Elemente sind mit den ostasiatischen verbunden. Der alte Weg von Europa nach Amerika führte ja über Sibirien und Beringia, nicht über den Atlantik.

Wir kennen auch Indizien, die Südamerika mit Polynesien verbinden (präkolumbische Bataten südamerikanischer Herkunft, verschiedene kulturelle Übereinstimmungen), aber nichts deutet darauf hin, dass die Bevölkerung dieser Regionen auch genetische Übereinstimmungen aufweisen würde.

Der „polynesische“ mitochondriale Haplotyp, neulich bei den ausgestorbenen Botokuden in Ostbrasilien gefunden, bleibt rätselhaft – die Botokuden lebten zu weit östlich, um direkte Kontakte mit den Polynesiern anzunehmen; das polynesische Motiv ist aber auch zu jung und wenig variabel um ihr Einwandern über die klassische Route durch asiatische Vorfahren der Polynesier über die Paläoindianer asiatischer Herkunft bis nach Brasilien anzunehmen, sodass nur noch die Variante einer rezenten Ankunft der „polynesischen DNA“ aus Madagaskar nach Brasilien mit Sklavenhalterschiffen infrage kommt.

Die ursprüngliche amerikanische Population ist genetisch sehr verarmt, wobei die genetische Variabilität südwärts und ostwärts weiter sinkt. Das Alter der amerikanischen Population ist schwer einzuschätzen. Die älteste, gut bekannte nord- und mesoamerikanische Kultur ist die Clovis-Kultur (11–13 tya), aber die ältesten bekannten Siedlungen sind noch etwas älter (Monte Verde in Chile und Buttermilk Creek in Texas, ca. 15 tya; Meadowcroft in Pennsylvanien, 16 tya), was auf die Ankunft von Menschen in Amerika 16–20 tya hinweisen würde. Ältere Funde (bis 40 tya) sind eher unglaubwürdig. Die molekulare Uhr indiziert zwar eine ältere Trennung amerikanischer und asiatischer Haplotypen (40 tya), sagt aber nichts darüber aus, wo diese Trennung stattgefunden hat. Die fossile DNA eines Menschen der Clovis-Kultur in der nordamerikanischen Lokalität Anzick (Montana), 12000 Jahre alt, zeugt von einer eindeutigen Zugehörigkeit zu den heutigen amerindischen Populationen, wobei sie den heutigen südamerikanischen Amerinden näher steht. Dies zeigt, dass in dieser Zeit die amerindische Population schon ausgeprägt strukturiert war, was der Vorstellung von der Besiedlung Amerikas durch die Vorfahren heutiger Amerinder schon mehrere Tausend Jahre vor der Clovis-Kultur entspricht.

Die Amerinden (einschl. DNA aus Anzick) stellen eine genetisch spezifische, isolierte und homogene Population dar, während wir bei den mit eskimo-aleutischen und Na-Dené Sprachen sprechenden Ethnien einen ausgeprägten (und südwärts steil sinkenden) Anteil von Genen finden, die diese sich mit den Bewohnern Sibiriens und insbesondere den arktischen Regionen Nordostasiens (Kamtschatka, Tschukotka) teilen. Die Vermischung amerindischer und arktischer Populationen im Norden Nordamerikas ist offensichtlich ziemlich rezent: Eine alte, aus einem 4000 Jahre alten in Westgrönland gefundenen Haar (Saqqaq-Kultur) isolierte DNA zeigt eine viel nähere Verwandtschaft mit den heutigen Bewohnern aus der Tschuktschen-Halbinsel und Kamchatkas, als mit den heutigen Inuit aus demselben Gebiet. Auch unter dem sprachlichen Gesichtspunkt repräsentieren die ursprünglichen Amerikaner mindestens drei selbstständige Kolonisationen: amerindische Sprachen unklarer Herkunft, eskimo-aleutische Sprachen, vielleicht entfernt eurasiatischen Sprachen verwandt, und die Na-Dené Sprachen, die nah den Jenissei-Sprachen und fern den sino-tibetischen Sprachen anzusiedeln sind (Kapitel 4.7.2 und 4.7.4).

