Dann mal ab nach Paris

Text
Aus der Reihe: Lindemanns #375
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Ein mysteriöses Paket

Ich lauf zur Tür, draußen steht ein Paketbote: „Ein Paket für Sie!“ Ein Paket für mich, ich hab doch nichts bestellt? Ich geb 50 Cent Trinkgeld, ich weiß ja, wie schlecht die Jungs bezahlt werden. Wär’ immerhin eine Mark! Ich rechne immer noch in D-Mark, verfluche den Kohl für seinen 1:1-Umtausch der DDR-Aluchips und ärgere mich über den Undank der Ossis, die jetzt der AfD hinterherlaufen, wo ich doch mit meinem Soli dort für „blühende Landschaften“ gesorgt habe! Ist doch wahr, oder nicht?

Egal, hier ist ein Paket für mich, ohne Absender, und ich weiß nicht, ob ich es einfach so aufmachen soll. Schwere Entscheidung, vielleicht ist ja eine Bombe drin, man weiß ja nie, heutzutage. Ich grabe in den entlegensten Windungen meines Gehirns, wem ich schon alles auf die Füße getreten bin. Einem Arschloch von Schulleiter, dem mein politisches Engagement wohl nicht gepasst hatte, weil ich ihm zu links war. Einem Unsympath, der sich eine leitende Stelle in einer Bürgervereinigung kapern wollte und sich hinterher als Nazi entpuppt hatte. Aber vielleicht kam ein Widersacher ja aus meiner unmittelbaren Umgebung: Der Unglücksschwabe aus dem Nachbarhaus, den ich damals verspottet hatte, als er von seinem Bierkistenstapel fiel. Dem würde ich das zutrauen. Auf der anderen Seite: Für eine Bombe musste man ja Zutaten besorgen, die kosten halt und der Kerl ist Schwabe.

Erst am Abend traue ich mich, das Paket zu öffnen. Wird schon nichts passieren und wenn doch, hat meine Hildegard eine Sorge weniger. Also, eine Schere muss her! Ach nein, der Absender hat dankenswerter Weise nur eine Schleife gemacht, also Augen zu, kurz durchgeatmet und dann daran gezogen. Nichts passiert, aber vielleicht habe ich ja einen Zeitzünder angeworfen. Kurz entschlossen, mit dem Mut der Verzweiflung reiße ich den Karton auf. Ich traue meinen Augen nicht!

Das Opernglas

Vor vielen Jahren war ich mal mit einer Freundin, ja, es gab auch mal ein Leben vor Hildegard, im Nationaltheater, „Don Giovanni“. Ich wusste, was das bedeutete: Fast drei Stunden nur Gesang, sowas Unrealistisches, wer unterhält sich so lange nur singend? Aber ich wollte nicht als Kunstbanause gelten und außerdem hatte mir Ute ihr Abendkleid vorgeführt und testosterongetrieben wie ich damals war, hatte ich nur auf ihr gewagtes Dekolleté gestarrt.

„Komm wieder zu dir“, hatte sie gegrinst. „Was ziehst du an?“

„Ich hab einen nagelneuen Jogginganzug.“

„Blödmann! Ich hab noch einen schwarzen Anzug von meinem Ex hier!“

„Kommt nicht infrage, ich zieh doch keine abgelegten Klamotten von einem abgelegten Lover an!“

Gut, der Anzug hatte gepasst, nachdem ich zu dem Gürtel noch ein Paar Hosenträger angeschnallt hatte. Der Kerl musste ja klap-perdürr gewesen sein.

Derart aufgebrezelt – Herrgottnochmal, die sah aber wirklich zum Anknabbern aus – zwängten wir uns in ihren „Ford ka“.

Ich hätte mir für diesen Abend schon etwas Besseres vorstellen können als diese Mozart-Oper. Aber Ute war nun mal extrem kulturbeflissen und die Rolle als Spielverderber stand mir halt nicht.

Heutige Vergleiche mit Hildegard verboten sich von selbst.

Hildegard ist bodenständig und warmherziger und außerdem war Ute wieder zu ihrem Verflossenen zurückgekehrt, den sie nicht vergessen konnte. Nun ja, lange vorbei und ich weiß, was ich an meiner Hildegard habe.

