Buch lesen: «Lady Susan»
Jane Austen, Horst Tran
Lady Susan
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Brief 1
Brief 2
Brief 3
Brief 4
Brief 5
Brief 6
Brief 7
Brief 8
Brief 9
Brief 10
Brief 11
Brief 12
Brief 13
Brief 14
Brief 15
Brief 16
Brief 17
Brief 18
Brief 19
Brief 20
Brief 21
Brief 22
Brief 23
Brief 24
Brief 25
Brief 26
Brief 27
Brief 28
Brief 29
Brief 30
Brief 31
Brief 32
Brief 33
Brief 34
Brief 35
Brief 36
Brief 37
Brief 38
Brief 39
Brief 40
Brief 41
Schluss
Impressum neobooks
Brief 1
Lady Susan Vernon an Mr. Vernon.
Langford, Dezember.
Mein lieber Schwager,
ich kann nicht länger dem Vergnügen widerstehen, von Ihrer freundlichen Einladung bei unserem letzten Abschied Gebrauch zu machen, einige Wochen bei Ihnen in Churchill zu verbringen. Darum hoffe ich, wenn Ihnen und Mrs. Vernon ein Besuch im Moment keine Umstände bereitet, innerhalb weniger Tage meiner Schwägerin vorgestellt zu werden, die ich schon lange habe kennenlernen wollen. Meine liebenswürdigen Freunde hier drängen mich herzlich, meinen Aufenthalt zu verlängern, doch ihre Geselligkeit und ihr Frohsinn führen sie öfter in Gesellschaften, als es meiner Situation und meinem gegenwärtigen Gemütszustand zuträglich ist. Und so sehe ich ungeduldig dem Augenblick entgegen, an dem mir Zugang zu Ihrem prächtigen Ruhesitz gewährt wird.
Ich sehne mich danach, Ihre lieben kleinen Kinder kennenzulernen, in deren Herzen ich mir einen Platz sichern will. Bald werde ich all meiner Kraft bedürfen, denn ich stehe kurz davor, mich von meiner Tochter zu trennen. Die lange Krankheit ihres lieben Vaters hielt mich davon ab, ihr die Aufmerksamkeit zu schenken, welche Pflicht und Neigung von mir fordern, und ich habe mehr als genug Grund zur Befürchtung, dass die Gouvernante, deren Fürsorge ich sie unterstellt habe, ihrer Aufgabe nicht gewachsen war.
Ich habe daher entschieden, sie auf eine der besten Privatschulen von London zu schicken, wohin sie zu bringen ich auf meinem Weg zu Ihnen Gelegenheit habe. Sie sehen, dass ich fest entschlossen bin, mich in Churchill nicht abweisen zu lassen. Es würde mich in der Tat sehr kränken, wenn es Ihnen nicht möglich wäre, mich zu empfangen.
Ihre höchst dankbare und zugeneigte Schwägerin
S. VERNON
Brief 2
Lady Susan Vernon an Mrs. Johnson
Langford.
Du hast dich geirrt, liebe Alicia, als du dachtest, dass ich für den Rest des Winters an diesem Ort bleibe. Ich sage nur ungern, wie sehr du daneben gelegen hast, denn selten habe ich drei Monate in angenehmerer Weise verbracht als die gerade vergangenen. Im Moment laufen die Dinge nicht gut; die Frauen der Familie haben sich gegen mich vereint. Du hast vorhergesagt, wie es kommen würde, als ich zum ersten Mal nach Langford fuhr, und Manwaring ist so ungewöhnlich liebenswert, dass ich selbst nicht ohne Befürchtungen war. Ich weiß noch, wie ich auf dem Weg zu diesem Haus zu mir selbst sagte: “Ich mag diesen Mann; gebe der Himmel, dass nichts Übles daraus entsteht!” Ich war aber entschlossen, mich zurückzuhalten und mir stets bewusst zu sein, dass ich erst seit vier Monaten Witwe bin, und mich so ruhig wie möglich zu geben. Und das tat ich auch, meine Liebe. Niemandem außer Manwaring habe ich erlaubt, mir Augen zu machen. Jedes Techtelmechtel, wie es sonst üblich ist, habe ich vermieden. Keinen der Kerle, die hier in großer Zahl verkehren, habe ich mit meiner Gunst geehrt, außer Sir James Martin, dem ich ein wenig Aufmerksamkeit schenkte, um ihn von Miss Manwaring abzubringen. Wüsste die Welt um mein Motiv, würde sie mich dafür ehren. Man hat mich eine lieblose Mutter genannt, doch es war der heilige Impuls der Mutterliebe, es war der Nutzen für meine Tochter, der mich angetrieben hat. Und wäre meine Tochter nicht der größte Einfaltspinsel auf Erden, dann wäre ich für meine Mühen belohnt worden, wie es mir zusteht.
