Wie ein Tier

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Sie nahm Platz, schlug die Beine so übereinander, dass ihm der Anblick ihrer Strumpfränder und -bänder nicht entgehen konnte, und bestätigte dann die von ihr gemachten Angaben.

Baronna vermied es mit einiger Anstrengung, ihre Marlene-Dietrich-Beine zu bestaunen. »Sie haben also in der Straßenbahn gesessen … Und da haben Sie Herrn Malchow erkannt?«

»Ja, an sein offnet Hemde. So wie’t inne Zeitung jestanden hat.«

Baronna nickte. »Und mit der Größe, das stimmt auch, und mit der Schirmmütze?«

»Jenau, Herr Kommissar. Früha hatta imma ’n Hut uffjehabt, aba ’ne Schirmmütze ooch.«

Sehr überzeugend war das alles nicht, und Baronna begann sich schon zu ärgern, dass er die Jarke derart ernst genommen hatte. »Nun sagen Sie mir doch mal bitte, warum Sie Herrn Malchow solche Sittlichkeitsverbrechen überhaupt zutrauen und am Ende sogar den Mord in der Laubenkolonie?«

»Ja, wissen Sie, dem Kerl is allet zuzutrau’n …« Baronna stieß nach. »Wieso?«

Nun passierte das, was Baronna für völlig undenkbar gehalten hatte: Fräulein Jarke wurde rot. Ihr ganzer Hals war im Nu scharlachfarben angelaufen.

Baronna ahnte, was das hieß. »Sie haben Herrn Malchow vermutlich sehr nahe gestanden?«

Jetzt kicherte sie wie ein Backfisch in einem Ufa-Film.

»Kann man wohl sagen …«

»Ein intimes Verhältnis also, so richtig …«

Sie senkte den Blick. »So richtig eben nicht …«

Weiter mochte sie nichts sagen, und Baronna fragte sie, ob sie das wohl lieber einer Kollegin erzählen wolle, wobei er an Grete Behrens dachte.

»Nee, ick trau ma schon. Sie sind ja eijentlich keen Mann, sondern nur ’n Beamter.« Dabei klappte sie aber die Beine derart aufreizend auseinander, dass Baronna doch ein wenig schlucken und schnell zur Seite gucken musste.

»Zur Sache bitte!« Er klopfte mit seinem zugeschraubten Füller auf den Tisch. »Er hat sich also beim Geschlechtsverkehr mit Ihnen abartig verhalten?«

»Ja, ick musste imma ’n Kleid anbehalten und dann hatta mir det vom Körpa jerissen. Und eenmal hatta mir ooch mit ’m Stock jeschlagen.«

Baronna machte sich Notizen. Das passte ins Bild. »Und Sie haben keine Anzeige erstattet.«

Fräulein Jarke versuchte ein kokettes Lächeln. »Ick hab ja nischt dajegen jehabt.«

»Aber jetzt wollen Sie ihn als Mörder hinstellen?«

»Na, hör’n Se mal!« Fräulein Jarke fuhr auf. »Det is keene Rache von mir, det tu ick, damit nich noch wat passiert hier inne Jegend.«

»Kommen Sie, Fräulein Jarke, der Malchow hat Sie sitzengelassen, und nun wollen Sie ihm eins auswischen … Die Gelegenheit ist günstig.«

Fräulein Jarke kniff die Augen zusammen. »Sie …« Und was jetzt kam, war keine leere Drohung. »Ick hab Freunde bei die SS … Und wenn ick sage, der Malchow is ’n Schwein, dann issa ’n Schwein. Roh issa schon imma jewesen, und eenmal – fällt ma noch ein – issa sogar mit ’m Messa uff mich losjejangen.«

Baronna konnte nicht anders, als Fräulein Jarke Glauben zu schenken. »Wissen Sie denn auch, ob er sich da im Laubengelände aufgehalten hat, in der Kolonie Gutland am Betriebsbahnhof Rummelsburg?«

»Ja, weeß ick.«

Baronna kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. »Hat er Ihnen davon erzählt?«

»Det nick, aba im Aujust issa bei mir uffjekreuzt mit ’ner jroßen Tasche. Da war’n Wäschestücke drin, Blusen und so, und ’n totet Karnickel. Det sollt ick ihm allet abkoofen. Sie, Herr Kommissar, ick bin sicha, detta det allet jeklaut hat. In die Lauben da.«

Baronna nickte. Ja, das klang verdammt plausibel. »Sie wissen nicht zufällig, wo Herr Malchow wohnt?«

»Nee, ick hab ’n ja rausjeschmissen bei mir.«

»Aber ein Foto von ihm werden Sie doch haben?«

»Det hab ick mia jedacht, Herr Kommissar!« Sie wühlte in ihrer Handtasche herum. »Hier. Bei mir is allet da.«

Sie reichte ihm die Fotografie eines Mannes in mittleren Jahren, der auf den ersten Blick eher wie ein Filou denn wie ein finsterer Triebtäter wirkte. Aber Baronna wusste, dass sich da schon manch einer gehörig getäuscht hatte.