Trotzdem blieb mir dieser Opernabend in unangenehmer Erinnerung. Ich war trotz der lauten Singerei eingeschlafen und Ute musste mir mehrmals heftige Rippenstöße verpassen, weil ich ge-schnarcht hatte. Die missbilligenden Blicke meiner Umgebung brennen mir heute noch auf der Haut. Wir saßen im Parkett und ich sah gelegentlich hoch zu den Logen, in denen affektierte Damen durch ihre Operngläser auf das Geschehen auf der Bühne blickten. Und eben so ein Ding liegt nun in dem Paket: ein Opernglas! Ein Papier in reinstem Bütten liegt dabei: „Damit sie mich besser sehen können!“ Unterschrift: „Gabi, Ihre Nachbarin von gegenüber! PS: 23.00 Uhr, ich bin noch wach!“

Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Will sie mich verarschen oder hält sie mich für einen Spanner? Oder ist es gar eine Aufforderung zu mehr? Sieht so aus. Was tun, sprach Zeus. Soll ich mit dem Ding weiter zu ihr rüberstarren oder ihr einen Besuch abstatten? Nur gut, dass Hildegard nicht da ist, das hätte einen riesigen Ehekrach gegeben! Mädelsabend, das kann dauern.

Ich entschließe mich zum Besuch und ziehe eine flotte Jeans an und dieses blau karierte Hemd, das Hildegard so schön findet, damit kann ich sicherlich Eindruck schinden. Eindruck schinden?

Will ich das wirklich oder befinde ich mich nach so langer Zeit wieder im Jagdmodus? Mensch, ich bin doch keine zwanzig mehr und hole mir bestimmt eine Abfuhr! Abfuhr, wie das klingt, ich bin doch nicht die Müllabfuhr. Außerdem trenne ich korrekt: gelbe Tonne, blaue Tonne, braune Tonne!

Wie, was? Was fasle ich da vor mich hin? Hat mich diese Gabi jetzt völlig Gaga gemacht? Mit achtzehn hatte ich mal so ne Phase, als ich mit Kumpels zu viel gekifft hatte. Diese Phase ist längst vorbei, naja, manchmal gibt es einen Rückfall in alte Zeiten, weil ich mich halt nicht mit meinem Alter abfinden kann. Die Midlife-Krise ist doch auch schon längst vorbei! Ich sinniere und sinniere und merke gerade, dass ich schon auf dem Weg zu ihr bin. Ich Blödmann, was tue ich eigentlich, ist mir meine Ehe egal? Egal ist mir nicht, dass ich wie in Trance die Treppe hinuntergelaufen, den Gehweg um den Block genommen und bei ihr geklingelt habe.

Gabi Hoffmann, das wird sie wohl sein. Es tut sich nichts, aber jetzt kommt gerade ein älterer Mann, der sich an einem, offenbar handgeschnitzten, Gehstock festklammert, heraus und hält mir die Tür auf. „Danke!“, murmle ich und steige mit unendlich schlechtem Gewissen die Treppe zu ihrer Wohnung hoch. Im zweiten Stock gibt es nur eine Wohnung und neben der Klingel steht ebenfalls: Gabi Hoffmann.

Ich klingle nochmal und da bemerke ich, dass die Tür nur angelehnt ist. Schlamperei, murmle ich. Wenn man so aussieht wie die, sollte man doch tunlichst seine Wohnungstür geschlossen halten. Einen Freund hat sie ja augenscheinlich nicht. Hätte ich sicher längst von meiner Wohnung aus gesehen, ich schiele ja oft genug hinüber.

Vorsichtig drücke ich die Tür auf. „Hallo Gabi (darf ich doch sicher schon sagen), sind Sie da?“

Keine Antwort, merkwürdig. Im Flur liegt eine große rote Wasserrohrzange. Ist die Heimwerkerin? Schlampig scheint sie wirklich zu sein. Ich hebe das Teil auf und lege es auf das staubige Schuhschränkchen, das unter einem Mordsteil von einem Jugendstilspiegel steht. Jugendstil, der hat mir schon immer gefallen!

„Schönes Teil“, denke ich.