Sir James hat bei mir tatsächlich um die Hand von Frederica angehalten, doch Frederica, die auf die Welt kam, um mich zu peinigen, zog es vor, sich heftig gegen die Verbindung zu sträuben, so dass es mir angeraten schien, den Plan vorläufig beiseite zu legen. Mehr als einmal habe ich bereut, ihn nicht selbst geheiratet zu haben, und wäre er etwas weniger verachtenswert schwach, täte ich es ganz sicher. Ich bin aber, wie ich bekennen muss, in dieser Hinsicht ziemlich romantisch und keine, die mit einem großen Vermögen allein zufrieden wäre. Das Ergebnis von all dem ist ärgerlich: Sir James ist fort, Maria hochgradig erzürnt und Mrs. Manwaring unerträglich eifersüchtig, so eifersüchtig, um es kurz zu sagen, und so erbost gegen mich, dass es nicht verwunderlich wäre, wenn sie sich, erhitzt von ihrem Temperament, bei ihrem Vormund beschweren würde, sofern ihr freistünde, sich an ihn zu wenden, doch da hält dein Gatte freundschaftlich zu mir. Die liebenswürdigste Tat seines Lebens war, dass er sie wegen ihrer Heirat verstieß. Achte deshalb unbedingt darauf, dass er seinen Widerwillen bewahrt. Wir sind jetzt in einer schlimmen Lage, in keinem Haus ging es jemals mehr drunter und drüber: Die ganze Familie liegt miteinander im Krieg, und Manwaring traut sich kaum noch, mit mir zu sprechen. Es wird Zeit, dass ich gehe. Ich habe also beschlossen, das Haus zu verlassen, und werde mit dir in London hoffentlich einen angenehmen Tag verbringen. Falls ich bei Mr. Johnson wie eh und je in Ungunst stehe, musst du zu mir in die Wigmore Street Nr. 10 kommen. Ich hoffe aber, das wird nicht der Fall sein, denn Mr. Johnson ist, bei all seinen Schwächen, ein Mann, der immer mit dem großen Wort ´Ehrenwert´ belegt wird. Und weil man allgemein weiß, wie vertraut ich mit seiner Frau umgehe, lässt ihn seine Geringschätzigkeit mir gegenüber dumm aussehen.
Auf meinem Weg zu diesem unerträglichen Ort, einem Bauerndorf, mache ich einen Halt in London, denn ich habe wirklich vor, nach Churchill zu reisen. Vergib mir, liebe Freundin, das ist meine letzte Zuflucht. Stünde mir ein anderes Haus in England offen, würde ich es vorziehen. Charles Vernon ist mir widerwärtig, und seine Frau fürchte ich. In Churchill muss ich aber bleiben, bis ich etwas Besseres in Aussicht habe. Meine Tochter begleitet mich nach London, wo ich sie unter die Aufsicht von Miss Summers in der Wigmore Street stellen werde, bis sie etwas mehr Vernunft angenommen hat. Sie wird dort gute Beziehungen knüpfen, denn die Mädchen kommen alle aus den besten Familien. Die Kosten sind immens und weit über dem, was ich jemals zu bezahlen imstande bin.
