Buch lesen: «Mach dir Umsatz auf!»
Thorsten Jekel / Hubertus Kuhnt
Mach dir
Umsatz auf!
Digitalisierung, Führung, Umsetzung im Vertrieb
Wie Coca-Cola in Deutschland aus den Erfolgen von gestern die Erfolge von morgen geschaffen hat
Externe Links wurden bis zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches geprüft. Auf etwaige Änderungen zu einem späteren Zeitpunkt hat der Verlag keinen Einfluss. Eine Haftung des Verlages ist daher ausgeschlossen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN Buchausgabe: 978-3-86936-935-8
ISBN epub: 978-3-95623-922-9
Lektorat: Dr. Michael Madel, Ruppichteroth
Umschlaggestaltung: Martin Zech, Bremen | www.martinzech.de
Titelfoto: Picsfive / Shutterstock
Autorenfotos: Uwe Schwesig (Thorsten Jekel), Timo Bühring
Satz und Layout: Das Herstellungsbüro, Hamburg | www.buch-herstellungsbuero.de
Copyright © 2020 GABAL Verlag GmbH, Offenbach
Das E-Book basiert auf dem 2020 erschienenen Buchtitel »Mach dir Umsatz auf!
Digitalisierung, Führung, Umsetzung im Vertrieb« von Thorsten Jekel und Hubertus Kuhnt, ©2020 GABAL Verlag GmbH, Offenbach
Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.
www.instagram.com/gabalbuecher
Inhalt
Geleitwort
Vorwort
Kapitel 1
Life tastes good: Als die Welt noch in Ordnung war
Kapitel 2
Den Turnaround bewältigen
Kapitel 3
Make it real: Eine neue Struktur schaffen
Kapitel 4
You can’t beat the feeling: Eine neue Kultur schaffen
Kapitel 5
Coca-Cola is it: Agil und schnell werden
Kapitel 6
Open Happiness: Neue Möglichkeiten mit neuen Technologien
Kapitel 7
The Coke side of life: Auf zu neuen Abenteuern
Literaturverzeichnis
Die Autoren
Geleitwort
Wir leben in einer Welt, welche zunehmend schnelllebiger, komplexer und intransparenter wird. Dies ist keine neue Erkenntnis. Marktbedingungen und Konsumentenverhalten unterliegen einem permanenten Wandel, und Unternehmen müssen sich schneller als bisher darauf einstellen. Dabei ist »Wandel und Veränderung« kein Phänomen der Gegenwart. Es ist vielmehr ein Dauerzustand der letzten Jahrzehnte. Der Unterschied zur Vergangenheit ist jedoch die noch nie dagewesene Dynamik und deren Ausmaß.
Warum gelingt es nun einigen Unternehmen besser als anderen, sich verändernden Marktbedingungen immer wieder anzupassen, sich neu zu erfinden und sich über lange Zeit als Marktführer zu behaupten? Wie schaffen es einige Firmen, über Jahrhunderte erfolgreich zu sein, andere dahingegen überleben kein Jahrzehnt?
Richtige Innovationen aus Kundensicht, passendes Marketing, eine schlanke Produktion oder Dienstleistungen entlang des Produktlebenszyklus sind bekannte Erfolgsfaktoren und stellen das Handwerkszeug eines jeden erfolgreichen Unternehmens dar. Doch diese Erfolgsfaktoren sind erst dann nachhaltig wirksam, wenn sie auf dem richtigen Fundament bauen, auf der richtigen Grundhaltung. Mit solch einer besonderen Grundhaltung bin ich schon früh in Berührung gekommen:
Mein Großvater, Karl Winterhalter, besaß ein Haus am See, in dem ich als kleiner Junge viele Wochenenden verbracht habe. Zu dieser Zeit war es das Größte für mich, zusammen mit meinem Großvater am Seeufer ein Lagerfeuer zu machen. Mit Schubkarre und Mistgabel sind wir an den Strand gegangen und haben Treibholz gesammelt. Dieses haben wir zu einem Turm aufgeschichtet, und ich durfte es mit einer alten Zeitung anzünden. Auf alten Baumstämmen sitzend, haben wir dann in das Feuer geschaut. Während die Wellen an den Strand schlugen und das Feuer knisternd abbrannte, erzählte er mir Geschichten aus seinem Leben. Er berichtete mir von seiner Ausbildung zum Uhrmacher in Furtwangen, von seinem Studium zum Elektroingenieur und seiner späteren Arbeit.