An der Wand im Flur einige große Schwarzweißfotos von längst verschwundenen Gebäuden Sandhofens. Das beleuchtete Transparent der „Broadway-Bar“ in der Hanfstraße, davor 50er-Jahre-Straßenkreuzer der Amerikaner, die Stammgäste der Bar waren. Daneben ein Bild des Eiscafés „Legüsa“, in dem ich als Kind mit meinen Eltern so manchen wunderbar großen Eisbecher verzehrt hatte. Vergangene Träume von wunderbarer Kindheit!

Ich gehe den endlosen Flur entlang, geschmacklose, gelb-rot karierte Tapete, an der Decke Spinnweben. Ich sag’s doch, schlampig! Hätte ich nicht von ihr gedacht, sah doch immer so adrett aus. An der Supermarkt-Kasse trug sie einen entzückenden Minirock. Den konnte ich sehen, wenn ich mich am Kassenband ein wenig streckte und dabei auch in ihre ziemlich weit aufgeknöpfte REWE-Bluse linsen konnte. Rechts eine Tür, die ins Wohnzimmer führt. Großer dunkler Flokati-Teppich und da liegt sie!

Als fleißiger „Tatort“-Gucker kommt mir das alles so bekannt vor: Erst die angelehnte Tür, die aber im Gegensatz zu jetzt meistens aufgebrochen wurde. Die Polizisten zücken ihre Waffen und suchen leise schleichend die Wohnung ab. Schranktüren und Schubladen aufgerissen, ein wildes Durcheinander überall und entweder kein Einbrecher zu sehen oder hinter einer Tür lauert einer und zieht dem eintretenden Beamten irgendein Teil über den Kopf und haut an dem verblüfften zweiten Polizisten vorbei ab. Statt hinterher zu rennen, hilft er zuerst dem verletzten Kollegen auf, neben dem die wahlweise männliche oder weibliche Leiche in ihrem Blut liegt.

Panik

Außer der Leiche, die einmal Gabi war, nichts von alldem. Sie hat einen Morgenmantel an, liegt auf dem Gesicht und aus ihrem Hinterkopf dringt ein dünnes Rinnsal: Blut.

Ich mache einen riesen Fehler: Ich renne in Panik davon, knalle die Tür hinter mir zu, die Treppe hinunter über die Straße in den nahe gelegenen Karl-Schweitzer-Park. Gegenüber ist das Polizeirevier. Plötzlich rennen einige Polizisten heraus, springen in zwei Streifenwagen und rasen mit Blaulicht und Martinshorn davon. Wissen die das mit Gabi etwa schon?

Quatsch, ihre Wohnung liegt ja gerade mal hundert Meter weg, da braucht’s keine Streifenwagen mit Blaulicht und Sirene. Das muss wohl was anderes sein.

Ich sitze auf einer Bank im Park, gerade mal ein paar Meter weg vom Tatort, die Polizeiwache noch immer im Visier. Mann, ich bin gerade vom Schauplatz eines Verbrechens (?) abgehauen. Hier kann ich nicht bleiben. Dass ich wohl bald zum Verdächtigen Nummer eins gehören werde, liegt auf der Hand. Ein Nachbar, der mich sicher erkannt hat, hat mich gesehen, als ich das Haus betrat. Eine große Wasserrohrzange, rot, auf der sicher Blutspuren waren und darauf meine Fingerabdrücke, genau wie an der Wohnungstür ... Noch dazu hat mich ein anderer Nachbar gesehen, als ich wie ein Irrer davongerannt bin.

Keine gute Ausgangsposition für dich, Mannilein!

Mannilein, jetzt benenne ich mich schon selbst mit dieser Verniedlichungsform, die ich überhaupt nicht leiden kann. Dabei fällt mir Hildegard ein. Die Vorwürfe, die mich sicher erwarten, wenn ich ihr gestehe, dass ich zu Gabi rübergeschlichen bin, sind wohl mein geringstes Problem. Dass ich sie umgebracht habe, glaubt sie natürlich nie im Leben, aber der Polizei kann sie erklären, was sie will. Sie ist meine Frau und hält zu ihrem Mann. Zur Entlastungszeugin taugt sie also nicht. Und dann begehe ich meinen zweiten großen Fehler: Statt zur Polizei zu gehen und die Sache aufzuklären, beschließe ich abzuhauen, was mich natürlich noch verdächtiger macht. Ich bin völlig kopflos und zu ruhiger Überlegung nicht mehr fähig. Abhauen, nur noch abhauen, mein ganzes Denken verengt sich auf dieses Wort! Erst mal fort von hier vom Dunstkreis der Polizei!