Adieu, ich sende dir eine Nachricht, sobald ich in London bin.
Für immer die deine,
S. VERNON
Brief 3
Mrs. Vernon an Lady De Courcy
Churchill.
Liebe Mutter,
es tut mir sehr leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir unser Versprechen, Weihnachten bei Ihnen zu verbringen, nicht einhalten können. Uns hält ein Umstand von dieser Freude ab, der dies kaum wettmachen kann. In einem Brief an ihren Schwager hat Lady Susan ihre Absicht erklärt, uns in allernächster Zeit besuchen zu kommen – und da ein solcher Besuch nach aller Wahrscheinlichkeit bloß einen praktischen Grund hat, ist es unmöglich, seine Dauer vorherzusagen. Ich war weder in irgendeiner Weise auf so etwas vorbereitet noch habe ich jetzt eine Erklärung für das Verhalten ihrer Ladyschaft. Langford schien für sie in jeder Beziehung so sehr der passende Platz zu sein, sowohl in Hinsicht auf den eleganten und teuren Lebensstil als auch auf ihre besondere Bindung zu Mrs. Manwaring, dass ich überhaupt nicht erwartet hätte, so rasch diese Auszeichnung zu erhalten, auch wenn ich mir wegen ihrer zunehmend freundschaftlichen Haltung zu uns seit dem Tod ihres Mannes immer vorgestellt habe, dass wir einmal verpflichtet sein würden, sie zu empfangen. Ich glaube, Mr. Vernon war bei seinem Aufenthalt in Staffordshire viel zu gütig zu ihr. Seit unsere Ehe zum ersten Mal in Aufruhr geriet, verhielt sie sich ihm gegenüber so unverzeihlich heuchlerisch und herzlos, dass keiner mit weniger Liebenswürdigkeit und Milde als er darüber hätte hinwegsehen können. Und obwohl es angemessen war, dass er ihr als Witwe seines Bruders in einer Zeit der Not finanziell beistand, komme ich nicht umhin, seine dr ängende Einladung an sie, uns in Churchilll zu besuchen, für vollkommen überflüssig zu halten. Weil er aber immer dazu neigt, nur das Beste über die Menschen zu denken, haben ihre Zurschaustellung von Trauer, ihre Reuebekundungen und ihre vagen Bekenntnisse zur Besonnenheit sein Herz erweicht und ihm Vertrauen in ihre Aufrichtigkeit eingegeben. Was mich angeht, bin ich allerdings noch nicht überzeugt, und so glaubwürdig der Brief ihrer Ladyschaft auch sein mag, ich werde mir eine Meinung erst bilden, wenn ich den Grund ihres Kommens besser verstehe. Sie können sich deshalb vorstellen, liebe Madam, mit welchen Gefühlen ich ihrer Ankunft entgegensehe. Sie wird ihre verführerische Wirkung, für die sie man sie rühmt, einsetzen, um meine uneingeschränkte Gunst zu erlangen. Ich will ihrem Einfluss aber widerstehen, sofern sie mir keine stärkeren Beweggründe liefert. Sie drückt den sehnlichsten Wunsch nach meiner Bekanntschaft aus und spricht sehr liebenswürdig über meine Kinder, doch ich bin nicht so dumm zu glauben, dass eine Frau, die ihr eigenes Kind so herzlos vernachlässigt hat, sich zu meinen Kindern hingezogen fühlt. Bevor ihre Mutter zu uns kommt, wird Miss Vernon in einer Schule in London untergebracht, worüber ich froh bin, denn für sie und für mich ist es das Beste. Für sie kann eine Trennung von ihrer Mutter nur von Vorteil sein, während ein Mädchen von sechzehn Jahren mit einer so dürftigen Erziehung hier keine angenehme Gesellschaft wäre. Wie ich weiß, wünscht Reginald seit langem die reizende Lady Susan kennenzulernen; wir erwarten in nächster Zeit seine Ankunft in unserer Runde. Ich freue mich, dass es meinem Vater weiterhin so gut geht und bin ganz in Liebe &c.,
CATH. VERNON
Brief 4
Mr. De Courcy an Mrs. Vernon
Parklands.