Durch den Kontakt eines Studienkollegen verschlug es meinen Großvater zu Dornier Flugzeugbau an den Bodensee, wo er schon bald die gesamte Elektroabteilung leitete. Er fühlte sich dort sehr wohl und meldete sogar den Vorläufer des heutigen Kabelbinders im Namen von Dornier zum Patent an. Hierdurch konnte die Montagezeit drastisch reduziert werden.
Durch das Bombardement der Briten 1944 auf die Stadt Friedrichshafen änderte sich alles schlagartig. Sein Arbeitgeber und die gesamte Stadt Friedrichshafen wurden in Schutt und Asche gelegt. Eine Bombe verfehlte das Wohnhaus seiner Familie nur knapp. Für den erfolgreichen Elektroingenieur ging es über Nacht um das wirtschaftliche Überleben. Aus purer Not heraus gründete er ein Unternehmen, um seine vierköpfige Familie zu ernähren. Dieses Unternehmen hat sich seitdem permanent weiterentwickelt und sich immer wieder infrage gestellt. Daraus ist die Winterhalter Gastronom GmbH entstanden. Diese ist seit Jahrzehnten Marktführer in ihrer Nische und gehört laut Prof. Hermann Simon zu den »Hidden Champions«.
Ich werde nie vergessen, wie ich ihn mit sechs oder sieben Jahren auf dem Baumstamm sitzend gefragt habe: »Sag mal, wie hast du das gemacht: Aus dem Nichts ein Unternehmen zu gründen und so lange erfolgreich zu sein?« Ich fand es faszinierend. Meine Großeltern mussten sich in den ersten Jahren entscheiden zwischen einem vernünftigen Sonntagsbraten und dem Kauf von Material, um die Produktion weiter aufrechtzuerhalten.
Mit funkelnden Augen erwiderte er: »Es ist ganz einfach. Mit allem, was man tut, ist es so wie mit dem Feuer heute Abend: Man muss am Anfang viel Energie aufwenden, Holz sammeln, die Holzstücke richtig aufeinanderstapeln. Dann braucht es Energie, um das Feuer zu entfachen, und wenn es brennt, darf man sich kurz freuen. Man muss allerdings gleich überlegen, was zu tun ist, damit es in einer Stunde auch noch brennt. Man muss also rechtzeitig das richtige Holz zum richtigen Zeitpunkt nachlegen, um das Feuer am Brennen zu halten.
In einer Firma ist es genauso. Wenn du heute Erfolg hast, hast du in der Vergangenheit die richtigen Entscheidungen getroffen. Aber du musst heute schon die nächsten Schritte und Entscheidungen überlegen, um auch morgen Erfolg zu haben. Mit anderen Worten: Der Erfolg von heute ist das Ergebnis der richtigen Entscheidungen von gestern. Die entscheidende Frage ist: Welche Entscheidung muss ich heute treffen, um in der Zukunft erfolgreich zu sein?«
Dies war für mich absolut logisch, obwohl ich die Analogie erst viele Jahre später richtig verstanden habe. Diese hat sich so in mein Gehirn eingebrannt, dass sie mich jeden Tag begleitet.
Nun ist dieses Beispiel so einleuchtend wie trivial und sollte fest in jeder Unternehmens-DNA verankert sein.
In der Praxis ist dies jedoch oftmals nicht der Fall. Anders ist es nicht zu erklären, dass langanhaltender Erfolg diesen Grundsatz immer in den Hintergrund zu rücken scheint, vor allem dann, wenn technische oder gesellschaftliche Veränderungen Einzug halten.
Nehmen wir das Beispiel des Stangeneis. In den 1930er-Jahren hat mein Großvater geholfen, für eine Brauerei in Endingen am Kaiserstuhl Stangeneis an die umliegende Gastronomie zu liefern. Die Stangeneisproduktion lief industriell ab, war effizient und das Logistikkonzept dahinter war ausgeklügelt. Es war ein erfolgreiches Geschäftsmodell, mit dem man sehr gutes Geld verdiente – bis zu dem Zeitpunkt, als der Kühlschrank massentauglich und das Stangeneis obsolet wurde.