 

Lang genug nachgedacht, es ist bereits halb eins.

Weg, nur möglichst weit weg!

Mir gehen die alten Geschichten von Männern durch den Kopf, die nur zum Zigarettenholen gingen und spurlos verschwanden. Olle Kamellen, tausendmal erzählt in den verschiedensten Varianten. Aber, zum Teufel, so einer bin ich doch nicht! Ich hab eine Frau, die ich liebe, die lasse ich doch nicht einfach so im Stich. Ich will das nicht und doch tu ich’s! Knast, nur ein einziger Tag und ich verrecke! Ich leide an einer Klaustrophobie, ein Zimmer, von außen abgeschlossen, selbst in der eigenen Wohnung und ich krieg Schnappatmung. Ich ersticke und wundere mich, dass ich noch lebe, wenn die Tür wieder auf ist.

Hildegard ist bei ihrer Freundin und das kann dauern. Vorsichtig, mich immer wieder umschauend, schleiche ich mich nach Hause. Aus einer Schublade im Flur nehme ich meine Brieftasche mit Geld, Kredit- und Scheckkarte. Hastig schreibe ich einen Zettel und lege ihn auf den Wohnzimmertisch:

„Liebe Hildegard,

wir lieben uns und Du weißt, dass ich nichts getan habe. Bitte halte zu mir. Ich kann es nicht ertragen, eingesperrt zu werden, was bestimmt passieren würde, weil alles auf mich schließen lässt. Ich vermisse Dich schon jetzt, aber ich muss weg. Es tut weh, aber es geht nicht anders. Versuche nicht, mich anzurufen, ich lasse mein Handy ausgeschaltet, damit man mich nicht orten kann. Vertraue mir, ich melde mich, irgendwie!

In Liebe, Dein Manni.“

Hose, zwei Hemden, Unterwäsche, T-Shirt und Zahnputzzeug.

Das muss fürs Erste reichen! Ich packe alles in meinen feuerro-ten Rucksack und schleiche mich aus dem Haus. Feuerrot, der Rucksack, auffälliger geht’s wohl nicht. Aber was anderes finde ich auf die Schnelle nicht. Meine braune Jacke, die an der Garderobe im Flur hängt, werfe ich darüber, um das Rot etwas zu bedecken. Wer kam wohl auf die Schnapsidee, für mich einen roten Rucksack zu kaufen? Ja, ich weiß, ich war’s ... Rot ist halt meine Lieblingsfarbe. Vielleicht kommt das daher, dass ich als Jungspund eine Vorliebe fürs Rotlichtmilieu hatte, rein informatorisch, wohlgemerkt!

Flucht

Weg jetzt, ich weiß nicht wohin, nur weg von hier und möglichst viele Kilometer zwischen mir und diesem schrecklichen Ort.

Laufen, so schnell wie’s geht? Keine gute Idee, damit falle ich erst recht auf. Ich zwinge mich, langsam zu gehen, ich bin ja auf einem gemütlichen Spaziergang, nicht wahr?

Der Nachbar, der mich vorhin gesehen hat, glotzt mit stierem Blick aus dem Fenster und scheint mich gar nicht zu sehen. Aber der hat mich garantiert registriert! Weiß der schon was und ruft jetzt die Polizei an?

„Hey Manfred, wohin des Wegs?“ Kurt, ein Schulfreund, kommt mir entgegen und grinst mich mit dreckigem Gesichtsausdruck an. Ich kann ihn schon lange nicht mehr ausstehen, seitdem er mir mal eine Freundin ausgespannt hat. Mir, der ich mich immer für den größten Frauenversteher gehalten habe!

„Immer der Nase lang, Kurt, wohin die Sehnsucht mich treibt.“ Und nichts wie weg, bloß nicht zu schnell!

Missglückter Versuch, cool zu wirken. Der wird sich seinen Teil denken, besonders wenn er erfährt, was los ist.