»Bekomm ick nu die Belohnung?«, fragte Fräulein Jarke.

»Warten wir’s ab. Wenn Ihre Angaben zum Ziel führen, dann ganz bestimmt.«

»Schön wär’t ja.«

Damit war Fräulein Jarke wieder entlassen, und Baronna eilte zu Kommissar Lüdtke, um ihn zu fragen, ob die sofortige Fahndung nach Paul Malchow wirklich opportun sei.

»Selbstredend! Allerdings suchen wir ihn nur wegen der Einbrüche in den Lichtenberger Lauben, nicht wegen der Sache Ditter und der Sittlichkeitsdelikte. Vorsichtshalber.«

So erschien Paul Malchow mitsamt Foto und Personalbeschreibung im Meldeblatt Berlin und im Deutschen Kriminalpolizeiblatt.

Der 31. Oktober 1940 fiel auf einen Donnerstag. Im vergangenen Monat hatten die deutschen Unterseeboote im Krieg gegen Großbritannien 61 Handelsschiffe versenkt, und insgesamt 1733 deutsche und 915 britische Flugzeuge waren in diesen vier Wochen im Verlaufe der Luftschlacht um England abgeschossen worden. Im Oktober hatte die deutsche Luftwaffe 783 Angriffe auf England geflogen, davon 333 auf London. Die Verluste der britischen Zivilbevölkerung betrugen bis dahin 15 000 Tote und 21 000 Verletzte.

Im Berliner Polizeipräsidium saß der Kriminalsekretär Gerhard Baronna noch immer am Fall Gerda Ditter und fahndete nach ihrem Mörder.

Kurz nach der Mittagspause klingelte das Telefon, und Baronna war sehr überrascht, als ihm ein Kollege des Einbruchsdezernats die Mitteilung machte, dass man den im Meldeblatt 2714 vom 12. Oktober 1940 gesuchten Paul Malchow festgenommen hatte. Es sei gelungen, ihm eine Reihe von Einbrüchen und Diebstählen nachzuweisen.

»Wo denn?«, fragte Baronna mit schnellerem Puls.

»Ausnahmslos im Siedlungsgelände südlich von Lichtenberg.«

»Das ist ja phantastisch!« Baronna bedankte sich, legte auf und eilte zu Lüdtke hinüber, um ihn schnellstmöglich zu informieren.

Doch der Vorgesetzte ließ sich von seiner Erregung nicht anstecken. »Lassen wir den Mann erst einmal kommen. Und dann veranlassen Sie die Untersuchung seiner Kleidungsstücke … auf Blutspuren.«

Als er Paul Malchow dann vor sich sitzen hatte, wurde Baronna schmerzhaft bewusst, dass seine Menschenkenntnis noch längst nicht ausreichte, um intuitiv sagen zu können: Der war’s oder der war’s nicht. Wie ein Streuner sah der Malchow aus, ein Landstreicher, arbeitsscheu, abgerissen, verantwortungsscheu, aber wie ein Mörder? Wie sahen Mörder eigentlich aus? Und er dachte unwillkürlich an das, was sie in der Ausbildung über Cesare Lombroso gehört hatten, wie der sich den »geborenen Verbrecher« vorgestellt hatte. Kantig der Schädel, Augenbrauen wie ein Neandertaler – und schon wusste man, dass man einen Mörder vor sich hatte. Schön wär’s gewesen. Paul Malchow sah eher aus wie ein in die Jahre gekommener Gigolo.

»Was sind Sie denn von Beruf gewesen?«, fragte Baronna.