Die Quelle aller Wellen der Besiedlung Amerikas war Beringia, eine durchgängige Landbrücke am Nordrand des heutigen Beringmeers, also zwischen Nordamerika und Sibirien während des letzten Glazialmaximums (Abb. 3.9, 3.10 und 3.14). Beringia war ein bedeutendes Refugium von Grastundra, das von Asien und Amerika durch Gletscher getrennt wurde. Von dort aus verbreiteten sich die Menschen wahrscheinlich durch zwei Migrationskorridore nach Nordamerika und weiter nach Süden – einer führte entlang der Pazifikküste, der andere durch das nicht vereiste Inland zwischen dem Kordilleren- und dem Laurentidischen Eisschild.


Abb. 3.14: Beringia. Dunkelgrün dargestellt ist das Ausmaß des heutigen Festlands. Heller gefärbt sind die Küstenlinien während der glazialen Kältezeiten (nach Balter et al. 2013).

Nach dem Verlassen von Beringia gelang die Kolonisierung Amerikas ziemlich schnell – für den Weg vom fernsten Norden (Alaska) bis zum fernsten Süden (Feuerland) über eine Fülle von diversen Habitaten benötigten die ersten Amerikaner weniger als 2000 Jahre. Die amerikanische Population ist genetisch verarmt und sehr homogen, wobei die genetische Variabilität süd- und ostwärts weiter sinkt. Genomische Daten zeigen eine ansehnliche Korrelation der genetischen und sprachlichen Beziehungen (Amerinden × Na-Dené × Eskimo-Aleuten, vergleiche Kapitel 4.7.2 und 4.7.4; siehe auch Box 3.7.

Box 3.7

Spätere Migrationen

Bis jetzt haben wir uns damit beschäftigt, was auf Englisch als „peopling“ bezeichnet wird, also der Besiedlung der durch Homo sapiens noch nicht bewohnten Areale. Dieser Prozess kulminierte mit der Besiedlung von Madagaskar (um die Jahreszahlwende, wahrscheinlich ca. 400 n.Chr.), Hawaii (300–500 n.Chr.) oder Neuseeland (1200–1300 n.Chr.). Die Ausbreitung der Menschheit über die Erde ist dadurch aber nicht zum Stoppen gekommen. (Es ist etwas absurd von der „Entdeckung Amerikas“ durch Christoph Columbus 1481 zu sprechen – analog hat der Autor dieser Zeilen 2012 Leipzig entdeckt – in beiden Fällen war der „Entdecker“ vorher nie dort, aber einige Menschen hatten dort vorher schon gewohnt.) Manche der bedeutenden Migrationen wurden hier schon erwähnt (Bantu-Expansion nach Ost- und Südafrika, austronesische Expansion nach Indonesien, Ozeanien und Madagaskar, außerordentlich komplizierte Geschichte der Bevölkerung vom Mittelmeerraum bis nach China, die durch die Populationspulse von zentralasiatischen Hirtenethnien getrieben wurde). Die Mechanismen der Expansionen können ganz unterschiedlich sein – erwähnenswert ist die ganz wesentliche Änderung der genetischen und Kulturkarte der Welt in den letzten 500 Jahren, die mit dem Kolonialismus (Besiedlung europäischer Herkunft in Amerika, Australien, Neuseeland, Südafrika) oder mit der Sklaverei zusammenhängt. (Die unfreiwillige Bantu-Expansion nach Amerika war – aus dem evolutionären Gesichtspunkt eigentlich sehr „erfolgreich“: Im 16.–19. Jahrhundert wurden dorthin 10–12 Millionen Bantus verfrachtet, vor allem aus Westafrika, vom Senegal bis nach Angola, obwohl aus Afrika angeblich ursprünglich 40–100 Millionen Menschen verschifft wurden, was sich in der Populations- und möglicherweise auch technologischen Stagnation von Subsahara-Afrika bemerkbar gemacht hat.)