„Blödmann!“ höre ich ihn noch hinterherrufen. Seit Ewigkeiten nicht gesehen, aber ausgerechnet jetzt um diese Zeit.

Ja, wohin treibt mich eigentlich die Sehnsucht oder besser gesagt die Verzweiflung? In mir reift ein Gedanke, ein Gedanke, der sicherlich bald Hildegard auch umtreiben wird. Wohin werde ich wohl gehen, wenn ich glaube, untertauchen zu müssen? Tausendmal im Scherz mit ihr besprochen. Dorthin, wo alles so groß und anonym ist, dass niemand von mir Notiz nimmt. Nach Paris. In eine Stadt, die tatsächlich für mich ein Sehnsuchtsort ist und wo ich mich noch dazu auskenne.

Geld am Automat meiner Bank abzuheben, traue ich mich nicht. Alles zu nahe am Geschehen. Ich entschließe mich, die sechs Kilometer nach Lampertheim zu Fuß zu gehen. Also los und „immer an der Wand lang“, wie es in einem alten Lied heißt.

Es ist inzwischen stockdunkel; das kommt mir sehr entgegen.

Die Luft wird mir eng, mein linkes Auge zuckt, wie immer, wenn ich aufgeregt bin, und ich spüre, wie mir Schweißperlen über’s Gesicht rinnen.

Nein, das alles strengt mich eigentlich nicht an, ich bin gut durchtrainiert, schaue mir sämtliche Sportsendungen im Fern-sehen an. Das ist Angstschweiß. Auf Feldwegen gibt es gewöhnlich keine Beleuchtung. Plötzlich höre ich in absoluter Dunkelheit aufgeregtes Grunzen unmittelbar vor mir. Ich weiß, dass es hier Wildschweine gibt, und die Viecher sind alles andere als handzahme Kuscheltiere.

Cool bleiben, raune ich mir zu. Ich versuche ein langsames Schlendern. Jetzt bloß nicht rennen, die Biester sind bestimmt schneller als ich. Der schwarze Schatten vor mir wird größer und da steht er vor mir: ein kapitaler Keiler. Ich glaube ein mordlüsternes Funkeln in seinen Augen zu sehen.

„Glaub mir“, versuche ich das Tier zu beruhigen, „ich hab noch nie Wildschweinbraten gegesse und ich werd’s auch nie tun.“

Versteht der mich überhaupt? Ich rede Mannemer Dialekt!

Ein verhaltenes Grunzen, das ich nur als zufrieden bezeichnen kann, dann macht sich das Untier aus dem Staub. Aha, doch ver-standen! Beruhigt setzte ich meinen Nachtspaziergang fort.

Mehrmals hinzufallen, weil ich über irgendeine Wurzel oder sonst was stolpere, geschenkt! Vor mir sehe ich jetzt ein Licht auf mich zukommen. Heiliger Strohsack, was ist das jetzt? Die Polizei? Haben die mich geortet? Ich hab doch mein Handy ausgeschaltet!

Das Licht kommt näher und rauscht auch schon mit einem freundlichen „Guten Abend“ vorbei. Ein Jogger. Muss der ein Rad abhaben: Ich sehe einen nackten Hintern in der Nacht verschwinden. Mannomann, das ist nicht nur ein Nacht-, sondern ein Nacktjogger. Der ist doch sicher aus irgendeiner Psychiatrie entlaufen. Gut, dass ich den Kerl von vorne nicht richtig gesehen habe; der Anblick eins baumelnden Gemächts nachts auf dem Feld hätte mich sicher aus der Fassung gebracht.

Fassung? Hab ich überhaupt noch eine angesichts der Umstände, in denen ich mich befinde?

Da tauchen die ersten Lichter von Lampertheim auf.

Bin ich außer Atem nach dieser langen Nachtwanderung? Nö, bin ich komischerweise nicht. Hab wohl einen gewaltigen Adrenalinüberschuss im Blut. Kein Wunder, ich bin abgehauen, weil ich vermutlich unter Mordverdacht stehe, obwohl ich so unschuldig bin wie die Jungfrau Maria. Ich habe deshalb meine Frau verlassen, ohne mich zu verabschieden und bin auf der Flucht nach Paris, obwohl ich nicht weiß, ob ich dort jemals ankommen werde.