»Vertreter eines Weinhauses.«

»Ah ja …« Baronna brauchte auch nicht weiter zu fragen, weshalb er diesen Beruf nicht mehr regelmäßig ausübte, denn dass sein Gegenüber Trinker war, stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Paul Malchow musste seine Gedanken gelesen haben, denn er grinste und kam mit einem alten Spruch: »Ja, ja: Arbeiter meidet den Alkohol, kauft euern Schnaps im Konsum.«

Baronna konstatierte, dass der Mann durchaus jenen Charme entwickeln konnte, der Frauen kirre machte. »Da haben Sie dann also nicht mehr gearbeitet, sondern sich aushalten lassen?«

»Immer so lange, bis die es nicht mehr ausgehalten haben mit mir.«

Baronna fand ihn amüsant und neigte immer stärker zu der Ansicht, dass dieser Mann kein Mörder sein konnte. Aber zu fragen war immerhin, wie gut er die Laubenkolonien nördlich der S-Bahn-Strecke nach Erkner kannte. »Wie sieht’s denn aus mit Gutland I und II, Herr Malchow, haben Sie da auch eine Frau gesucht, bei der Sie für ein Weilchen wohnen konnten?«

Da sprang Paul Malchow auf. »Den Mord da lass ich mir nicht anhängen, Herr …«

Baronna dachte ganz automatisch: Aha, Freundchen! Wenn Angriff die beste Verteidigung ist, dann … Er gab sich alle Mühe, selber ruhig zu bleiben.

»Bitte, behalten Sie doch Platz.« Er wartete, bis Malchow wieder saß und kam dann ganz direkt zur Sache. »Dass Sie ohne festen Wohnsitz sind und Ihren Lebensunterhalt nach der Trennung von Fräulein Jarke vornehmlich durch Lauben- und Stalleinbrüche im Süden Lichtenbergs bestritten haben, das können wir wohl ohne weiteres so zu Protokoll nehmen – oder?«

Paul Malchow sank in sich zusammen. »Ja. Aber das mit Frau Ditter …«

Baronna ging dazwischen. »Ist ja interessant, dass Sie diesen Namen immer wieder erwähnen.«

»Ich bin doch nicht dumm, ich weiß doch, weswegen ich hier bin, bei der Mordkommission Lüdtke.«

Baronna stand auf und ging vor Malchows Stuhl auf und ab.

»Machen wir es kurz …« Er hatte ein hohes Interesse daran, den Mordfall Ditter schnell und ohne Lüdtkes Hilfe aufzuklären. Das brachte ihm ganz sicher bei seiner Karriere die Pluspunkte ein, die andere als alte NSDAP-Mitglieder oder SS-Leute sozusagen gratis bekamen. Und aufsteigen wollte er. Warum alles den anderen überlassen.

»Also, Malchow, reden wir mal« – fast hätte er gesagt: Tacheles miteinander – »von Mann zu Mann. Sie lernen Frau Ditter auf dem Wochenmarkt in Friedrichsfelde kennen und sehen eine Chance für sich. Der Mann im Krieg, sie allein in der Laube, da könnten Sie doch eine schöne Unterkunft finden. Der Winter naht mit Schnee und Eis. Wie schön müsste es da bei der kleinen Gerda Ditter sein. Sie scheint auch nicht ganz abgeneigt. Sie sind ja auch ein Kerl, der die Frauen wild machen kann. Als Sie dann am 3. Oktober abends an ihrer Laube klingeln, lässt Frau Ditter Sie auch ein. Alles läuft für Sie nach Plan. Doch als Sie dann zärtlich werden und mit der Sprache rausrücken, dass Sie bei ihr wohnen wollen, da stößt Frau Ditter Sie zurück. Und Sie geraten in Rage, greifen zum Messer und …«

 

»Nein!«, schrie Paul Malchow. »Ich war nicht da, ich bin kein Mörder!«

Er tat das so überzeugend, dass Baronna wieder schwankend wurde.

Da kam ein Anruf eines ihrer Kriminaltechniker: »Blut an Hose und Jackett!«

Baronna rief Lüdtke an: »Herr Kommissar, wir haben ihn!«

Kapitel 8

Der 4. November 1940 war ein Montag. Die Vorbereitungen für die Feierlichkeiten zum 9. November liefen überall auf Hochtouren. An diesem historischen Tag hatte Adolf Hitler im Jahre 1923 in München geputscht und die provisorische deutsche National-Regierung proklamiert. Die Engländer versuchten die Vorbereitungen mit einem Nachtangriff auf München empfindlich zu stören.