Meine liebe Schwester,
ich beglückwünsche dich und Mr. Vernon dazu, Englands versierteste Herzensbrecherin demnächst in eurem Haus zu empfangen. Man hat mir immer gesagt, ich solle in ihr eine hervorragende Verführerin sehen, mir kamen aber kürzlich Einzelheiten über ihr Benehmen in Langford zu Ohren, die zeigen, dass sie sich nicht mehr auf jene Art des Flirtens beschränkt, mit der die meisten Leute vorlieb nehmen, sondern dass sie nach dem delikateren Genuss strebt, eine ganze Familie ins Elend zu stürzen. Ihr Verhalten gegenüber Mr. Manwaring verursachte seiner Frau Eifersucht und Schmerz, während ihre Annäherungen an einen jungen Mann, der mit Mr. Manwarings Schwester verbunden war, ein liebenswertes Mädchen ihres Verehrers beraubt hat. Ich erfuhr das von einem Mr. Smith, der jetzt hier in der Nachbarschaft lebt (ich habe mit ihm bei Hurst & Wilford gespeist) und gerade von Langford gekommen ist, wo er zwei Wochen im gleichen Haus wie ihre Ladyschaft zubrachte. Man kann seiner Auskunft also Glauben schenken.
Was für eine Frau sie doch sein muss! Ich will sie unbedingt kennenlernen und nehme deine freundliche Einladung also gerne an, um mir eine Vorstellung von ihren Zauberkräften zu machen, die so viel vermögen – die Gunst zweier Männer zur gleichen Zeit im gleichen Haus auf sich zu ziehen, von denen es keinem freistand, sie zu verschenken – und all das ohne den Reiz der Jugend! Ich bin froh, dass Miss Vernon ihre Mutter nicht nach Churchill begleitet, denn ihre Manieren gereichen ihr nicht zur Zierde, und laut Mr. Smith ist sie gleichermaßen dumm und eingebildet. Wenn Einbildung und Dummheit sich vereinen, wird das Ergebnis durch Heuchelei nicht interessanter, also sollte man Miss Vernon unnachsichtig verachten. Nach allem aber, was ich in Erfahrung gebracht habe, verfügt Lady Susan auf ihre bezaubernde Weise über ein Maß an Hinterlist, dass es eine Freude sein muss, sie dabei zu beobachten und zu ertappen. Ich werde bald bei euch sein und bin
Dein dich liebender Bruder
R. De Courcy
Brief 5
Lady Susan Vernon an Mrs. Johnson.
Churchill.
Ich habe deine Nachricht erhalten, kurz bevor ich die Stadt verließ, liebe Alicia. Ich freue mich über deine Zusicherung, dass Mr. Johnson nichts von deiner Verabredung am vorherigen Abend ahnt. Zweifellos ist es besser, ihn gänzlich zu täuschen, seine Sturheit lässt uns nämlich keine andere Wahl. Ich bin hier sicher angekommen und kann mich über den Empfang nicht beklagen, den Mr. Vernon mir bereitet hat. Mit dem Verhalten der Dame des Hauses bin ich, wie ich zugeben muss, nicht gleichermaßen zufrieden. Sie hat in der Tat ganz ausgezeichnete Manieren und ein elegantes Auftreten, doch nicht in einer Weise, die mich von ihrem Wohlwollen mir gegenüber überzeugt. Gerne hätte ich gesehen, wie sehr sie mein Anblick entzückt – ich hatte mich so liebreizend wie möglich zurechtgemacht –, doch alles war vergeblich. Wenn wir bedenken, wie viel Mühe ich darauf verwendet hatte, ihre Heirat mit meinem Schwager zu unterbinden, dann kann ihr Mangel an Herzlichkeit sicher nicht überraschen; und doch es zeigt einen engstirnigen und rachsüchtigen Geist, wenn man mir ein Vorhaben nachträgt, das ich vor sechs Jahren verfolgte und das ohnehin gescheitert ist.