Doch welcher Stangeneishersteller ist zum Kühlschrankproduzenten geworden?
Welcher Kerzenhersteller ist Glühbirnenproduzent geworden?
In beiden Beispielen hat man es aus einer Position der Stärke nicht geschafft, sich zu transformieren und auf die Veränderungen im Markt- und Kundenverhalten im richtigen Maße zu reagieren. Erfolg macht satt und müde. Man befindet sich in der Erfolgsfalle.
Blickt man in die Gegenwart, so ist diese Fähigkeit, sich immer wieder neu anzupassen, wichtiger denn je. Viele Unternehmen sind nach zehn Jahren Hochkonjunktur verwöhnt vom laufenden Erfolg. Sie sind genauso satt und müde geworden wie die Stangeneis- und Kerzenhersteller. Dazu kommt noch, dass sie die Folgen der Digitalisierung nur unzureichend verstehen. Durch neue Technologien, Geschäftsmodelle und Plattform-Ökonomie werden traditionelle Industrien in einem noch nie gekannten Ausmaß verändert. So besitzt Airbnb mehr Bettenkapazität als die größte Hotelkette der Welt – ohne eine einzige Immobilie zu besitzen. Uber ist das größte Taxiunternehmen geworden, ohne ein einziges Fahrzeug zu besitzen. Eine Entwicklung, die vor zehn Jahren nie jemand vorausgeahnt hätte.
Noch nie war es wichtiger, sich an verändernde Umweltbedingungen schnellstens anzupassen und nicht in die Erfolgsfalle zu tappen oder dort zu verharren.
Auch Coca-Cola schwamm auf einer sehr langen Erfolgswelle. Dies änderte sich im Jahr 2003 radikal. Es folgte ein beispielloser Turnaround des gesamten Unternehmens und der Unternehmenskultur. Ein wahrer Kraftakt, der Coca-Cola aus einer existenzbedrohenden Schieflage zu einem leuchtenden Beispiel der Digitalisierung in der Branche geführt hat.
Die Autoren Thorsten Jekel und Hubertus Kuhnt haben beide zum Erfolg dieser Transformation beigetragen und schildern dies in anschaulicher Art und Weise. Dabei bleibt es nicht bei theoretischen Analysen. Sie erläutern Konzepte und Werkzeuge, welche praxiserprobt sind und somit einen echten Mehrwert für jeden Unternehmer und für jede Führungskraft bieten. Die aufgeführten Konzepte kann jeder für sich im betrieblichen Alltag sofort nutzen und umsetzen. Ein Buch aus der Praxis für die Praxis.
Lassen Sie sich von diesem Buch inspirieren, damit auch Sie zur rechten Zeit Holz nachlegen können, um Ihr Feuer langfristig am Brennen zu halten.
Herzlichst
Ihr Ralph Winterhalter
Vorwort
Weitgehend unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit erlebte Coca-Cola Deutschland ab Januar 2003 die größte Herausforderung seiner Geschichte – und münzte sie bis 2015 in einen geradezu sensationellen Erfolg um: Das Unternehmen wandelte sich von Grund auf und ist heute ein Leuchtturm der Digitalisierung. Es ist agil aufgestellt, die Mitarbeiter ziehen an einem Strang und setzen neueste digitale und mobile Technologien effektiv ein. Der Vertrieb wurde um 20 Prozent produktiver.
Was war geschehen? Die Einführung des Einwegpfands Anfang 2003 in Deutschland ließ den Umsatz massiv einbrechen – und erwischte das erfolgsverwöhnte Unternehmen kalt. Zunächst wurde versucht, die Verluste mit herkömmlichen Mitteln zu kompensieren. Doch nach einigen Jahren merkte das Topmanagement, dass nur ein radikaler Umbau aller Führungs-, Vertriebssteuerungs- und IT-Prozesse den Turnaround bringen könnte.
Es folgten ein beispielloser Umbau der Strukturen und ein radikaler Wandel der Unternehmenskultur. Diesen Turnaround haben wir in unterschiedlichen Rollen mitgestaltet. In diesem Buch erzählen wir Ihnen die Geschichten hinter dem Veränderungsprozess und geben Ihnen eine Fülle von Praxistipps. Sie richten sich an Führungskräfte jeder Branche – denn Schnelligkeit und Agilität sind die Basis für den dauerhaften Erfolg in jedem Unternehmen. Es geht um Exzellenz im Management und in der Kommunikation, um Exzellenz im Vertrieb sowie um Exzellenz im Einsatz von digitalen Technologien.