Elisabeth Bendorf hatte ihren Dienst am Fahrkartenschalter beendet und stieg mit bleiernen Füßen die ewig lange Treppe zum Bahnsteig hinauf. Todmüde war sie und dachte nur noch daran, ins Bett zu sinken. Zum Glück hatte sie es nicht mehr weit nach Hause. Friedrichshagen, Hirschgarten, Köpenick – es war nur ein Klacks. Seit einiger Zeit wohnte sie in Berlin-Köpenick, in der Wendenschloßstraße. Das war zwar gar nicht mal so weit weg vom S-Bahnhof, aber da es Richtung Osten keine Spree-Brücke mehr gab, musste sie durch ganz Alt-Köpenick hindurch. Hoffentlich bekam sie noch die letzte Straßenbahn. Mit der 83 konnte sie fast vor ihre Haustür fahren. Allerdings fürchtete sie sich auch jedes Mal davor, in ihre leeren Zimmer zu kommen. Kein Rudi da. Der war Feldwebel in Posen, wo die Heeresgruppe B unter Generalfeldmarschall von Bock ihr Hauptquartier eingerichtet hatte. Ob sie ihn jemals wiedersehen würde? Nicht einmal verlobt waren sie ja, und vielleicht ließ sie sich doch einmal von diesem lustigen Triebwagenschaffner da, dem Karl-Heinz, überreden. Wenigstens zum Kinobesuch.

Während sie auf den Zug nach Erkner wartete, freute sie sich schon auf den nächsten Zarah-Leander-Film, Das Herz der Königin, Regie Carl Froelich. Letzten Freitag Uraufführung in Hamburg. Mit Maria Koppenhöfer, Lotte Koch, Willy Birgel, Axel v. Ambesser, Will Quadflieg, Margot Hielscher, Hubert v. Meyerinck, Erich Ponto und Ursula Herking. Sie kannte sie alle, und die Fotos der Sterne hingen bei ihr zu Hause im Flur oder überm Bett. Je nachdem. Und von Willy Birgel hatte sie sogar ein Autogramm. Gott, wie hieß denn bloß der erste Film, den die Zarah Leander und der Willy Birgel miteinander gedreht hatten? Sie dachte ein Weilchen darüber nach und kam schließlich auch darauf: Zu neuen Ufern.

»Wie geht’s?« Sie fuhr herum. Ein kleiner Mann stand hinter ihr. Ein Kollege mit Uniform und Mütze. Obwohl er sich deutlich abhob von den weiß glasierten Kacheln der Aufsichtsbude, war bei der funzligen Bahnsteigbeleuchtung nicht viel von ihm zu sehen. Aber von irgendwoher kannte sie ihn, von einer Betriebsversammlung aller Eisenbahner, da war sie sich ganz sicher. Wieder einmal ärgerte sie sich darüber, dass sie sich keine Gesichter merken konnte. Den Kollegen nach dem Namen zu fragen, fand sie aber peinlich. Mal sehen, vielleicht kamen sie im Laufe des Gesprächs darauf.

»Gut geht’s mir.«

»Fahren wir zusammen?«

»Ja.« Klang ein bisschen ostpreußisch, wie der Kollege sprach.

Sie versuchte, sich an alle Kollegen zu erinnern, die aus Königsberg, Danzig oder Allenstein kamen. Vielleicht der Max Bullin. Abwarten.

»So allein nachts …« Der Kollege ließ den Satz unvollendet.

»Nun …« Elisabeth Bendorf wusste nicht, worauf das alles hinaus sollte. War der Kollege nur von Langeweile geplagt und wollte nichts, als ein wenig plaudern, oder war das als Annäherungsversuch gedacht. Ihr wurde ein wenig heiß, als sie sich erinnerte, wie es war, wenn … Lange her, zu lange vielleicht. Warum eigentlich auf alles verzichten. Nur weil Krieg war. Und Rudi, der war kein Kostverächter, der hatte bestimmt schon ein Polenmädel gefunden. Aber ausgerechnet mit diesem Kollegen? Wenn es wirklich der sein sollte, für den sie ihn hielt, der Max Bullin, dann war das einer, den sie immer als Schrumpfgermanen verspottet hatten. Lieber niemals mehr als einmal mit dem.

»Da kommt der Zug«, sagte der Kollege.

»Ja …« Man hörte ihn mehr, als dass man ihn sah. Die Frontscheinwerfer des Zuges waren nicht heller als gute Fahrradlampen.

»Zweite Klasse?«, fragte der Kollege.

»Ja, bitte.«

Der Kollege riss die Messinggriffe auseinander, obwohl er irgendwie einen steifen linken Arm zu haben schien. Aber Genaues war nicht zu erkennen.

»Bitte.«

»Danke.«

Elisabeth Bendorf betrat das Abteil. Sie liebte diese Abteile, die aussahen wie die Salons, in denen Willy Birgel, Hans Söhnker und Johannes Heesters verkehrten. Einmal mit einem von ihnen auf diesem Samtstoff sitzen. Stattdessen war sie in Begleitung dieses kleingewachsenen Mannes, der nach Schmieröl, Ruß und Kohle roch. Aber nun: Besser ein Kleiner als keiner. Ach, was. Sie setzte sich in die Ecke gleich hinter der Tür und kuschelte sich gegen das edel-dunkle Holzfurnier. Am liebsten hätte sie ein kleines Nickerchen gemacht, doch bis Köpenick waren es man gerade fünf Minuten, und da lohnte das nicht.