Manchmal bereue ich ein wenig, dass ich Charles davon abhielt, Schloss Vernon zu kaufen, als wir genötigt waren, es zu verkaufen. Es war aber eine schwierige Situation, besonders weil der Verkauf zur gleichen Zeit wie Charles´ Heirat stattfand. Jeder sollte respektieren, dass es mein Feingefühl verletzt, wenn das Ansehen meines Gatten durch den Erwerb des Familienbesitzes durch seinen jüngeren Bruder herabgesetzt würde. Hätten wir durch eine andere Regelung die Notwendigkeit umgehen können, das Schloss zu verlassen, und hätten wir mit Charles zusammenwohnen und ihn vom Heiraten abhalten können, dann wäre es mir gar nicht in den Sinn gekommen, meinen Gatten zu einem Verkauf zu überreden. Doch Charles stand damals kurz davon, Miss De Courcy zu heiraten, was Ereignisse nach sich zog, die meine Entscheidung rechtfertigten. Es gibt hier Kinder im Überfluss, und welchen Nutzen hätte sein Kauf von Schloss Vernon mir gebracht? Dass ich es verhindert habe, gab seiner Frau vielleicht einen ungünstigen Eindruck von mir – doch wo eine Neigung zur Missgunst besteht, wird es an einem Grund nie fehlen, und was Geldangelegenheiten betrifft, hat es ihn nicht davon abgehalten, mir von großem Nutzen zu sein. Ich bin ihm wirklich wohl gesonnen, denn er ist so leicht auszunutzen!
Das Haus ist ansehnlich, die Einrichtung geschmackvoll, und alles bezeugt Wohlstand und Eleganz. Charles ist gewiss sehr reich; wenn ein Mann einen Anteil an einem Bankhaus erworben hat, schwimmt er im Geld. Sie wissen aber nichts damit anzufangen, genießen nur wenig Gesellschaft und besuchen London ausschließlich aus geschäftlichen Gründen. Wir werden dort ein so ödes Leben führen, wie es nur geht. Das Herz meiner Schwägerin will ich über die Kinder gewinnen; ich kenne schon ihre Namen und werde mich mit dem größten Feingefühl mit einem von ihnen befreunden, dem jungen Frederic; ich werde ihn auf den Schoß nehmen und den Tod seines lieben Onkels bejammern.
Der arme Manwaring! – Ich brauche dir nicht zu sagen, wie sehr ich ihn vermisse – wie sich ständig meine Gedanken um ihn drehen. Bei meiner Ankunft hier fand ich einen traurigen Brief von ihm vor, voller Klagen über seine Frau und seine Schwester und die Grausamkeit seines Schicksals. Ich tat den Vernons gegenüber so, als käme der Brief von seiner Frau. Wenn ich an ihn schreibe, dann nur verdeckt und über deine Adresse.
Auf immer die deine, S. V.
Brief 6
Mrs. Vernon an Mr. De Courcy
Churchill.