Aus Gründen der Lesbarkeit haben wir uns entschieden, die genauen Unternehmensbezeichnungen der unterschiedlichen Coca-Cola-Organisationen vereinfacht darzustellen. Wann immer wir von »Coca-Cola« oder »den deutschen Coca-Cola-Unternehmen« schreiben, verbergen sich dahinter eine oder mehrere der folgenden Gesellschaften:
• The Coca-Cola Company (TCCC): Markeninhaber, Rechteinhaber, Franchisegeber
• Coca-Cola GmbH (CC GmbH): 100-prozentige Tochter der TCCC, für Marken, Rechte und Franchise in Deutschland verantwortlich
• Coca-Cola Deutschland Verkauf (CCDV): Key-Account-Organisation zu Zeiten des Konzessionärswesens mit dem Auftrag, nationale Kunden zu betreuen
• CCEAG: Coca-Cola Erfrischungsgetränke Aktiengesellschaft (Konzessionär mit dem Recht, Marken der CC GmbH in Deutschland zu produzieren und zu vertreiben)
• CCEP: Coca-Cola European Partners Deutschland GmbH (Konzessionär in Deutschland ab 2016, Nachfolger der CCEAG und Teil der Coca-Cola European Partners, London)
Übrigens: In unserem Buch werden wir die Geschehnisse immer wieder aus der Sicht von Coca-Cola erzählen, auch weil wir daran beteiligt waren. Andererseits verbirgt sich hinter dem Pronomen »wir« hin und wieder das Autoren-Duo Jekel / Kuhnt. Wir sind sicher, Sie werden die richtige Zuordnung vornehmen! Und ganz am Schluss wartet diesbezüglich auch noch eine Überraschung auf Sie.
Wir wünschen Ihnen viel Freude und wertvolle Erkenntnisse bei der Lektüre!
Ihr Thorsten Jekel und Ihr Hubertus Kuhnt
PS: Aktualisierungen und Bonusmaterial zum Buch finden Sie auf https://www.fuer-die-umsetzung.de.
Sie erhalten dort auch den Zugriff auf weitere Videos zum Buch.
Kapitel 1
Life tastes good: Als die Welt noch in Ordnung war
Die gute alte Zeit. Für Tom, Verkaufsfahrer für Getränke bei der Fichthoff & Co. KG im münsterländischen Greventrop, sah sie so aus: Unter der Woche stand er morgens um sechs Uhr auf. Nach dem Rasieren rauchte er eine erste Zigarette auf dem Balkon, verließ dann das Haus und schwang sich in seinen roten Golf I GTI – das war der mit dem Golfball als Schaltknauf –, um über schnurgerade Landstraßen zur Arbeit zu fahren. Dort kam er meist gegen sieben Uhr an und parkte sein Auto auf dem Mitarbeiterparkplatz vor dem roten Backsteinbau mit weißen Fenstern.
Fichthoff war ein Familienunternehmen. Schon seit mehreren Generationen gehörte es einer alteingesessenen westfälischen Familie. Jede Generation hatte mindestens einen neuen Geschäftszweig hinzugefügt, und so bestand die Firma mittlerweile aus den unterschiedlichsten Handels- und Handwerksbetrieben. Auch ein Getränkevertrieb gehörte dazu: Die Familie Fichthoff war stolzer Coca-Cola-Konzessionär. Für diesen Getränkevertrieb arbeitete Tom. Wenn er morgens auf den Hof gefahren kam, standen in der Regel schon zehn bis 15 Lkw bereit. Es waren 20 Jahre alte MAN-Tieflader, deren Motorsound in Richtung Schiffsdiesel ging. Die Lastwagen hatten bereits Dutzende Paletten voller Coca-Cola, Fanta, Sprite und anderer Getränke an Bord. Die Verkaufsfahrer kannten sich alle untereinander gut und standen immer noch zehn Minuten zusammen und unterhielten sich, bevor sie mit ihren Lkw vom Hof rollten.