Der Kollege sank schräg gegenüber in die Polster. Ihre Knie berührten sich kurz. Sie glaubte schon, dass ihn das zu weiteren Annäherungsversuchen bewegen würde, doch er zog seine Füße schnell zurück und redete dann nur über belanglose Dinge.

»Ist ja nun bald wieder Weihnachten.«

»Knappe sieben Wochen noch.«

»Der erste Schnee kann auch jeden Tag kommen.«

»Das Schneefegen dann wieder.«

Die S-Bahn fuhr an. Elisabeth Bendorf genoss es, so gefahrlos durch die Nacht zu gleiten. Klack-klack und mit einer winzigen Sekunde dazwischen wieder Klack-klack. Wenn die Drehgestelle über Schienenstöße mussten.

»Fahren Sie gerne S-Bahn?«, fragte der Kollege.

»Lieber als U-Bahn, da im Tunnel sieht man ja nichts.«

»Die Berliner S-Bahn, das ist schon was …«

»In Hamburg haben sie auch eine.«

»Die Stromschiene ist aber anders: von der Seite bestrichen, nicht von unten wie bei uns.«

»Kann man eher ’n Schlag kriegen, wenn man rankommt.« Elisabeth Bendorf hatte ständig Angst davor.

»750 Volt«, lachte der Kollege. »Und was meinen Sie, wenn man da die Stromschiene auswechseln muss. Wenn die Isolatoren brechen. Unter Spannung. Mit ’nem Holzbalken anheben, auf ’ner Gummiplatte stehen.«

»Tüchtig.« Der Zug hielt zum ersten Mal. Hirschgarten.

Wenn man in Fahrtrichtung rechts aus dem Fenster sah, starrte man auf die schwarze Wand der Mittelheide. Mit Rudi war sie früher gerne das Neuenhagener Mühlenfließ hinaufgewandert.

Zwei Leute waren ausgestiegen. Druckluft strömte durch den Zug, die Türen knallten zu. Der Zug fuhr an, wurde hochgeschaltet, gewann zunehmend an Geschwindigkeit. Noch drei Minuten. Elisabeth Bendorf dachte schon ans Aussteigen und rückte ihre Handtasche auf dem Schoß zurecht.

Da erhob sich ihr gegenüber der Kollege.

»Wollen Sie auch in Köpenick …« Weiter kam sie nicht, denn plötzlich zog ihr Gegenüber mit der rechten Hand einen länglichen Gegenstand aus dem linken Ärmel und schlug auf sie ein. Der erste Schlag traf ihren Kopf. Sie fiel nach hinten, trat ihm aber noch instinktiv mit beiden Füßen gegen Unterleib und Knie. Das warf ihn zurück, und er verlor kurz die Balance. Das genügte ihr, um aufzuspringen.

Jetzt hat’s auch dich erwischt!, schoss es ihr durch den Kopf. Sie wusste, dass es in der S-Bahn schon einen Überfall gegeben hatte.

Aber Elisabeth Bendorf war eine Kämpferin, galt als resolute Frau, die ihren Mann stand, überall. Sie war nicht gerade eine Walküre, ganz im Gegenteil, aber immerhin noch ein wenig größer als dieser Kerl. So geriet sie nicht in Panik, sondern versuchte mit aller Kraft, in den Raum vor den Türen zu gelangen. Dort hatte sie mehr Bewegungsfreiheit und konnte seinen Schlägen besser ausweichen. Aber ihr Kopf schmerzte gewaltig, und sie wusste, dass sie jeden Augenblick zusammenbrechen konnte. Nein. Sie wollte noch leben.

Wieder traf er sie. Diesmal zum Glück nur in den Rücken. Und sie schaffte es, als er wieder ausholte, unter seinem Arm hindurchzulaufen und seinen Körper zu fassen. Dann umschlang sie ihn, klammerte sich fest an ihn wie an eine Kletterstange. Er schlug um sich und versuchte, sie von sich abzuschütteln. Das gelang ihm nicht, und sie sah sich schon gerettet. Jeden Augenblick mussten sie in Köpenick sein. Gott, war das eine Ewigkeit, das kurze Stück.

Da registrierte sie, wie er mit seiner freien Hand die Tür aufriss. Der Fahrtwind schoss ihr ins Gesicht. Ihr war klar, was er wollte: sie hinausstoßen. Das war der sichere Tod.