War wohl eine Scheißidee das Ganze. Aber ich war noch nie einer, der auf halbem Weg stehen bleibt. Wenn ich aufgeben wollte, hab ich mich selbst in den Arsch getreten. Symbolisch natürlich, so gelenkig bin ich nicht mehr. Hat mir ja schon meine Frau vorgeworfen, beim Sex!

Ja, jetzt bin ich also in Lampertheim. Da werden Erinnerungen wach. Ich setze mich auf die Treppe vor einem Hotel und hänge wehmütig meinen Gedanken nach.

Alte Zeiten – Ingrid

Die „Stadt meiner Väter“, so habe ich die „Spargelstadt Lampertheim“ als Fünfzehnjähriger genannt. Ein Blödsinn eigentlich. Ich habe nur einen Vater und der stammt aus Sandhofen. Gott, oder wer auch immer, hab ihn selig! Aber dieses Städtchen habe ich damals geliebt, ich war mehrmals in der Woche dort. Warum wohl? Na, ich habe nicht nur diesen Ort geliebt, sondern auch ein Mädchen, Ingrid, hübsch, ein wenig pummelig, mit allem versehen, was man als junger, pubertierender Kerl, kaum trocken hinter den Ohren, braucht. Wehmütig denke ich an unsere ersten zaghaften Küsse und dann das ausgiebige Petting in der letzten Reihe des Kinos zurück.

Und plötzlich fühle ich wieder diesen Schmerz um mein linkes Auge. Mir fällt dieser stadtbekannte Schläger ein, der mir damals auf eben dieses Auge gehauen hat. Ich sehe die Situation, die seit 45 Jahren in meinem Hinterkopf schlummert, glasklar vor mir: Zu dritt sind diese Arschlöcher, zwei halten mich fest und der Obermotz haut mir mit der Faust aufs linke Auge und stellt sich dabei mit Namen vor, begleitet vom hämischen Gelächter seiner Kumpane.

„Scheiß Kerl“, schreit Ingrid und tritt dem Schläger auf den Arsch. „Bloß weil ich dich nicht rangelassen hab. Haut bloß ab, ihr feigen Schweine!“

„Halt’s Maul, dumme Fotze!“, schreit der Schläger. „Sei froh, dass ich dir nicht die Fresse poliere!“

Mut hatte sie schon, meine kleine Ingrid. Sie wusste, wie sie diesen Idioten behandeln musste. Sie kannte den schon seit dem Kindergarten. „Alleine ist der so klein mit Hut“, sagte sie mir einmal und zeigte es mir mit Zeigefinger und Daumen.

Jedenfalls begleiten uns die drei mit höhnischem Gekicher bis zur Haltestelle und warten bis der Bus kommt.

„So, rein mit euch und verpisst euch nach Sandhofen!“

Ingrid ist feuerrot im Gesicht vor Zorn: „Feiges Dreckpack und du“, sie deutet auf den Schläger, „hast es bei mir verschissen bis in die Steinzeit und zurück!“

„Mir doch egal!“ Die Stimme des Schlägers zittert und klingt seltsam belegt.

„Mensch Ingrid, der heult doch tatsächlich, siehst du das?“

„Klar seh ich das, wir waren mal ziemlich dicke miteinander, der tut nur so hart. Ohne seine Leibgarde ist der aufgeschmissen.“

„Aha. Wie dicke wart ihr denn miteinander?“ Ob sie die Eifersucht in meiner Stimme hört?

„Ach lass, les temps sont perdu!“

Ja, Französisch konnte sie auch, meine Ingrid, und nicht nur die Sprache. Sie war überaus intelligent. Aus der ist sicher etwas geworden. Ich hab’ sie leider aus den Augen verloren. War wohl meine Schuld, weil ich gleichzeitig mit ihrer Freundin etwas angefangen hatte, Schuft der ich war. Aber schlechtes Gewissen? Keine Spur, schließlich musste man in diesem Alter so manches ausprobieren.

An der nächsten Bushaltestelle zerrt sie mich wieder aus dem Bus und kühlt mir im Hotel „Darmstädter Hof“ mein lädiertes Auge.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?