Mein lieber Reginald,
ich habe diese gefährliche Person kennengelernt und muss dir eine Beschreibung von ihr geben, obwohl ich hoffe, dass du bald in der Lage bist, dir ein eigenes Urteil über sie zu bilden. Sie ist wirklich ungemein hübsch. Wie skeptisch man über die Reize einer nicht mehr so jungen Dame auch denken mag, für meinen Teil muss ich doch sagen, dass ich selten eine so liebreizende Frau gesehen habe wie Lady Susan. Sie hat wundervolle blonde Haare, schöne graue Augen und dunkle Wimpern. Von ihrer Erscheinung her würde man sie nicht für älter als fünfundzwanzig halten, auch wenn sie in Wirklichkeit zehn Jahre darüber liegen muss. Ganz sicher war ich nicht geneigt, ihr Bewunderung entgegenzubringen, trotz allem, was mir über ihre Schönheit zu Ohren kam. Ich kann den Eindruck aber nicht verleugnen, dass sie auf eine ungewöhnliche Weise Ebenmaß, Glanz und Anmut vereinigt. Sie sprach mit mir so freundlich, offen und sogar herzlich, dass ich ohne das Wissen, dass sie mich wegen meiner Ehe mit Mr. Vernon immer verabscheut hat und wir uns vorher nie begegnet waren, den Eindruck hätte haben können, dass sie mir in Freundschaft verbunden ist. Man neigt, glaube ich, dazu, Koketterie mit einem selbstherrlichen Auftreten zu verbinden und eine dreiste Gesinnung mit dreistem Benehmen; zumindest hatte ich mit einem überzogenen Selbstwertgefühl bei Lady Susan gerechnet. Ihr Benehmen ist aber voller Liebreiz und ihre Stimme und ihre Manieren von gewinnender Sanftheit. Ich bedaure das alles, denn was kann es anderes sein als Verstellung? Man kennt sie leider nur zu gut. Sie ist schlau und einnehmend und hat all das Wissen über die Welt, das eine Konversation leicht macht. Zudem ist sie sehr redegewandt, gebraucht dies aber, wie ich meine, zu oft dazu, um Schwarz weiß erscheinen zu lassen. Sie hat mich von ihrem herzlichen Verhältnis zu ihrer Tochter fast schon überzeugt, obwohl ich so lange das Gegenteil für wahr hielt. Sie spricht mit solcher Zärtlichkeit und Sorge über sie und beklagt dabei so bitterlich, dass sie ihre Erziehung vernachlässigt habe, wiewohl sie das als gänzlich unvermeidlich darstellt, dass ich mich, um meinen Unglauben zu bewahren, zwingen muss, meine Erinnerung an die vielen aufeinanderfolgenden Frühlinge wachzurufen, welche die Ladyschaft in London verbracht hat, während ihre Tochter der Obhut der Diener in Staffordshire überlassen war oder einer kaum besser geeigneten Gouvernante.
Wenn ihr Benehmen auf mein nachtragendes Herz eine so große Wirkung hat, dann kannst du dir vorstellen, um wieviel stärker die Wirkung auf Mr. Vernons großzügiges Gemüt ist. Gerne würde ich so fest daran glauben wie er, dass sie Langford wirklich freiwillig verließ, um nach Churchill zu kommen. Und wäre sie nicht drei Monate lang geblieben, bevor ihr klar wurde, dass die Lebensweise ihrer Freunde ihrer Situation oder ihren Gefühlen nicht gerecht wurde, dann hätte ich glauben können, dass die Trauer um den Verlust eines Gatten wie Mr. Vernon, zu dem sie sich alles andere als untadelig verhalten hat, der Anlass für ihren Wunsch war, sich eine Zeitlang zurückzuziehen. Ich kann aber nicht vergessen, wie ausgedehnt ihr Aufenthalt bei den Manwarings war, und wenn ich darüber nachdenke, wie sehr sich ihre dortige Lebensweise von jener unterscheidet, der sie nun unterworfen ist, dann muss ich annehmen, dass es ihr Wunsch ist, ihren Ruf dadurch wiederherzustellen, dass sie sich, wenn auch spät, auf den Pfad der Anständigkeit begibt und sich deswegen von einer Familie löst, in der sie sich in Wirklichkeit besonders glücklich gefühlt haben muss.
Die Geschichte deines Freundes Mr. Smith kann aber nicht ganz stimmen, da sie in regelmäßigem Briefverkehr mit Mrs. Manwaring steht. Jedenfalls muss sie übertrieben sein; es ist kaum möglich, dass zwei Menschen von ihr dermaßen grob in die Irre geführt werden.
Die deine &c.,
CATH. VERNON
Der kostenlose Auszug ist beendet.