Er bekam ihre Handgelenke zu packen und riss ihre Hände, die sie hinter seinem Rücken verschränkt hatte, mit einem Ruck auseinander. Sie wusste, dass sie nur noch eine Chance hatte: sich zu Boden fallen zu lassen und seine Füße zu umklammern. Dann konnte sie ihn mitreißen in den Tod. Also musste er von ihr ablassen, wollte er nicht selber sterben.

Doch sie hatte sich verrechnet. Er bekam den rechten Fuß wieder frei und trat ihr mit voller Wucht erst in den Bauch, dann gegen den Kopf. Sie musste loslassen und schrie gellend auf, als er sich neben sie kniete. Jetzt würde er ihr die Kleidung zerreißen und ihr Gewalt antun. Aber nein. Er riss sie wieder hoch und stieß sie aus dem Zug.

Kapitel 9

Gerhard Baronna liebte die Morgenandachten seines Vorgesetzten immer dann, wenn der Kriminalkommissar Lüdtke der großen Heroen der Berliner Kripo gedachte und von ihren Heldentaten berichtete. Das geschah vor allem, wenn sie in einem aktuellen Fall nicht weiterkamen und er sie auf diese Art und Weise anspornen wollte. Fast immer ging es mit Ernst Gennat los, dem großen Mordexperten der Abteilung IV im Berliner Polizeipräsidium.

»1906 ist er schon Kommissar geworden. Ein Empiriker der alten Schule, die Wissenschaft hasste er geradezu. So was von Ausdauer, von ungeheurem Gedächtnis und psychologischem Scharfblick!«

Baronna schien das alles ein wenig gegen Nebe zu gehen, den Lüdtke nicht unbedingt zu schätzen schien.

»Sah aus wie Buddha. Das hatte er seiner Vorliebe für Buttercremetorten zu verdanken …«

»Darum haben wir ihn auch immer den Vollen Ernst genannt«, sagte Kriminalkommissar Zach. »Aber können Sie sich noch an Albert Dettmann erinnern?«

Baronna brauchte nicht lange nachzudenken. »Selbstverständlich. Der hat 1920 die Brüder Strauß festgenommen – sehr gefährliche Menschen –, indem er sie mit Handgranaten bedrohte. ›Hände hoch – oder ich spreng euch in die Luft!‹«

»Das hat ihm zwar viel Bewunderung eingebracht, aber keine Beförderung«, ergänzte Zach.

Was muss man nicht alles tun, um sich einen Namen zu machen, dachte Gerhard Baronna. Die jüngeren Beamten hatten es nicht nur schwer, gegen den Ruhm der alten Garde anzukommen, sondern auch, sich den Nazis zu entziehen. Einige wechselten über zur Politischen Polizei, andere hatten sich früh der nationalsozialistischen Zelle der Kripo angeschlossen. Die beiden Kriminalkommissare Philipp Greiner und Georg Kanthak zum Beispiel hatten 1932 den jüdischen Polizeivizepräsidenten Dr. Bernhard Weiß an die Nazis verraten.

Lüdtke war nun angekommen beim legendären Polizeimeister Teigeler. »In der Silvesternacht 1932 gab es gleich vier Verbrechen, zu denen er gerufen wurde. In der Ackerstraße schießt ein SA-Mann vom Fahrrad aus wahllos auf Passanten und trifft eine Frau Künstler tödlich, als in deren Nähe jemand die Nationalsozialisten beleidigt. Vom Wedding muss er dann nach Lichtenrade hetzen, wo sie einen kommunistischen Arbeiter erschossen haben. Zurück zum Wedding, wo in der Utrechter Straße ein Hitlerjunge erstochen worden ist. Dann muss er zu einer Landstraße nördlich Berlins, wo ein Unbekannter tot aufgefunden wurde. Zwei der Mörder fasst er innerhalb von vierzehn Tagen, und zwar …«

Lüdtke sah sich durch eine hereinkommende Kriminalassistentin in seinem Redefluss gestoppt. »Was ist denn?«

 

»Entschuldigung, aber … der Polizeibericht von gestern Nacht … Da ist auch etwas dabei, das …«

»Danke, ja …« Lüdtke murmelte den Text halblaut vor sich hin, aber Baronna, der neben ihm saß, konnte alles mitlesen, was die Schupo-Kollegen eilig getippt hatten:

Auf dem Bahnhof Hirschgarten werden Reisende und Bahnbeamte um 23 Uhr 50 durch zwei schrille Schreie einer Frau alarmiert. Zwei Bahnbeamte laufen sofort in die Richtung, aus der man um Hilfe gerufen hat, und stoßen nur etwa einhundertfünfzig Meter vom Bahnsteig entfernt auf das Opfer. Im Taschenlampenlicht sehen sie etwa drei Meter neben dem äußeren Gleis eine Frau liegen. Man trägt die Bewusstlose, die vor Schmerzen immer wieder aufstöhnt, zum Bahnhof, was sich in der dunklen und schon sehr kalten Novembernacht in dem weglosen Gelände als sehr schwierig erweist. Eine Handtasche findet man nicht, man kann die Frau nicht identifizieren. Als man im Haar Blutspuren bemerkt, nimmt man den Hut der Überfallenen ab und entdeckt eine ganz erhebliche Verletzung des Schädels. Es wird die Überführung ins Krankenhaus Köpenick vorgenommen.

Lüdtke richtete sich auf und sah seinen Gefolgsmann kopfschüttelnd an. »Mensch, Baronna, Sie mit ihrem Paule Malchow! Unser Täter sitzt bei uns in ’ner Zelle und stößt gleichzeitig in Köpenick eine Frau aus ’m Zug.«

Baronna schloss die Augen und stöhnte auf. »Es war zu schön, um wahr zu sein …«

Um von seiner Niederlage abzulenken, erinnerte er die anderen daran, dass Ende September auf derselben S-Bahn-Strecke schon einmal eine Frau aus einem fahrenden Zug gestoßen worden war zwischen Wuhlheide und Karlshorst, da …«

»Richtig!«, fiel im Lüdtke ins Wort und ließ sich sofort die Unterlagen dieses Falles kommen.

Als er ihn durchgegangen war, hegte er sogleich den Verdacht, dass derselbe Täter seinen Raubversuch wiederholt habe. »Dasselbe Muster oder, wie man heute wissenschaftlich sagt: Perseveranz. Beim ersten Mal, beim Überfall auf Fräulein Kargoll, hat er keine Handtasche erbeuten können, diesmal aber.«

Kaum hatte er das ausgesprochen, kam ein Bote ins Besprechungszimmer und übergab ihm eine schwarze Damenhandtasche. »Kommt vom Bahnhof Hirschgarten, Herr Kommissar, und ist beim Abgehen der Strecke am Kilometerstein 12,8 gefunden worden.«

Lüdtke bedankte sich und kippte den Inhalt der Tasche kurzentschlossen auf den Tisch. Die Herren stellten fest, dass alles noch vorhanden war, was man in einem solchen Behältnis wohl vermuten durfte. Lippenstift, Puder, Spiegel, Kamm, Parfüm, eine kleine Taschenuhr, etwas für die kritischen Tage, die Geldbörse mit einem Inhalt von 3 RM und 27 Rpf, ein Schlüsselbund, das Foto eines Soldaten, einen Feldpostbrief und schließlich das Personaldokument.

»Elisabeth Bendorf«, las Baronna. »Kommt aus Köpenick, Wendenschloßstraße 382. Auf dem Bahnhof Friedrichshagen beschäftigt.«

Kaum hatten sie das in sich aufgenommen, kam der Bote erneut ins Zimmer, diesmal mit einem Bleikabel in der Hand.

»Vom Betriebsbahnhof Grunewald. Hat in einem Abteil der 2. Klasse gesteckt, in ’n Polstern drin. Im Zug aus Erkner, wo det passiert is mit die Frau.«

Lüdtke freute sich über die Weit- und Umsicht des Bahnbeamten, der die Suche gleich nach Bekanntwerden des Überfalls angeordnet hatte.

Alle sieben anwesenden Männer betrachteten das Bleikabel, das eine Länge von knapp vierzig Zentimetern hatte. Ohne Zweifel war das ein gefährliches Schlaginstrument, mit dem man ohne weiteres die Schädeldecke eines Menschen zertrümmern konnte.

»Was schließen wir daraus?«, fragte Lüdtke.

»Dass es das Tatwerkzeug ist«, antwortete Baronna, der manchmal etwas vorlaut war.

Lüdtke sah ihn missbilligend an. »Nicht doch: X andere Leute können es dort versteckt haben, und es kann reiner Zufall sein, dass man es kurz nach der Tat in der S-Bahn dort gefunden hat.«

Baronna wollte seinen Fehler wieder gutmachen und wies darauf hin, dass man das erst entscheiden könnte, wenn man wüsste, woher dieses Kabel eigentlich stammte.