Sobald Tom auf seinem Fahrersitz Platz genommen hatte, fühlte er sich zu Hause. Als Erstes schaute er immer auf die Liste, die Sylvie – Mitarbeiterin aus dem Verkaufsbüro – für ihn in seinen Lkw gelegt hatte. Darauf standen die Kunden, die er am jeweiligen Tag anfahren sollte. Dann wusste er genau: »Ah, heute ist der ›Goldene Ochse‹ in Steinfurt dran – da habe ich die Kellerschlüssel, damit ich die Kisten direkt runterbringen kann. Und anschließend warten im ›Grünen Baum‹ in Horstmar wie immer belegte Brötchen und Kaffee auf mich – denn der Wirt dort freut sich, dass er mit mir einen kleinen Schwatz halten kann, sobald ich die bestellten Getränke abgeladen habe.« Zu Toms Arbeitsausstattung gehörte ein Schlüsselbund mit ungefähr 40 Schlüsseln. So kam er jederzeit in die Keller und Lagerräume seiner Kunden, auch wenn diese einmal nicht da sein sollten.
Zehn bis 15 Kunden besuchte Tom so jeden Tag. Alle kannte er persönlich. Mit jedem einzelnen Gaststättenbetreiber plauderte er, fragte, wie es ging, erfuhr, wie die Geschäfte so liefen und wo der Schuh drückte. Er liebte seine Arbeit. Es war das Jahr 1991. Lkw mit Servolenkung waren noch Luxus. Tom musste sich also beim Lenken richtig ins Zeug legen. Klimaanlage? Die Laster hatten Seitenfenster mit serienmäßiger Kurbel zum Herunterdrehen. Der guten Laune tat das keinen Abbruch. Im Autoradio liefen »It must have been love« von Roxette und »Wind of Change« von den Scorpions. Tom konnte fast alle Songs mitsingen, die von früh bis spät auf WDR 2 liefen.
Wenn Tom nachmittags mit seinem leeren Lkw wieder auf den Hof in Greventrop fuhr und ein Kunde anrief, dass er dringend noch zwei Paletten Coca-Cola bräuchte, dann kletterte er noch mal auf den Fahrersitz und lieferte die beiden Paletten aus. Für seine Kunden tat Tom alles. Und für seine Kollegen auch.
Die Verkaufsfahrer waren ein eingeschworener Haufen, die sich zu Beginn und am Ende ihrer Touren austauschten. Jeden Freitag nach Feierabend, als Auftakt zum Wochenende, setzten sie sich noch im Fahrerraum zusammen und ließen die Woche Revue passieren. Dass die Cola, die sie dann tranken, den einen oder anderen Schuss Hochprozentiges enthielt, gehörte einfach dazu. Die Stimmung war immer gut – aber nicht nur wegen des Alkohols. Die Männer arbeiteten zum Teil schon sehr lange für die Firma Fichthoff, kannten ihre Stärken und kleinen Schwächen, wussten, wer am Wochenende Schalke die Daumen drückte und wer Gladbach oder den Bayern. Manchmal unternahmen sie auch privat Dinge gemeinsam.
Tom fühlte sich wohl in dieser Runde – obwohl er erst seit einem knappen Jahr dabei war. Die anderen hatten ihn sofort kollegial, ja geradezu freundschaftlich aufgenommen und ihm erzählt, wie die Kundschaft so tickte. Er verdiente zwar nicht die Welt, aber das war ihm egal. Er wurde nach gelieferten Einheiten und zurückgebrachtem Leergut bezahlt. Das hieß: Wenn er richtig ranklotzte und sich beeilte, kam mehr rüber. Wenn er sich dagegen mit einem Kunden intensiver unterhielt, brauchte er vielleicht etwas länger, um auf seine Kohle zu kommen – aber der gute Draht zu seinen Kunden war ihm wichtig. Denn er fand, dass dies dem Unternehmen viel mehr nützte, als immer so genau auf die Zeit zu achten.
Außerdem ging es der Firma doch gut! Das merkten sie an allen Ecken und Enden. Fichthoff war in vielerlei Hinsicht großzügig: Keiner schaute auf die Uhr oder drängelte, wenn die Fahrer morgens mal länger als zehn Minuten zusammenstanden. In allen Lkw gab es eine Kühlbox mit Getränken für die Fahrer. Und bei den Weihnachtsfeiern ließen sie es so richtig krachen. Das hatte auch mit dem Mauerfall und mit der Aufbruchsstimmung zu tun, die seither herrschte. Aufbruchsstimmung? Im tiefen Westen? Okay, vielleicht ist »Goldgräberstimmung« der noch passendere Begriff. Jedenfalls waren die Umsätze mit Coca-Cola-Produkten in die Höhe geschnellt, als es auf einen Schlag 16 Millionen neue Konsumenten gab. Dieser Boost war auch noch im äußersten Westen zu spüren.