Lüdtke nickte. »Was Sie denn gleich anschließend in Angriff nehmen sollten. Die Fabrik ausfindig machen, wo es hergestellt worden ist und wer so was verwendet – Post, Bahn oder wer sonst noch. Vielleicht gehen Sie auch mal zum Kriminaltechnischen Institut. Das sollen ja manchmal wahre Hexenmeister sein. Vorerst sollten Sie aber im Krankenhaus anrufen und fragen, ob wir das Fräulein Bendorf schon sprechen können.«

Baronna ging zum Apparat, musste aber erfahren, dass Elisabeth Bendorf noch nicht vernehmungsfähig sei.

»Schade …« Baronna war ständig bemüht, bei den anwesenden Kommissaren einen guten Eindruck zu schinden, und so dachte er, als ihm auffiel, dass die Überfallene gar keine Fahrkarte bei sich gehabt hatte, vor dem Losreden gar nicht lange nach. »Wie bei der Kargoll im ersten Fall. Das lässt doch nur den Schluss zu, dass der Täter Fahrkartenkontrolleur ist oder sich als ein solcher ausgegeben hat.«

Kriminalkommissar Zach lachte laut los. »Irrtum, sprach der Hahn und stieg von der Ente. Wenn sie bei der Bahn arbeitet, wird sie doch umsonst fahren können.«

Baronna wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken.

»Also, Baronna, keine voreiligen Schlüsse, erst denken, dann reden. Und bleiben Sie in Kontakt mit dem Krankenhaus. So schnell wie möglich mit der Bendorf sprechen. Und das Kabel nicht vergessen!«

Zach grinste.

»Wie? Soll er ihr ’s noch mal übern Kopp hauen?«

Am 6. November 1940, einem Mittwoch, hatten die Zeitungen wenig zu berichten. Reichsminister Dr. Goebbels weilte in Prag, und Mein Kampf hatte die Auflage von 6 500 000 Exemplaren erreicht. Der Berliner Lokal-­Anzeiger widmete dem Fall Elisabeth Bendorf eine Spalte von 8 × 11,5 Zentimetern.

Gerhard Baronna hatte das zwar in die Wege geleitet, war nun aber doch ein wenig verwundert, es auch wirklich zu lesen. Irgendwie fiel das doch unter den Begriff der Wehrkraftzersetzung, auch hatte er Angst, als »Volksschädling« gebrandmarkt zu werden. Noch dazu, wo am Tag des Überfalls auf Elisabeth Bendorf eine neue und verschärfte Verdunkelungsverordnung in Kraft getreten war. Danach musste vom Sonnenuntergang (an diesem Tage um 17.23 Uhr) bis Sonnenaufgang (um 8.05 Uhr) überall dort, wo die Lampen nicht gänzlich abgeschaltet werden konnten, das Licht blau eingefärbt werden, namentlich in den Straßenbahnen, Omnibussen, Kraftwagen und Eisenbahnwagen; ebenso durften auch alle Kennzeichen, Zielrichtungs- und Nummernschilder der Stadt-, Vorort- und Hochbahnen nur düsteres Blau zeigen. In ganz Berlin kam er sich vor wie bei sich zu Hause in der Dunkelkammer, wenn er beim Entwickeln seiner Fotos war. Als Kripomann war ihm klar, dass das ein idealer Nährboden für das war, was man im Allgemeinen als lichtscheues Gesindel bezeichnete.

»Was soll das!?«, hatte Arthur Nebe gefragt, als sie ihm ihre Bedenken gegen diese Veröffentlichung vorgetragen hatten.

»Alle unsere Kriminellen befinden sich zur Zeit zur Umerziehung in Sachsenhausen, Buchenwald, Dachau und so weiter.«

Baronna warf einen Blick auf das Bild seines Führers und verließ sein Büro, um auf die Toilette zu gehen. Auf dem Flur hing ein übergroßes Plakat, das einen gierigen Adler zeigte, dessen Kopf in eine Staffel schwarz-weiß-roter Reichskriegsflaggen ragte. Darüber und darunter stand in optimistisch wirkender Schrift: Mit unsern Fahnen ist der Sieg! Daneben hing der Aufruf vom letzten Kriegs-Winter-Hilfswerk. Er überflog ihn.

Durch des Führers entschlossene Haltung ist Deutschland erneut größer geworden! Wieder erhöhte sich damit auch die Zahl der Männer, Frauen und Kinder, die nach jahrzehntelanger Unterdrückung, nach unsagbarer Not, auf unsere Unterstützung angewiesen sind. […] Neue kleine Bücher Der Führer macht Geschichte danken den Spendern. […] Schaffende sammeln – Schaffende geben!

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