Tom konnte sich noch genau an die Bilder im Fernsehen erinnern: erst anstehen für das Begrüßungsgeld, dann ran an den Speck: Westprodukte satt! Toms Kollegen, die live dabei gewesen waren, erzählten bei ihren Freitagszusammenkünften immer noch mit leuchtenden Augen davon, wie der Verkaufsleiter Berlin am 9. November 1989 alle seine Verkäufer versammelt hatte und sie einen Tray Coca-Cola nach dem anderen über die Mauer geworfen hatten. 60 000 Trays an einem Tag! Und in einem Tray waren 24 Dosen! Die Nachfrage nach Coca-Cola war immens. Die rote Cola-Dose war einmal mehr zu einem Symbol der Freiheit und des westlichen Lebensstils geworden.
Als die Wiedervereinigung dann am 3. Oktober 1990 da war, hatten die Coca-Cola-Manager am deutschen Hauptsitz in Essen längst beschlossen, in den neuen Bundesländern große Produktionsbetriebe zu errichten. Das Management wollte Coca-Cola in ganz neuen Verkaufseinheiten unter die Menschen dort bringen: in 1,5-Liter-Mehrwegflaschen. Es wurde ein Riesenerfolg. Der sich nicht nur in Zahlen niederschlug, sondern auch in der Stimmung im Unternehmen. So fühlten sie sich selbst in ihrem kleinen Betrieb in Greventrop als ein Teil einer großen und unverschämt erfolgreichen Familie. Sie waren eine kleine Zelle, die zusammen mit vielen anderen kleinen Zellen ein großes, glückliches Ganzes bildete.
Was machte es da schon, dass vieles von dem, was sie taten, weder effizient noch effektiv war? Klar, die Gespräche mit den Kunden kosteten viel Zeit! Dass sie jede Bestellung dreimal anfassen mussten, allerdings auch – wenn die Verkäufer die Bestellung beim Kunden aufnahmen, wenn sie sie in ihre Papierlisten übertrugen, wenn das Verkaufsbüro sie abwickelte. Aber sie waren für ihre Kunden da, und sie waren füreinander da. Und Coca-Cola war ein Unternehmen, das ihnen und sich selbst Zeit ließ. Zeit auch, um Produkte reifen zu lassen. So war knapp zehn Jahre zuvor beispielsweise die Coke light mit Süßstoff auf den Markt gekommen. 1982 war das gewesen. Coca-Cola hatte damit auf den Trend der Achtzigerjahre zu kalorienreduzierten Light-Produkten reagiert. Im Werbefernsehen hüpften damals gertenschlanke junge Frauen durchs Bild und trällerten: »Ich will so bleiben, wie ich bin.« Da schien es auch Zeit für eine Coke in einer annähernd kalorienfreien Variante.
Am Anfang hatten sie Coke light lediglich flaschenweise verkauft. Jedes andere Unternehmen hätte wohl nach einem oder zwei Jahren aufgegeben. Das Coca-Cola-Management war jedoch davon überzeugt gewesen, dass die Coke light ein wegweisendes und erfolgreiches Produkt sein würde, und hatte deshalb nicht lockergelassen. Und jetzt, knapp zehn Jahre später, zeichnete es sich endlich ab, dass die Manager mit dieser Einschätzung richtig gelegen hatten. Mittlerweile bestellte sogar der Wirt vom »Grünen Baum« in Horstmar regelmäßig drei Kisten Coke light. Coca-Cola zeigte so allen, worauf es wirklich ankam: Durchhaltevermögen und einen langen Atem. Auch finanziell. Tom war rundum zufrieden mit seinem Arbeitsplatz und hoffte, dass er noch viele Jahre bei der Firma Fichthoff arbeiten konnte. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, sich bei einem anderen Unternehmen zu bewerben, nur weil er dort vielleicht ein bisschen mehr Geld verdient hätte.